Glückliches Ende. Isaac Rosa

Glückliches Ende - Isaac Rosa


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eine vergessene Wandgarderobe, das Sofa. Und Dreck, viel Dreck. Du glaubst gar nicht, wie viel Dreck sich über die Jahre ansammelt, auch wenn man jede Woche putzt. Hinter jedem beiseitegerückten Möbelstück kam Abhandengekommenes zum Vorschein, Dinge, die wir verloren gegeben und vergessen hatten: ein einzelner Ohrring, Bleistifte, Spielfiguren, von den Mädchen gemalte Bilder, der Schlüssel, wegen dem wir damals diesen Streit hatten und das Schloss austauschen mussten. Aber auch Brotkrümel, Keksstückchen, mumifiziertes Obst. Papierschnipsel, zu Staub zerfallende Kakerlaken und Motten. Und Fusseln, ein Abgrund von Fusseln, genährt von mehreren Jahrgängen abgestorbener Haare, Schuppen, Nägel, von Wundschorf und geschälter Haut am Ende jedes Sommers, das alles gehört nun in einer anderen Wohnung ersetzt, der Wohnung, zu der sich der Lkw aufmachte, als die letzte Lampe untergebracht war. Fahren Sie schon mal los, ich komme gleich nach, sagte ich den Umzugshelfern und fuhr ein letztes Mal nach oben. Und während ich durch die leeren Zimmer ging, sah ich aufs Handy, vielleicht war ja eine dringende Nachricht eingegangen, kurz vor Toresschluss, in letzter Minute, die Vollstreckung wurde ausgesetzt, brechen Sie die Mission ab, halten Sie den Lkw an, warten Sie, holen Sie die Sachen wieder raus und stellen Sie alles zurück an seinen Platz, falscher Alarm. Aber nein.

      Nein, gestern habe ich dir die Nachricht nicht geschickt, aber letzte Woche war ich nah dran, an dem Nachmittag, als ich all die persönlichen Dinge wegräumte, die wir nicht der Umzugsfirma überlassen wollten, die Kisten hatte ich mir in den Geschäften im Viertel erbettelt. Ich habe alles zusammengepackt, für den Tag, an dem es uns nicht mehr so schmerzt und wir die Sachen aufteilen können: Nippes aus den Regalen, Handarbeiten aus der Schule, Schächtelchen mit Milchzähnen und Nabelschnüren, der Schwangerschaftstest von Ana, eine rostige Patronenhülse, Weinflaschen, die noch auf eine besondere Gelegenheit warteten, Erotikspielzeug aus der hintersten Ecke einer Schublade. Den cuornuciello, unser Glückshorn aus Neapel. Ein Schild aus dem Hotel mit der Aufschrift Bitte nicht stören. Das vergilbte Programm eines Kongresses von vor dreizehn Jahren. Fotos, viele gerahmte Fotos, die über die ganze Wohnung verteilt waren. Fotos von uns in verschiedenen Lebensphasen, Fotos von Hochzeiten, von unseren Töchtern direkt nach der Geburt, von Geburtstagen und Urlauben. Das sepiafarbene Bild eines jungen Mannes im Zweireiher, das Haar glänzend, im Blick der frühe Tod. Die Hefte zu den Mädchen, die Chronik ihrer Leben seit der Geburt, die ich künftig allein weiterschreiben werde. Und Unterlagen, das pralle häusliche Archiv von Rechnungen, Verträgen, Arztberichten und Steuererklärungen, die auch von uns erzählen. Eine Schachtel von dir, die ich lieber nicht aufmachen wollte: ein Schuhkarton voll mit handgeschriebenen Briefen, wir könnten sie direkt an das Museum der Zerbrochenen Beziehungen schicken, damit sie dort gerahmt und von gerührten oder belustigten Touristen gelesen und fotografiert werden, außerdem dieser ganze sentimentale Plunder, den wir einfach nicht wegwerfen können: Postkarten, Stadtpläne, Konzerttickets, abgegriffene Mutter- oder Vatertagsgeschenke, gebrauchte Geburtstagskerzen, Trockenblumen, Steine und Muscheln vom Strand. All diese häuslichen Schätze, die eine Familie in einem guten Jahrzehnt ansammelt. All diese Dinge, die wir, wenn wir auswandern, wenn ein geliebter Mensch stirbt, oder wie jetzt, bei einer Trennung, betrübt betrachten und deren Geschichte wir dann noch einmal durchleben müssen. Manche Leute schreiben sogar Romane, deren Ausgangspunkt dieser bange Augenblick ist, in dem wir die Kiste mit den Familienerinnerungen öffnen. Schlechte Romane. Dieser ganze Krempel, irgendwann werden ihn die zu Waisen gewordenen Kinder, die Polizisten bei der Zwangsräumung, die Rettungsmannschaften nach einer Gasexplosion, die zum Kilopreis einkaufenden Trödler, die Einbrecher oder, in ein paar Monaten, sogar wir selbst in einen Container werfen, und dann ist Schluss.

