"Ich habe neun Leben gelebt". Joseph Melzer


Скачать книгу
Kindern noch unverständlichen Sprache zu beten. Der Vorbeter sang mit einer klaren, lauten und tiefen Stimme, und sein Oberkörper wiegte sich unentwegt vor und zurück, was die Konzentration beim Beten fördern soll. Währenddessen holte mein Vater seinen Heine oder Schiller aus der Tasche und las ungestört in seinen geliebten deutschen Klassikern.

      Die Gebete dauerten nicht lange, denn auf alle wartete zu Hause eine leckere, warme Mahlzeit. Als schließlich das abschließende Amen gesprochen wurde, waren alle erleichtert und froh. Man beeilte sich nach Hause zu kommen, wo bereits das warme Essen wartete.

      Der Rest der Familie einschließlich der Ehefrauen ging am Vorabend des Schabbats nicht in die Synagoge. Das taten sie dann mit umso größerer Begeisterung am Schabbat selbst, um auf der Frauenempore Nachbarinnen, Freundinnen und Familienangehörige zu treffen und sich über die wichtigen und unwichtigen Ereignisse der Woche auszutauschen.

      Wir Kinder traten als Erste ins Haus, nach uns mein Vater und als Letzter Großvater.

      »Gut Schabbes« rief er und verbeugte sich feierlich.

      »Gut Schabbes, Herr des Hauses«, antworteten Großmutter und Mutter gleichzeitig. Großvater legte das Gebetbuch auf den Tisch und ging ins Badezimmer, um sich die Hände zu waschen. Großmutter trat an den Tisch und zündete gemäß der jüdischen Tradition die Schabbat-Kerzen an. Sie legte das abgebrannte Streichholz auf das Tablett, hob die Hände und drehte sich dreimal hin und her. Dann legte sie die Hände vor das Gesicht und sagte, wie vorgeschrieben, den Segensspruch: »… und Du hast uns befohlen, Lichter anzuzünden zu Ehren des Schabbats.« Langsam nahm sie die Hände vom Gesicht.

      Großvater, aus dem Bad zurückgekehrt, legte seinen Tallit, das Gebettuch, um die Schulter und begann mit der Segnung des Brotes. Unmittelbar danach fuhr er mit dem Lob der tüchtigen Hausfrau fort, so wie es das Ritual verlangt. Dann beugte er sich über den Becher, um zu prüfen, ob genug Wein für den Kiddusch vorhanden war. Er begann zu beten: »Es wurde Abend, und es wurde Morgen: Der sechste Tag. So wurden vollendet Himmel und Erde und ihr ganzes Gefüge. Am sechsten Tag vollendete Gott das Werk, das er geschaffen hatte, und er ruhte am siebten Tag, nachdem er sein ganzes Werk vollbracht hatte. Und Gott segnete den siebten Tag und erklärte ihn für heilig: denn an ihm ruhte Gott.« Er nahm das Deckchen von den Broten und breitete die Hände über sie: »Gelobt sei der Name des Herrn der Welt, der hervorbringt Brot aus der Erde.«

      Er hob den Becher an die Lippen und trank ihn halb leer, bevor er ihn Großmutter reichte. Diese senkte den Kopf und trank einen Schluck. Dann reichte sie den Becher weiter.

      »Lechajim, auf das Leben«, rief Großvater.

      »Lechajim«, antworteten wir alle im Chor.

      Großmutter stellte einen großen Teller mit Hühnersuppe auf den Tisch und verteilte die Suppe in alle Teller. Zuerst natürlich an Großvater. Als sie fertig war, sagte Großvater mit lauter Stimme »Guten Appetit«, und Großmutter sagte: »Lasst es euch schmecken.«

      Alle schlürften ihre Suppe, und der aufsteigende Dampf zog wie eine Nebelschwade durch den Raum. Nachdem wir fertig waren, brachte Großmutter einen Teller Fleisch mit gekochten Kartoffeln herein. Nur am Vorabend des Schabbats wurde bei uns Fleisch gegessen. Bei Armen, Nebbichen, gab es dagegen Heringe.

      Nach dem Fleischverzehr war die Mahlzeit zu Ende. Die Kinder wurden ins Bett geschickt, und Großvater nahm vom Regal ein Buch und begann still für sich zu lesen. Nach einiger Zeit stand auch er auf und ging schlafen.

      Am Schabbatmorgen standen alle früh auf, um gemeinsam ins Bethaus zu gehen. Zunächst wurden die Kinder gewaschen, aber diesmal, weil am Schabbat nicht erlaubt, ohne Seife. Zum Frühstück gab es Rosinenkuchen, den Großmutter tags zuvor gebacken hatte. Großvater wünschte allen einen guten Schabbat und las das Morgengebet vor. Man hörte ihn kaum, so leise und schnell flüsterte er es. Im Winter zogen wir uns warm an und verließen das Haus. Die Kinder machten Schneebälle, die sie auf einen Schwarm aufflatternder Tauben warfen.

      »Kinder, es ist Schabbat«, schimpfte mein Großvater.

