Glückliches Ende. Isaac Rosa
Isaac Rosa
Glückliches
Ende
Roman
Aus dem Spanischen von
Marianne Gareis und Luis Ruby
Die Übersetzerin und der Übersetzer danken dem Deutschen Übersetzerfonds e.V. für die Förderung durch ein Arbeitsstipendium.
Die spanische Originalausgabe erschien 2018 unter dem Titel »Feliz final« bei Seix Barral, Barcelona.
Die Zitate von Idea Vilariño stammen aus dem Band »An Liebe«. Gedichte. Übertragen von Peter Schultze-Kraft, Erich Hackl und Dorothee Engels. © Suhrkamp Verlag 2005.
© Isaac Rosa 2018
© Editorial Seix Barral 2018
© Verlagsbuchhandlung Liebeskind 2021
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagmotiv: Richard Shepherd / Arcangel
Umschlaggestaltung: Robert Gigler, München
Lektorat: Corinna Santa Cruz, Frankfurt/Main
eISBN 978-3-95438-128-9
Für Marta
Inhalt
Vergeudet haben wir die Worte auf der Straße, Herz,
und was uns noch geblieben ist, genügt nicht,
die Kälte zu vertreiben von vier Wänden.
EUGÉNIO DE ANDRADE
Epilog
Wir wollten zusammen alt werden. Ich sage es laut, um mich zu hören, und merke, wie melodramatisch es klingt: Wir wollten zusammen alt werden. Ich wiederhole es mit mehr Nachdruck, lasse es durchs leere Schlafzimmer hallen: Wir wollten zusammen alt werden! Ich versuche es mit einem Lächeln, wie ein Werbeanrufer am Telefon: Wir wollten zusammen alt werden. Nichts. Es klingt immer noch pompös. Jetzt eher theatralisch, ein Knie auf dem Boden, Totenkopf in der Hand, mit dramatischen Pausen. Wir. Wollten. Zusammen. Alt werden. Ich breite die Arme aus, fülle die Lunge wie ein Tenor, das Orchester hebt an, das Publikum erzittert, Klirren im großen Kronleuchter über dem Parkett: Wir wooollten zusaaaammen alt weeeeeeeerden. Tot sinke ich auf die Bühnenbretter, der Vorhang fällt, Applaus, Schluchzer. Ich tippe den Satz ins Handy, brauche mehrere Anläufe: Wir wollt, nein, löschen. Wir wollten zus, nein, wieder löschen. Wir wollten zusammen alt werden. Ein paar Sekunden lang betrachte ich die Worte, die selbst auf dem grellen Bildschirm noch hochtrabend wirken, ich lösche sie wieder, sperre das Telefon, ich gehe ins Wohnzimmer, setze mich auf das Wackelsofa, das einzige in der Wohnung verbliebene Möbelstück. Ich wippe ein paar Mal, lasse es auf dem Parkett klackern. Nächster Versuch: Wir wollten zusammen alt werden. Ich lese es einmal, zweimal. Gehe in meine Kontakte, wähle deinen Namen aus, er ist immer noch der erste, der, den die Leute vom Rettungsdienst anrufen würden, wenn ich irgendwo tot aufgefunden würde. Ein letzter Blick auf den Text, und ich schicke die Nachricht ab. Fertig. In der leeren Wohnung weicht mein Körper Möbeln aus, die nicht mehr da sind. An den Wänden die schmutzig grauen Umrisse von Regalen und Schränken, Fotos und Postern, ich sehe sie noch an jedem einzelnen Haken. Überall bemerke ich Flecken, Filzstiftgekritzel, Kratzer auf dem Holzfußboden, schwarze Abdrücke um die Lichtschalter, ich sehe den kaputt gehämmerten Türknauf, wo einmal eine Tür klemmte. Ich könnte zu jeder dieser Lebensspuren etwas sagen und ihr ein Datum zuordnen. Du hast mich ausgelacht, wenn ich sie so nannte: Lebensspuren. Gespenstische Überbleibsel, die unter dem Pinsel und Schwamm des Nachmieters verschwinden werden. Im Schlafzimmer zum Beispiel, über dem hellen Umriss, den das Kopfteil des Betts hinterlassen hat, ist rechts ein