"Ich habe neun Leben gelebt". Joseph Melzer
manchmal, wenn es im Sommer erbarmungslos heiß war, ging er mit uns runter zum Tscheremosch, und ich durfte meine Schuhe ausziehen und ins Wasser treten, allerdings nur so weit, dass er mich jederzeit packen konnte, sollte ich den Versuch unternehmen, mich vom Ufer zu entfernen.
Karl gehörte zur Familie. Er wohnte bei uns, aß mit uns, und einmal im Jahr ging meine Großmutter mit ihm auf den Marktplatz und kaufte ihm neue Kleider und neue Schuhe, wenn seine vom vielen Laufen abgetragen waren. Die Tatsache, dass er kein Jude war, störte uns überhaupt nicht, und eigentlich war es für uns von Vorteil, weil er auch unser Schabbes-Goiwar und am Schabbat alle Arbeiten für uns verrichtete, die den gläubigen Juden verboten sind, wie zum Beispiel Licht an- und ausmachen, kochen und den Tisch decken und abräumen. Im Winter holte er Holz für den Ofen und sorgte so immer für wohltuende Wärme.
Der Unterricht im Cheder fand in der Wohnung des Lehrers statt. Die Lehrerwohnung bestand aus zwei Räumen, dem Klassenraum und der Küche. Im Klassenraum stand gegenüber der Tür ein langer Tisch, über dem an einem Draht eine Petroleumlampe hing. Auf zwei Bänken saßen zu beiden Seiten des Tisches die Schüler.
Das Unterrichtszimmer war klein, dunkel und feucht, da die Küchenwärme nicht ausreichte, um es richtig zu beheizen. Wir saßen im Winter in unsere Mäntel gehüllt, froren und versuchten, uns beim Singen der Thoraverse aufzuwärmen. Die Frau des Lehrers, eine verhärmte, älter aussehende jiddische Mamme, die immer ihre kleinen Kinder um sich hatte, schaute zwischendurch immer mal rein und fragte ihren Mann:
»Mejer, möchtest du einen Tee?«
Und Reb Mejer antwortete zumeist: »Ja, Channe, ein Tee wäre jetzt genau das Richtige.«
Augenblicklich kam einer der Kleinen mit einer noch dampfenden Tasse, und Mejer begann genüsslich zu schlürfen.
Diese Form des Unterrichts war in der Regel nur für Jungen. Er fand in kleinen Gruppen verschiedener Altersstufen statt. Reb Mejer, der Rojter, zeichnete das hebräische Alphabet auf die Wandtafel, zeigte mit seinem Stab auf den ersten Buchstaben und sagte laut »Aleph«, und die Kinder riefen laut »Aleph!« Und dann zeigte er auf den zweiten Buchstaben und sagte wieder laut »Beth«, und alle Kinder wiederholten im Chor »Beth!« und so weiter bis zu »Taw!«, dem letzten Buchstaben des hebräischen Alphabets.
Mit demselben Stab schlug Mejer, der Rojter hin und wieder auch Schüler, die gestört oder einen Fehler gemacht hatten. Mich freilich nie, denn ich war der Enkel vom vornehmen und reichen Reb Abraham Stein, und Kinder von reichen und vornehmen Familien wurden nicht geschlagen. Dies war nur den armen Kindern vorbehalten. Und so lernte ich schon im zarten Alter, wie ungerecht die Welt ist und wie angenehm es ist, Enkel eines wohlhabenden Mannes zu sein. Die armen Kinder bekamen es wahrlich doppelt und dreifach und gingen manchmal mit blutigen Händen nach Hause.
Viel später, als ich Manès Sperber kennenlernte und mit ihm Kindheitserinnerungen austauschte, stellte ich fest, dass es bei ihm im Cheder genauso gewesen war. Mejer, der Roiter, war nicht der einzige Lehrer, der seine Schüler prügelte. Prügel gehörte zum Unterricht nach der talmudischen Weisheit: »Wer sein Kind liebt, züchtigt es.«
Auf dieser Grundlage studierte ich dann die Thora, beginnend mit dem dritten Buch Mose, und anschließend den Talmud, also die Mischna und Gemara und zusätzliche Kommentare.
Gegenseitiges Vorlesen und Auswendiglernen waren die vorherrschenden Lernformen. Im Alter von 13 Jahren wurde die Ausbildung im Cheder in der Regel mit der Bar Mizwa abgeschlossen. Neben dem Unterricht im Cheder, wo nur Jungen unterrichtet wurden, musste man ab dem siebten Lebensjahr in die staatliche Schule gehen, die auch Mädchen besuchten. Die Klassen waren allerdings pflichtgemäß nach Geschlechtern getrennt, wie es der Staat verlangte. Danach wurde man, wenn man begabt genug war, auf die Jeschiwa, die Talmudschule, geschickt. Meine Ausbildung wurde aber schon viel früher durch den Ausbruch des Ersten Weltkriegs abgebrochen.
