"Ich habe neun Leben gelebt". Joseph Melzer
sondern eben schlicht und einfach »Judenhass« hieß, zu erdulden, in der festen Überzeugung, dass der Messias bald kommen würde.
Dennoch schrieb ein Chefredakteur einer ostjüdischen Tageszeitung über die Ostjuden: »In meinem Heimatstädtchen war jeder Jude ein heimlicher Prinz, und auch der Ärmste hatte etwas von einem Aristokraten in sich.« Und auch der Historiker und Philosoph Franz Rosenzweig, der bedeutende Exeget Hegels, schrieb seiner Mutter als Besatzungssoldat aus Polen im Ersten Weltkrieg: »Wir deutschen Juden sind geistig gesehen Proletarier, während die polnischen Juden, die in proletarischen Verhältnissen leben, Aristokraten des Geistes sind.«
Diese Worte sind umso bemerkenswerter, wenn man bedenkt, welch tiefe Verachtung viele deutsche Juden für ihre Religionsbrüder im Osten empfanden. Für sie, die sich schon weitgehend dem westlichen Leben angepasst hatten, verkörperten diese bärtigen Juden mit Schläfenlocken und Kaftan eine seit langem veraltete Kultur.
Die wesentliche Kraft, die den Zionismus in Russland in Bewegung und am Leben hielt, war die der Gebildeten, die Anhänger der Aufklärung. Oft waren sie ehemalige Talmud-Schüler, die eine gewisse Ahnung von systematisch-europäischer Bildung hatten. Sie waren es, die sich ein neues säkularisiertes Bewusstsein aneigneten. Die einfachen, gläubigen Juden blieben hingegen ihren Rabbinern treu.
Ein Teil der Gebildeten lernte Hebräisch und fing an, die jiddische Muttersprache zu verachten. Im Gegensatz zu den westlichen Juden engagierten sie sich insbesondere für gesellschaftliche Veränderungen und übten scharfe Kritik an den jüdischen Gemeinde-Institutionen. In den ersten Jahrzehnten war der Zionismus durchdrungen von radikalem Idealismus und sozialistischen Ideen von Gerechtigkeit und Gleichberechtigung. Die Pogrome gegen Ende des 19. Jahrhunderts trugen ebenfalls dazu bei, dass junge Juden sich politischen Ideologien zuwandten, insbesondere dem Kommunismus und auch dem Zionismus.
»Denke ich an diese Juden zurück, die ich täglich in den Gassen und Straßen und in den Bethäusern sah, so bringt die Erinnerung viel Seufzen und Ächzen, aber auch Gelächter in mir hervor«, schrieb der österreichisch-französische Schriftsteller Manès Sperber, den ich erst viel später kennenlernte, und er meinte, dass das jüdische Schtetl in all seiner Misere eine kleine »Civitas Dei«, eine Stadt Gottes, gewesen sei, geistig und geistlich zugleich. Im Gegensatz zu den Juden in den Ghettos von Venedig und in den Judengassen von Worms oder Frankfurt, die immer eine diskriminierte Minderheit in der eigenen Vaterstadt blieben, waren die Einwohner der Schtetls in Osteuropa selbstbewusste und freie Juden. Sie fühlten sich dort bei sich zu Hause, auch wenn sie Fremde im eigenen Land waren. »Die polnischen Adeligen mochten mächtig und reich sein und auf sie herabsehen: Die Juden waren jedoch von ihrer eigenen Überlegenheit überzeugt, und in dem Schtetl fand sich nicht die Spur eines jüdischen Minderwertigkeitsgefühls. Im Gegenteil: man fühlte sich den polnischen Bauern und selbst den polnischen Adeligen überlegen.«
Folgende Anekdote gibt davon Zeugnis: Ein polnischer Gutsbesitzer, natürlich ein Judenhasser, will seinen jüdischen Gutsverwalter entlassen. Dieser bietet ihm an, seinem Hund innerhalb eines Jahres das Sprechen beizubringen, falls er auf die Entlassung verzichte. Der einfältige Gutsbesitzer ist neugierig, ob der Jude dazu in der Lage sein würde, und willigt ein. Die Frau des Juden schlägt die Hände über den Kopf und schreit ihren Mann an: »Wie konntest du in ein solches Geschäft einwilligen? Du weißt doch, dass der Hund nie sprechen lernen wird.« Darauf der Jude: »Mach dir keine Sorgen, ein Jahr ist lang, es hat 365 Tage. Da kann der Gutsherr sterben, da kann der Hund sterben, und da kann auch ich sterben. Hauptsache, wir sind geblieben, und wenn Gott will, werden wir noch lange bleiben.«
Die Juden waren schon immer praktisch veranlagt und pragmatisch in ihrer Gesinnung. Sie lernten, sich mit allem abzufinden, mit den guten Sachen, die freilich selten vorkamen. Vor allem aber fanden sie sich mit den schlechten, nahezu alltäglichen Umständen ab. Vor allem in Galizien waren sie eine Minderheit unter vielen Minderheiten. Genau das machte alles vergleichsweise erträglich, zumindest erträglicher als das Leben in Westeuropa, wo sie eine Minderheit in einer Mehrheitsgesellschaft waren. Alles in allem war es eine multikulturelle und multiethnische Gesellschaft, in der viele Völker friedlich nebeneinander und miteinander auskamen. Der Schriftsteller Joseph Roth, der in Brody, ganz in der Nähe meines Geburtsortes, aufgewachsen war, zeugte in seinen Romanen von seiner und fast aller Juden Liebe zu diesem Landstrich. Zwar konnte niemand den anderen leiden, aber dennoch achtete man einander. Katholiken hassten Protestanten, und Protestanten hassten die Katholiken, und beide hassten Juden, aber man hatte Respekt voreinander, trieb Handel, und manchmal heiratete man sogar grenzüberschreitend. Es war eine mehr oder minder friedliche Welt. Kaiser Franz Joseph war unser aller Vater und die Donaumonarchie unsere Heimat. Der Kaiser schützte seine Juden, und die Juden liebten ihren Kaiser.
