"Ich habe neun Leben gelebt". Joseph Melzer


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des Ersten Weltkriegs schon erheblich zerstört, und in den Jahren 1939 bis 1945 in Blut und Feuer, in Massenmord und Genozid schließlich gänzlich ausgelöscht.

      Ich wurde als Sohn einer seit Jahrhunderten in Kuty und Umgebung ansässigen wohlhabenden Patrizierfamilie geboren. Unter den ersten zehn jüdischen Familien, die sich im Jahr 1562 in Kuty niederließen, befand sich, wie die Urkunden des Stadtarchives bezeugen, ein gewisser Wolf Stein. Das war mein Vorfahr mütterlicherseits. Weil die Gründungsfamilien streng darauf achteten, dass die jüdische Tradition lebendig blieb und neue Wurzeln trieb, konnte sich in Kuty im Lauf der Jahrhunderte eine genuin jüdische Lebensart entwickeln.

      Die Eltern meines Vaters waren dagegen einfache Leute. Sie lebten in einer bescheidenen Mietwohnung am Rande der Stadt. Geboren wurde ich im Haus meines Großvaters mütterlicherseits, Abraham Stein, wo meine Eltern nach ihrer Hochzeit wohnten. Es war ein sehr großes Haus, und der ältere Bruder meiner Mutter, Jakov, lebte gleichfalls dort mit seiner Familie. Seine Frau hieß Sara, und sie hatten fünf Kinder, zwei Mädchen und drei Jungs. Onkel Jakov half Großvater in seiner Holzhandlung, wo noch weitere Juden beschäftigt waren. Mein Großvater war der größte Waldbesitzer in Kuty und lieferte sein Holz bis nach Czernowitz aus. Für seine Waldarbeiter, die alle Polen waren, hatte er einen polnischen Gutsverwalter, der auch für deren Entlohnung zuständig war. Ich sah diesen herben und grimmigen Mann immer dann, wenn er kam, um den Lohn für die Waldarbeiter abzuholen. Mein Großvater hatte nichts mit ihm zu tun. Die Geschäfte führte meine Großmutter, und von ihr bekam er auch das Geld. Überhaupt kümmerte sich mein Großvater mehr um Thora und Talmud und weniger um die banalen, alltäglichen Angelegenheiten. Für seine Arbeiter hatte er freilich immer Zeit und ein offenes Ohr.

      Während meiner ganzen Kindheit lebte ich in ständigem Kontakt mit den einfachen Arbeitern unseres Volkes. Wie gerne betrat ich die vom feuchtwarmen Dampf der Bügeleisen erfüllte Werkstatt des Schneiders, in der die Gesellen zum Klappern der Nähmaschinen alte jiddische Volkslieder sangen: »Unter Jankeles Wiege, da liegt eine goldene Ziege …« oder das besonders beliebte und inzwischen weltbekannte Lied Tumbalalaika:

      Steiít a bocher un er trachtet,

      trachtet und trachtet a ganze nacht,

      wemen zu nemmen un nicht farschemen.

      Tumbala, tumbala, tum-balalaika …

      Mei’dl, mei’dl, ich will bai dir freigen,

      wos ken waksen, waksen ohn regn?

      Wos ken brennen un nischt oifheren?

      Wos ken benken, weínen ohn trenen?

      Tumbala, tumbala, tum-balalaika …

      Narrischer bocher, wos darfst du freigen?

      A stein ken waksen, waksen ohn regen;

      Liebe ken brennen und nicht verbrennen,

      a harz ken benken, weinen ohn tränen.

      Es steht ein Jüngling und überlegt

      überlegt und überlegt, eine ganze Nacht

      Wen zu nehmen und sich nicht zu schämen

      Tumbala, tumbala, tum-balalaika

      Mädchen, Mädchen ich will dich fragen

      Was kann wachsen, wachsen ohne Regen?

      Was kann brennen und nicht verlöschen?

      Was sorgt sich mit Weinen ohne Tränen?

      Dummer Junge, wozu fragst du?

      Ein Stein kann wachsen ohne Regen

      Liebe kann brennen und nicht verlöschen

      Ein Herz kann sich Sorgen machen und weinen ohne Tränen.

      »Wann singt ein Jude?«, fragt man, und manche antworten: »Er singt, wenn er hungrig ist.« Andere sagen: »Er singt, wenn er traurig ist.« Aber am meisten singt er, wenn er verliebt ist oder Hochzeiten feiert.

      Noch lieber war ich in der großen Holzhandlung meines Großvaters Abraham Stein, besonders um den Schindelschneidern zuzuschauen, wie sie riesige Holzklötze spalteten, um daraus Schindeln für die Dächer zu schnitzen. Während sie sich den Schweiß von der Stirn wischten, hörte ich sie murmeln: »Schema jisroeil adaunoi elauheinu adaunoi echod!« – Höre, Israel, unser Gott ist einzig, und du sollst lieben den Ewigen, deinen Gott, mit deinem ganzen Herzen und mit deiner ganzen Seele.« Ich war voller Bewunderung für ihr männliches Handwerk und ihren festen Glauben.