      Es ging wieder die schmale Gasse hinunter, die wir einfach die »Dorfstraße« nannten. Wieder kamen von allen Seiten feierlich ­gekleidete Juden, die sich mit »Gut Schabbes« begrüßten. In der Mitte der Straße ging der örtliche Polizeikommissar, ohne irgendjemanden eines Blickes zu würdigen oder gar zu grüßen. Über dem gelackten Schirm seiner marineblauen Mütze prangte der österreichische Adler. Mit steifem Rücken stolzierte er eilig vor uns her. Offensichtlich wollte er die Straße so schnell wie möglich hinter sich bringen.

      Am Schabbat kamen auch die Frauen in das Bethaus. Sie gingen aber mit den Kindern getrennt von den Männern und hatten auch ihren eigenen Eingang, von wo es direkt auf die Empore ging, den Platz für die Frauen.

      Im Betraum der Männer ging es laut her, wie in der sprichwörtlichen Judenschule, und das Gemurmel schwoll an und erfüllte den ganzen Raum. Hinzu kam noch das Flüstern der Frauen und das Kreischen der Kinder. Es war fast wie auf einem Jahrmarkt. Der Rabbiner kam herein und nahm seinen Platz ein. Es wurde still. Der Vorbeter begann mit seinen Gesängen. Die Betenden wiegten sich so heftig hin und her, dass es manchmal schien, als wollten sie sich gegenseitig wegrempeln. Menschen kamen und gingen, und es wurde wieder laut sowie zuvor. Es war gänzlich anders als in einer katholischen Kirche, was ich damals allerdings noch nicht wusste. Erst viel später, als Erwachsener, hatte ich Gelegenheit, einen Gottesdienst in einer katholischen Kirche zu erleben – eine völlig andere Welt. Mein Vater las heimlich in seinem Heine und sang vielleicht im Geiste seine Lieder mit.

      Es ist Brauch bei den Juden, dass am Schabbat unterschiedliche Personen zum Thoravorlesen aufgerufen werden. Es ist dies eine Ehre, und meinem Großvater, als angesehenem Bürger der Gemeinde, wurde diese Ehre nahezu jedes Mal zuteil. Vielleicht, weil er ein Kohen war. Wir alle warteten stets gespannt darauf. Schließlich hörten wir den Synagogendiener rufen:

      »Es möge vortreten Reb Avraham Ben Jakob haKohen!«

      Großvater war ein Kohen, das heißt, unsere Familie stammt aus dem israelitischen Stamm der Kohanim, der Priester, denen es damals bestimmt war, im Tempel in Jerusalem zu dienen.

      Er wurde als Letzter aufgerufen und sang seinen Text mit lauter und klarer Stimme. Als er fertig war, sagten alle Anwesenden »Amen«. Später gratulierten sie ihm.

      Der Vorbeter beendete den Gottesdienst mit den Worten: »Der den Frieden geschaffen hat zu seinen Höhen, gib Frieden uns und dem ganzen Volk Israel. Amen.«

      »Amen«, antworteten die Gläubigen und dankten dem Vorbeter, dass er für sie gebetet hatte.

      Fast an jedem Schabbat fand auch eine Bar Mizwa statt und der Knabe, der dran war, durfte die Haftara vorsingen, den Abschnitt aus der Bibel, der zu seinem Geburtstag passte. Das war immer ein großer Tag für seine Familie und ein Festtag für uns Kinder. Kaum war der Knabe mit seinem Vortrag zu Ende, da regnete es aus der Empore, wo die Frauen und auch seine Mutter, Großmutter und alle Tanten und Nachbarn saßen, kübelweise Süßigkeiten aller Art her­ab, die wir Kinder fleißig umgehend einsammelten.

      Für die Erwachsenen gab es nach der Zeremonie einen Umtrunk, man gratulierte dem Vater und wünschte dem 13-jährigen Bar-Mizwa-Knaben viel Erfolg in seinem Leben und vor allem, dass er ein guter Jude werde.

      Dann drängten sich alle zum Tisch, auf dem die Mäntel lagen und gingen zum Ausgang.

      »Gut Schabbes, gut Schabbes«, riefen alle durcheinander.

      Wir gingen nach Hause. Die Frauen, die am Umtrunk nicht teilnahmen, waren schon vorher gegangen, um den Mittagstisch vorzubereiten. Zu Hause angekommen empfing uns der süßliche Geruch geschmorter Kartoffeln. Großmutter freute sich jedes Mal, dass ihr der Tscholent so gut gelungen war. Es war alles bereitet, der riesengroße Topf stand schon auf dem Tisch und daneben die Challa, das geflochtene Schabbat-Brot. Großvater beeilte sich mit dem Beten und zerschnitt danach die Challa, tauchte eine Scheibe in Salz und biss hinein. Danach gab er jedem der Anwesenden ein Stück der Challa, und wir alle machten es ihm nach.

      Großmutter nahm den Deckel vom Kochtopf, beugte sich über ihn


Скачать книгу