Es gab auch einzelne Juden, wie meinen Onkel Schemarja Melzer in Skala oder meinen Onkel Israel Stein, der Bruder meiner Mutter, in Butschatsch, die Großgrundbesitzer waren. Indessen lebte die große Masse der Juden in erbärmlicher Armut. Die Polen stellten die hohen und niederen Beamten, vereinzelt gab es auch Großgrundbesitzer unter ihnen, besonders unter dem polnischen Adel. Die Ruthenen und Ukrainer waren das Landvolk, selbständige Bauern oder Landarbeiter. Die folkloristisch interessanteste Gruppe waren die Huzulen. Sie lebten bettelarm im Gebirge und verdingten sich als Knechte oder Holzfäller.
Für ihren Lebensunterhalt übten Juden die verschiedensten Berufe aus: Sie arbeiteten als Gerber und Weber, Schneider, Hutmacher und Schuster, Tischler, Stellmacher, Schindelschneider, Schmiede, Seifensieder, Kerzenzieher, Fuhrunternehmer und Wasserträger. Manche zogen Tag für Tag durch die umliegenden Dörfer, kauften den Bauern ein Kalb, ein Maß Korn, ein paar Eier oder Geflügel ab und verkauften diese Dinge an andere Juden weiter oder jeden Donnerstag auf dem großen Marktplatz. Und schließlich gab es die Händler, die in den großen umliegenden Städten ihre Ware einkauften und zur Verbreitung des Jiddischen beitrugen. Man fand praktisch kein Gewerbe, das nicht auch von Juden betrieben wurde, von den oft reichen Kaufleuten ganz zu schweigen.
Und auch dazu schrieb Sperber: »Es gab kein Gas, keine Elektrizität, keine Kanalisation und kein Telefon im Schtetl und natürlich auch keine Wasserleitungen, sondern nur einige wenige Brunnen. Wasserträger brachten es jenen, die es bezahlen konnten, ins Haus. Die Armen mussten sich ihr Wasser selbst holen.«
Die fleißigen Menschen, die jeden Donnerstag auf dem Marktplatz ihre Waren anboten, verließen in der Regel nie die engen Gassen ihrer kleinen Stadt, in der sie geboren waren und wo sie auch in der Regel starben. Sie sorgten dafür, dass das kulturelle Erbe ihrer Väter lebendig blieb, und gaben sich mit einem sehr bescheidenen Einkommen zufrieden. Sie glaubten an Gott und setzten ihre ganze Hoffnung in ihn.
Juden sprachen untereinander Jiddisch, die Polen natürlich Polnisch, die Ruthenen, Ukrainer und Huzulen einen russischen Dialekt. Donnerstags kamen sie alle in die Stadt, ins Schtetl, und man konnte auf dem Markt ein babylonisches Sprachgewirr vernehmen. Jeder redete in seiner Sprache, aber sie verstanden einander prächtig. Es gab selten Streit und wenn, dann nicht aus ethnischen Gründen, sondern weil jemand beispielsweise zu viel getrunken hatte und im Rausch gewalttätig wurde. Um zu schlichten, bedurfte es aber meist keiner Polizei. Die anwesenden Händler und Kunden sorgten im eigenen Interesse dafür, dass man die Streithähne voneinander trennte und dass der betrunkene Pole oder Huzule ausgenüchtert wurde. Betrunkene Juden aber gab es so gut wie nie.
In diesem Ostteil Galiziens wurde ich geboren, und bis zu meinem siebten Lebensjahr, bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges, wuchs ich dort auf. Wir warteten auf den Messias und wussten, dass er nie kommen wird. Das Wort Antisemitismus kannten wir freilich nicht und Judenhass nahmen wir wahr, wie wir den Sommer oder den Winter wahrgenommen haben. Die Christen hassten uns, und wir hassten sie, und trotzdem haben wir mit ihnen Handel betrieben, Feste gefeiert und manchmal auch Hochzeiten, wenn ein jüdischer Junge oder ein jüdisches Mädchen einen Goi, einen Nichtjuden, heiratete. Es war kein persönlicher Hass, es war ein seit Jahrhunderten übertragener Hass, der mehr ein dumpfes Gefühl von Abneigung war, weil man es uns so beigebacht hatte. Ja, wir wussten, dass es früher, vor mehr als 100 Jahren, die Pogrome eines durchgedrehten Kosaken gab und wir hörten auch von den Unruhen in Kischinau und von der Dreyfus-Affäre oder vom Ritualmordprozess gegen Beilis und auch, dass er am Ende freigesprochen wurde, aber während der Lebenszeit meiner Eltern und Großeltern