      Etwa 20 jüdische Arbeiter waren in der Schindelwerkstatt beschäftigt. Großvater kümmerte sich sehr um sie, und wenn einer von ihnen Sorgen hatte oder Geldprobleme, dann hat er immer geholfen. Sie hatten es gut bei ihm. Sie arbeiteten fünf Tage in der Woche. Freitag und Schabbat hatten sie frei. Am Donnerstagabend nach Beendigung der Arbeit saß meine Großmutter vor dem Ausgang und reichte jedem seine Lohntüte, damit er Geld für den Schabbat hatte, um das Notwendige einzukaufen. Freitags sollten sie Zeit haben, um den Schabbat vorzubereiten.

      Denke ich an diese Juden zurück, wie ich sie täglich in den Gassen, auf dem Marktplatz, in Bethäusern und Studierstuben sah, so bringt mir die Erinnerung zweierlei Geräusche zurück: Seufzen, viel Seufzen und Ächzen, aber auch Gelächter, gutmütiges oder spöttisches, doch stets lautes Lachen. Chassidim brachten diese Lebensart vom Hofe ihres Zaddiks, des Wunderrabbis, zu dem sie immer wieder fuhren.

      Meine Geburtsstadt hieß und heißt heute immer noch Kuty. Juden nannten sie liebevoll Kitew. Es war ein quirliges Schtetl mit etwa 10 000 Einwohnern, wovon die meisten Juden waren. Es gab auch einige Deutsche in der Stadt; Hermann Jäckel war der reichste unter ihnen, Mühlenbesitzer und Villenbewohner mit einem eigenen Generator für die Elektrizität und einem Telefonanschluss. Beides war den übrigen Bewohnern noch unbekannt. Es arbeiteten bei ihm nur Juden, und er war anständig und höflich zu ihnen, wie zu allen anderen Bewohnern der Stadt.

      Mein Vater arbeitete als Buchhalter in der Mühle von Hermann Jäckel. Die Melzers waren, wie schon erwähnt, der ärmere Teil meiner Familie. Wohlhabend, wenn nicht sogar reich, war der Vater meiner Mutter, mein Großvater Abraham Stein. Er führte das Leben eines Großgrundbesitzers, während es bei uns zu Hause sehr bescheiden zuging. Aber weil mein Großvater seine Tochter, meine Mutter, liebte, sorgte er dafür, dass es uns an nichts fehlte, denn das Gehalt meines Vaters reichte nicht aus, um alles Lebensnotwendige zu bezahlen. Dennoch respektierte Großvater meinen Vater sehr, weil er als begabter Schüler und als Kenner des Talmuds galt. Das bedeutete damals für reiche jüdische Familien mehr als Geld. Während in der christlichen Welt Adel und reiche Familien unter sich heirateten, war es in der jüdischen Welt für die Reichen eine Ehre, einen begabten Talmudschüler zum Schwiegersohn zu nehmen, selbst – oder sogar ganz besonders dann – wenn er arm war. Der Vater der Braut verpflichtete sich, das junge Paar einige Jahre lang zu ernähren und dafür zu sorgen, dass der Schwiegersohn später auf eigenen Füßen stehen konnte. So besorgte Großvater Stein meinem Vater die Stelle beim deutschen Mühlenbesitzer, mit dem er geschäftlich zu tun hatte.

      Es waren beinahe paradiesische Zustände, unberührt von der Hektik der damaligen Zeit. Das Schtetl lag eingebettet in einem Tal, umgeben von einem mächtigen Gebirgszug, den von Buchen, Eschen und Birken bewaldeten Karpaten. Soweit ich mich erinnern kann, war Kuty im Vergleich zu den benachbarten Orten sehr sauber. Die Straßen waren gepflastert, systematisch angelegt, und es gab sogar Bürgersteige; im Zentrum lag der große Marktplatz. Am oberen Ende des Marktes erhob sich ein zweistöckiges Gebäude in Hufeisenform. Dieses Haus gehörte meinem Großvater Abraham, und dort wohnten wir die letzten Jahre vor dem Ersten Weltkrieg.

      Großvater war ein entfernter Nachkomme des Hohen Rabbi Löw von Prag und des nicht minder berühmten Chacham Zwi aus Amsterdam. Was Ersteren betrifft, so erzählt die bekannteste der zahlreichen Versionen der Prager Golem-Saga, wie er sich große Sorgen wegen der zahlreichen Anschuldigungen machte, die seine Zeitgenossen gegen die jüdische Gemeinschaft erhoben. Und so lautet der Text, den ich hier zitieren möchte, da ich es selbst nicht besser schrei­ben könnte: »Im Jahr 1580 soll sich ein christlicher Geistlicher mit dem Namen


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