"Ich habe neun Leben gelebt". Joseph Melzer


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Universität in Jerusalem. Von dem Rebben Chaim Gelernter ist mir nur bekannt, dass er eine große Bibliothek seltener rabbinischer Schriften besaß.

      Das Leben im Schtetl war mühselig für die Armen, aber angenehm für die Wohlhabenden und Reichen. Vor allem spürten wir nichts vom Judenhass oder dem, was man landläufig Antisemitismus nannte. Wir waren frei und konnten machen, was wir wollten. Wir kannten auch nichtjüdische Kinder, Scheigez genannt, mit denen wir zwar nicht befreundet waren, aber mit denen wir spielen durften. Und wenn sie uns von Zeit zu Zeit verprügelten, so nahmen wir ihnen das nicht sonderlich übel und verprügelten unsererseits, wenn sich die Gelegenheit bot, auch einige von ihnen. Wir fühlten uns nicht minderwertig, und auch die Beziehungen unter den Erwachsenen waren vollkommen entspannt und frei von Hass und Vorurteilen. Das nichtjüdische Personal im Haus meines Großvaters gehörte fast zur Familie, wurde geachtet und bei Geburtstagen und christlichen Feiertagen immer beschenkt.

      Judenhass habe ich erst viel später im Deutschland der zwanziger und frühen dreißiger Jahre kennengelernt. Ich wundere mich heute über all die klugen, aber unwissenden Leute, die leichtsinnig und voller Überzeugung behaupten, im Osten seien »alle« Antisemiten gewesen. Es war allenfalls ein Antisemitismus, der aus Vorurteilen und Unwissenheit bestand, und keineswegs aus Hass. Man hatte Vorurteile gegenüber Juden und war dennoch mit ihnen befreundet.

      Meine Mutter hat mit 21 Jahren meinen Vater geheiratet und ihm sechs Kinder geboren, wovon nur vier am Leben blieben. Sie war eine gute Frau und eine liebevolle Mutter, die sich seit dem Ersten Weltkrieg abmühte, ihre Kinder großzuziehen. Man nannte sie Mechla, was wohl eine Verballhornung von Michaela war. Sie hatte die Schule in Kuty besucht, konnte Deutsch und Polnisch lesen und schreiben sowie Gedichte in beiden Sprachen aufsagen. Sie starb mit 85 Jahren in Israel, während mein Vater nur 49 Jahre alt wurde.

      Die ersten Keime des Chassidismus hatten ihren Anfang in der Stadt Kuty genommen. Der Begründer des Chassidismus, Israel Baal Schem Tov, lebte in den Wäldern in der Umgebung der Stadt und heiratete eine Schwester des ansässigen Rabbiners Gerschom Kutower. So hat diese kleine Gemeinde in der Geschichte des Chassidismus ihren ruhmvollen Platz errungen. Aber auch in der neuzeitlichen zionistischen Bewegung hat ein Sohn dieser Stadt einen herausragenden Platz eingenommen: Die Rede ist von Berl Locker – einem Vetter meines Vaters –, der über mehrere Jahre Präsident der Zionistischen Weltorganisation war. Sein Vater hieß Jakob Schattner und arbeitete als Hebräischlehrer. Sein erstgeborener Sohn Berl nannte sich nach dem Familiennamen seiner Mutter, da die elterliche Ehe nicht standesamtlich registriert worden war. Orthodoxe Juden scheuten das »christliche« Standesamt, und die Regierung wiederum erkannte rabbinische Eheschließungen nicht als gesetzesgültig an.

      Berl Locker war alles andere als ein frommer Jude. Er verachtete die Religion und gab sich durch und durch säkular und sogar antireligiös. Eines Tages traf man ihn angeblich in einem koscheren Restaurant, und seine Freunde wunderten sich: »Du hier? Seit wann isst du koscher?« Darauf antwortete Berl gewitzt: »Ich esse nur ein Ei!« Nun muss man wissen, dass ein Ei weder koscher noch nicht koscher ist und man es deshalb überall essen durfte. Berl Locker war es, der mir später geholfen hat, meine Familie aus Nazideutschland nach Palästina zu retten, indem er mir sogenannte »Affidavits«, Bürgschaften, beschaffte, mit denen meine Mutter und meine Geschwister 1938 nach Palästina ausreisen konnten.

      Wenn ich mich auch an das Haus meines Großvaters und den täglichen Gang zum Cheder nur noch schwach erinnern kann, so ist in mir die Erinnerung an den Schabbat und die ganze damit verbundene Zeremonie in allen Einzelheiten sehr lebendig geblieben. Der Schabbat war immer ein besonderer Feiertag, ähnlich wie Pessach, obwohl er sich alle sieben Tage wiederholte. Als Kind war es für mich ein Tag voller angenehmer Überraschungen und Freude, besonders was die Mahlzeiten betrifft. Ich habe seither nie mehr derartige Tage erlebt und nie wieder so gut gegessen. In meinem Elternhaus in Berlin wurden Schabbat und selbst Pessach nicht gefeiert. Mein Vater hielt von dem ganzen »Religionszirkus« überhaupt nichts, und obwohl er in der jüdischen Kultur sehr gebildet war, waren ihm Religion und die sich daraus ergebenden Gebote und Verbote zuwider. Er hielt sich an den von ihm verehrten Heine, der lange vor Marx den Satz geprägt hat: »Religion ist Opium für das Volk.« Dafür wurde es umso mehr bei meinem Großvater gefeiert, wo wir bis zu meinem siebten Lebensjahr wohnten.