      Fast hätte ja ich alles weggeschmissen, bei meiner eigenen Säuberungsaktion ein paar Tage vor deiner sentimentalen Packerei und ohne so viele Bedenken: sechs Müllsäcke voller Zeug, eingesammelt von einem Zimmer zum nächsten, das nehme ich doch nicht alles mit in eine kleinere Wohnung. Dann stand ich vor den Containern, die Sachen fein säuberlich getrennt, mit norjdeuropäischem Bürgersinn: auf der einen Seite das Papier, all die Zeitschriften, die du seit Jahren aufbewahrt hattest, weil darin ein Artikel von dir abgedruckt war. Zerfledderte Märchenbücher, ausgeschnittene Kochrezepte. Eine vollständige Themenliste für meine Staatsprüfung, Hefte und Arbeitsblätter von der Kinderkrippe aufwärts, meine Güte, kann man denn nie etwas wegwerfen. Noch mehr Papierkram: Planzeichnungen, Entwürfe für den Umbau des Hauses, der nicht mehr stattfinden wird. Eine Mappe mit Dutzenden von Weinetiketten, die wir über Jahre hinweg abgelöst und aufbewahrt hatten, um damit die Wände eines Weinkellers zu tapezieren. Die fünfzehnbändige Enzyklopädie, die du aus der Wohnung deiner Ex mitgebracht hattest, aufgeschlagen hast du sie meines Wissens nie. Und ein Dutzend Moleskine-Kladden; tut mir leid, aber die habe ich alle weggeworfen, ohne dich zu fragen. Es war einfach der falsche Moment, und ich fand die Vorstellung schrecklich, über Monate darin zu lesen und herumzuflennen wie eine Blöde. In einem zweiten Sack das Plastik: kaputtes Spielzeug, abgenutzte Küchenutensilien, das Campinggeschirr, tja, vielleicht hättest du es ja haben wollen, Scheidungsväter stehen doch so auf Camping in den ersten Jahren. Die Flaschen in den grünen Container: Parfümflakons, ausländische Biere von jeder deiner Reisen, die Likörflasche, die sechs Jahre darauf gewartet hat, als originelle Lampe wiedergeboren zu werden. Einmachgläser mit gefärbtem Salz, Sand von diversen Stränden, Reste von naturwissenschaftlichen Experimenten, nicht mehr identifizierbare Substanzen, zerfallen, nur noch Dreck. Das alles habe ich ausgeleert und hinter dem Rücken unserer zwei Diogenestöchter weggepackt, und während sie mit dir eine Kleinigkeit essen waren, habe ich einen weiteren Sack mit Technikschrott aus diversen Schubladen gefüllt. Dann hatte ich noch die Kraft, bestimmt den halben Inhalt unserer Kleiderschränke in den am Ende berstend vollen Altkleidercontainer zu stopfen, beim Umzug in eine neue Wohnung und ein neues Leben soll man ja die Chance zum Ausmisten nutzen. Alte Klamotten wegzuwerfen ist ein billiges Mittel, die Vergangenheit auszutreiben, das habe ich mal auf irgendeiner bekloppten Website gelesen, die Trauernde mit Ratschlägen versorgt, und ich hätte alles liebend gern zu einem Scheiterhaufen aufgeschichtet und im Hof verbrannt. Ich hätte weitere Tüten gefüllt und Fahrten zur Sammelstelle unternommen, bis die Wohnung leer und kein Umzug mehr nötig gewesen wäre. Am liebsten hätte ich mit allem kurzen Prozess gemacht, wäre durch die Zimmer gegangen und hätte ohne sentimentale Anwandlungen Schubladen ausgekippt und Bücherregale leer gefegt, weg mit den vollgepfropften Hochschränken, den Möbeln, von denen beim Umzug sicher ein paar Schrauben verloren gehen, und dann kann ich sie nicht wieder aufbauen, den zerschlissenen Teppichen und Lampen voll toter Insekten, mit den Matratzen, Türen, Fenstern, die ganze Wohnung hätte ich in einen großen Sack gestopft und zu der verdammten Sammelstelle gebracht, bis am Ende nur ich noch übrig geblieben wäre, um mich herum Leere wie im Schlussbild eines Comics. Mir ging es in diesem Moment so beschissen, dass ich sogar selbst in einen gelben Sack gestiegen wäre, den hätte ich dann mit einem Doppelknoten verschnürt und mich darin in den Hauseingang gelegt: eine halb erstickte Houdini, bis ich den Lkw gehört und den Atem angehalten hätte, damit zwei Müllmänner mich ächzend hochhieven und in die Presse werfen.

      Vor deinem Recyclingrausch gerettet habe ich das wenige, das ich bereits an einem früheren Nachmittag mitgenommen hatte, als ich in die Wohnung kam, die ich damals immer noch als mein Zuhause ansah, und sagte: Hallo, ich komme meine Sachen holen. Nimm mit, was du willst, hast du mir schlecht gelaunt hingeworfen, nimm mit, was du willst, und verschon mich mit Fragen. Ich sagte, ich würde ganz wenig mitnehmen, bei meiner Mutter sei ja kaum Platz, und außerdem wäre es mir lieber, du würdest unsere gemeinsamen Dinge in der Wohnung aufbewahren, die das Zuhause unserer Töchter wird. Es ist alles für sie, sagte ich, und du hast mich mit diesen zusammengepressten Lippen angesehen, so typisch für dich, und dir vermutlich eine sarkastische Antwort verkniffen: Alles für sie? Oh, danke, unser großer Familienbesitz, IKEA-Möbel, altersschwache Haushaltsgeräte, Taschenbücher, Billigkram, alles für sie, danke. Du bist mit den Mädchen in den Park gegangen, und ich habe meine Sachen eingepackt, und glaub mir, es war kein Spaß. Beim Erzählen mag es jetzt lächerlich klingen, und in ein paar Monaten kann ich bestimmt darüber lachen, aber es gab mehrere Momente, in denen ich weinen musste. Ich sage das nicht, um dein Mitleid zu erregen, ich habe wirklich geweint. Beim Durchblättern der Hefte, die du dann später weggeworfen hast. Beim Wühlen in einem Oberschrank, als auf einmal deine Schwangerschaftshose zum Vorschein kam. Als hinter den Socken das Album auftauchte, die Fotos von unserer heimlichen Hochzeit.

      Du hattest feuchte Augen, als ich ankam, ja.


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