Es waren etwa zehn Buben in meinem Alter, denen von einem bärtigen Juden das hebräische Alphabet beigebracht wurde. Den Spitznamen Rojter bekam er, weil er einen roten Bart hatte. Wir saßen von morgens bis abends im Unterricht, mit einer kleinen Mittagspause, und mussten dem Rebben die einzelnen Buchstaben des hebräischen Alphabets nachsprechen. Mittags kam der Behelfer und trug mich nach Hause, wo ein deftiges Mittagessen auf mich wartete, zubereitet von einer polnischen Hausfrau, einer »Schickse«, deren Kochkünste gottbegnadet waren. Nach dem Essen trug mich der Behelfer wieder zurück in den Cheder, und wir setzten den Unterricht fort. Mein Freund Schalom durfte zum Essen natürlich mitkommen und wurde von der Köchin besonders verwöhnt. Für ihn war es die einzige warme Mahlzeit am Tag. Zuhause bekam er kein Frühstück, und abends gab es bei ihm nur eine Scheibe Brot.
Nach etwa einem Jahr entschied mein Großvater, dass ich bei diesem Rebben bereits ausgelernt hätte und dass es Zeit sei, mich zu einem »höheren« Rebben zu schicken. Dieser lehrte die fünf Bücher Mose mit dem Kommentar von Raschi. Man nannte ihn Reb Lejbele Horb, das bedeutet »Buckel«, weil er verwachsen war und einen Buckel hatte. Sein richtiger Name lautete Leib Pasternack. Mit dem berühmten Maler Leonid Pasternak und seinem noch berühmteren Sohn, Boris Pasternak, war er allerdings nicht verwandt. Die beiden Rebben waren arme Teufel, die sich von ihrer pädagogischen Arbeit nur kümmerlich ernähren konnten.
Mit sechs Jahren wurde ich neuerlich in eine höhere Stufe versetzt, zu einem Rebben, der Talmud und Midrasch lehrte. Er hieß Mechel Horner und hatte keinen Spitznamen, obwohl er wegen seiner Kleinwüchsigkeit einen solchen verdient hätte. Er war zwar nur gut anderthalb Meter groß, aber von herausragender Intelligenz. Wie die meisten Ostjuden war er Autodidakt mit gründlichen Kenntnissen der unterschiedlichen europäischen sowie der lateinischen und griechischen Sprache. Im Gegensatz zu meinen vorherigen Rebben war er kein armer Mann. Er bewohnte ein geräumiges Haus in der »besseren« Gegend der Stadt, nahm nur Schüler von »besseren« Familien und ließ sich gut bezahlen. Zu diesem Lehrer begleitete mich Schalom nicht mehr, da mein Großvater die Kosten nicht mehr übernehmen konnte oder wollte und Schaloms Eltern das Geld nicht hatten. Bei ihm lernte ich die ersten Traktate des Talmuds. Er war mein letzter Rebbe. In Österreich bestand Schulzwang, und da Galizien damals noch zu Österreich gehörte, wurde ich im März 1914 mit sieben Jahren eingeschult. Im Juli des gleichen Jahres brach der Erste Weltkrieg aus, und damit war die Schule auch schon wieder zu Ende.
Ich habe dort für mein künftiges Leben kaum etwas mitbekommen. Mensch zu sein habe ich nämlich vor allem bei meinem Großvater gelernt. Als ich ihn einmal fragte, warum die Gojim uns Juden so sehr hassen und, warum wir Juden die Gojim hassen, schwieg er lange, bevor er mir antwortete: »Mein lieber kleiner Joseph, ich hoffe, du wirst verstehen, was ich dir jetzt sage. Es steht schon in der Bibel geschrieben, dass der Trieb des Menschen von Natur aus schlecht sei. Es steht da: ›des Menschen‹ und nicht ›des Juden‹ oder ›des Polen‹. Alle Menschen sind gleich, und es gibt gute Menschen und schlechte Menschen, überall und unter allen Nationen.«
Das habe ich verstanden und für immer behalten. Für mich waren Menschen immer Menschen, ganz gleich, ob sie Juden waren oder Gojim.
In Kuty gab es außer den Rebben, die den Kindern Unterricht erteilten, zwei »geistliche« Rabbiner, die in der jüdischen Gemeinde als Autoritäten in der Auslegung der talmudischen Gesetze fungierten. Der eine war Jakob Schorr, ein »offizieller«, das heißt ein von der Regierung anerkannter und bezahlter Rabbiner. Der zweite war Chaim Gelernter, ein »inoffizieller« chassidischer Rebbe, der von seinen Anhängern entlohnt wurde. »Jankele« Schorr, wie man ihn liebevoll nannte, war ein gelehrter Mann, nicht nur in der rabbinischen Wissenschaft. Er hatte in der Jeschiwa in Frankfurt am Main bei Samson Raphael Hirsch studiert und war Mitarbeiter der Gesellschaft »Mekiz Nirdamim« (»Erwecker der Dämmernden«), wo er regelmäßig in der Vierteljahresschrift der Gesellschaft