rätselhaftes Bélmez-Gesicht zu bewundern: der Abdruck, den deine Füße an der Wand hinterlassen haben, nachdem du über ein Jahrzehnt lang vor dem Schlafengehen die Beine ein paar Minuten hochgestellt hast, zur besseren Durchblutung. Die Kerben in einem Türrahmen, die das Wachstum der Mädchen anzeigen. Ich streiche mit den Fingern darüber wie über die Tasten eines Klaviers, liebkose jede Kerbe, lese das Datum und die Initialen ab. Ich liebkose und betrachte sie, auch wenn mir dabei unweigerlich einfällt, dass ich mich früher über derlei Gefühlsduseleien immer lustig gemacht habe, aber gerade kann ich meine Trauer nur dadurch äußern, dass ich gerührt über den bunten Türrahmen streiche. Denn auch wenn du es nicht glaubst, auch wenn ich vorhin in dem leeren Schlafzimmer den Clown gespielt habe, bin ich doch traurig. Mehr als traurig. Deshalb habe ich dir diese Nachricht geschickt, deshalb schrecke ich auf, als der Klingelton deine Antwort ankündigt, und ich lese sie ungeduldig, auch wenn ich fürchte, dass sie spät kommt, sehr spät.
Natürlich kommt sie spät. Du hättest mir deine Nachricht gestern schicken können. Ich habe ständig aufs Telefon geschaut, bis die vier Männer vor der Tür standen, die die Wohnung dann in wenigen Stunden leer geräumt hatten, eifrig wie Termiten. Du hättest sie sehen sollen. Sie haben die Bücher eingepackt, unsere Kleider in Pappschränke gehängt, die Schubladen geleert, ein gespenstisches Treiben um mich herum, als würden sie mich nicht sehen. Das Stockbett der Mädchen, das du damals so mühsam aufgestellt hast, hatten sie in Minutenschnelle abgebaut. Wie Diebe liefen sie die drei Stockwerke runter, mit den Matratzen, dem Kühlschrank, der Waschmaschine. Stück für Stück wurden Teller und Gläser eingewickelt, Töpfe und Schüsseln ineinandergesteckt wie Matrjoschkas. Der Teppich wurde zusammengerollt, Bilder und Fotos abgehängt und stoßsicher verpackt. Was noch? Eine Lampe abzuschrauben dauerte bei ihnen so lange, wie du brauchen würdest, um diesen Satz zu sprechen. Sie stapelten Stühle, rollten die alte Kabeltrommel weg, die uns als Tisch gedient hatte. Sie schichteten Kartons in den Aufzug, klammheimlich, du weißt ja, was der Hausmeister für einen Stress macht. Ich sah sie durchs Fenster, es war wie im Zeitraffer, Figuren aus einem Chaplinfilm, die Möbel und Kartons in dem Lkw auftürmten, ich hatte ihn ja für zu klein gehalten, um eine ganze Wohnung aufzunehmen, all diesen Kram aus dreizehn Jahren. Aber von wegen, es blieb Platz genug, um säckeweise Winterkleidung aus dem Abstellraum zu bergen, drei Fahrräder, die alte Wiege, keine Ahnung, wozu ich die mitnehme. Fünf Stunden, und es war nichts mehr da. Also, bis auf das Wackelsofa. Wie ein Sturmwind, der die Fenster aufreißt und im Wohnzimmer einen Strudel bildet, in dem sich Möbel, Bücher und aufgewirbelte Kleidungsstücke drehen, und dann verschwinden sie zum Balkon hinaus und steigen zum Himmel auf. Oder wie eine Lawine: Sicher wäre dir das Bild eines Erdrutschs lieber, die Zunge aus Schlamm, die langsam den Berg hinabgleitet, Türen eindrückt, Möbel gegen die hinterste Wand schiebt, bis diese unter der Last einstürzt. Wie lieben wir doch Metaphern, was für eine beschissene Angewohnheit, alles, was uns widerfährt, muss zur Katastrophenmetapher werden, ein ganz normaler Umzug, eine Trennung wie so viele