      Der Schabbat begann in unserem Schtetl eigentlich schon am Freitagabend, sobald sich die ersten Sterne am Himmel zeigten. Im Winter begann er schon am Nachmittag, weil es früher dunkel wurde und die Geschäfte leer wurden. Kein Jude verließ mehr die Stadt. Es kamen aber einige nach Kuty, um hier den Schabbat zu feiern. Während ich noch im Cheder das hebräische Alphabet lernte, waren zu Hause die Vorbereitungen für den Schabbat in vollem Gange. Mutter nahm den Wassertopf vom Herd, goss Wasser in eine Blechschüssel und begann die Säuglinge, einen nach dem anderen, abzuseifen: »Man muss sauber sein am Schabbat«, sagte sie. Die anderen Kinder saßen auf einer Decke um sie herum. Danach begann Mutter, unter der Aufsicht von Großmutter, mit der Vorbereitung der Speisen. Der Duft der frischen Seife und der Kerzen mischte sich mit dem Geruch des Eintopfs. Die Gerichte wurden in der langen, niedrigen Küche zubereitet, wo es heiß und dumpfig zuging. In der abgestandenen Luft mischten sich die Düfte der fertigen Speisen, alles beherrschend der bitter-süße Geruch des Tscholent, des jüdischen Eintopfs. Der große Dichter Heinrich Heine nannte ihn »des wahren Gottes koschere Ambrosia«. Tscholent ist ein Eintopfgericht für die Mahlzeit am Schabbat. Es wird schon am Freitag vor Schabbatbeginn zum Kochen gebracht und bei geringer Hitze bis zum Samstagmittag fertig gegart. Arme, die nicht über einen angemessenen Backofen verfügten, brachten ihren Tscholent daher zum Bäcker. Wir hatten aber einen großen Backofen, und Karl, der Behelfer, der mich jeden Tag zum Cheder trug, sorgte dafür, dass der Ofen immer befeuert wurde.

      Als ich nach Hause kam, waren die Kleinsten schon gewaschen und fertig angezogen. Vater und Großvater bereiteten sich für den Gang in die Synagoge vor. Sie warteten nur noch darauf, bis ich meine Schabbat-Kleider angezogen hatte. Vater in seiner »Sonntagskleidung«, Anzug mit weißem Hemd und Krawatte, und dazu eine Tasche aus Samt, in die er sein Gebetbuch und irgendeinen deutschen Klassiker hineinsteckte, den er in der Synagoge las, während alle anderen sich mit Inbrunst in ihre Gebetbücher vertieften. Großvater sah in seinem Kaftan und dem breiten Hut wie ein Gutsbesitzer aus. Im Winter trug er einen langen, schweren Mantel mit Schaffell gefüttert. Ich zog meinen blauen Samtanzug an und ein weißes Hemd mit einer dunkelblauen Krawatte. Noch auf der Treppe kämmte meine Mutter mein schwarzes Haar und verpasste mir einen Scheitel.

      Auf ein Zeichen meines Großvaters verließen wir, bis auf die Kleinsten, die noch nicht allein gehen konnten, das Haus. Von überall her kamen bärtige Juden in langen Mänteln und gingen mit eiligen Schritten durch die schmalen Gassen zum Bethaus. Selten sah man einen allein unterwegs. Kaum war jemand aus dem Haus getreten, schloss sich ihm ein anderer und diesen sodann weitere an. Kinder begleiteten sie, manche wurden noch an den Händen geführt. So ging man mit eiligen und dennoch würdevollen Schritten dem Schabbat entgegen, wünschte einander »Gut Schabbes«, und das Echo dieser Worte hallte durch die kalte Luft wie ein Gruß aus einer anderen Welt.

      Manchmal verirrte sich ein großer, magerer Goi in die Gasse. Sobald er aber die vielen Juden erblickte, stolperte er eilig davon und versuchte, das jüdische Viertel möglichst unauffällig zu verlassen. Die Kinder liefen ihm hinterher und riefen laut »Scheigez, Scheigez«.

      Die Gasse führte um den Hügel herum zur Synagoge und zur Mikwa. Aus drei verschiedenen Gassen strömten die Juden vor dem Bethaus zusammen und drängten sich durch die offene Tür, bevor sie den Betraum betraten. In der Mitte der Ostwand befand sich die heilige Lade, wo die Thorarollen aufbewahrt wurden. Davor stand ein Holzpult für den Vorbeter und die, die später einzeln zum Vorbeten aufgerufen werden sollten. Rundherum Tische und Bänke, die im Lauf der Zeit tiefschwarz geworden waren. Die Versammlung wurde kontinuierlich größer. Am Ofen stand in der Regel eine Gruppe von Männern mit langen, weißen Bärten. Alle riefen sich gegenseitig »Gut Schabbes, gut Schabbes.« zu. Der Raum war erfüllt von lautem Gemurmel und unterdrückter Heiterkeit. Die Kinder liefen zwischen den Bänken hin und her und kreischten manchmal laut. Erst als der Rabbiner hereinkam und sich hinter dem Holzpult würdevoll aufbaute, wurde es auf einen Schlag


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