Das Mädchen aus Oslo. Pål Gerhard Olsen

Das Mädchen aus Oslo - Pål Gerhard Olsen


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er nicht. Jedenfalls nicht, soweit ich weiß. Ich bin es, die bald stirbt. Die Ärzte geben mir höchstens noch ein Jahr.»

      «Also, ich kann nichts ...», stotterte ich ratlos.

      «Nichts sehen? Das ist nur eine Frage der Zeit. Aber daran denke ich nicht. Das habe ich nur in den ersten Tagen getan. Da war ich wütend auf die Ärzte, auf alles und jeden. Ich tat mir Leid. Ich habe geweint und mich eingeschlossen. Aber jetzt kann kommen, was kommen muss. Jetzt ist es so, als hätte ich eine lang ersehnte Erklärung bekommen. Ja, ich spüre eine ganz große Klarheit. Ich weiß, wohin mich mein Weg führt. Ich weiß, woher ich komme. Ich weiß jetzt, was zählt. Ich sehe, was wichtig ist. Ich sehe nur noch, was wichtig ist. Und darauf will ich mich in dem bisschen Zeit, das mir bleibt, konzentrieren.»

      Ich hatte einen bitteren Geschmack im Mund, und das lag nicht nur am Kaffee. Was sollte ich sagen? Sollte ich ihr mein Beileid aussprechen? Sie sah nicht so aus, als brauche sie das. Sie wirkte ausgeglichen, unbeschwert, sie wurde ihrer teuer erkauften Lebenseinstellung überzeugend gerecht.

      «Und dieser Bjørn Aarhus hat damit zu tun?», fragte ich knapp.

      Sie nickte langsam. «Vor zwei Wochen war ich oben im Norden. Habe mich einfach ins Auto gesetzt und bin losgefahren. Dann bin ich zu Fuß weitergegangen, viel weiter, bis dahin, wo wir damals ... wo wir damals waren.»

      «Wo befinden wir uns gerade?»

      «Im Sørkedal. Kennen Sie die Gegend?»

      «Leider nicht. Ich bin noch nicht viel weiter als zu den Seen vor der Stadt gekommen, sonntags mal zum Bogstadvann und so», sagte ich.

      Sie lächelte. Wie bewundernswert leicht es ihr fiel, zu lächeln.

      «Ich ging, als könnte ich alles wieder zum Leben erwecken, als läge es in meiner Macht, alles noch einmal passieren zu lassen, jetzt, wo ich besser dafür gerüstet bin, jetzt, wo ich mich besser kenne.»

      «Und wann war das erste Mal?»

      «Vor fünfzehn Jahren. Im Sommer vor fünfzehn Jahren. Wir wohnten da, mein Mann, ich und unsere Tochter Veronika. Wir hatten einen kleinen Bauernhof gemietet, wir hatten ein Pferd, sammelten Beeren und kochten Marmelade ein, suchten Pilze. Ein wunderbares Leben, jedenfalls für mich. Mein Mann stand dem Ganzen skeptisch gegenüber, er ist einfach ein unverbesserlicher Stadtmensch. Aber ich ging in den Wald», sagte sie und trank das Glas leer, ihre feuchte Zungenspitze sog wie ein Schwamm die an den Lippen verbliebene Feuchtigkeit auf. Sie sah mich wieder schwer an, sah durch mich hindurch, als sei ich lediglich ein brauchbarer Rahmen für die Bilder aus ihrer Vergangenheit. Ich hatte keinen Anlass, ihre Freude daran zu unterbrechen. «Da war Bjørn. Damals war er kaum mehr als ein Junge, achtzehn, neunzehn. Ich war weit über dreißig. Er arbeitete für Løvenskiold.»

      «Den Gutsbesitzer?», fragte ich und hatte den Eindruck, als klopfe das letzte Jahrhundert an die Tür.

      «Ja», sagte sie mit einem Seufzer, der wie ein Echo auf meine Gedanken klang.

      «Den Gutsbesitzer. Bjørn war eine Art Tagelöhner, er half beim Holzfällen, kassierte an der Mautstraße in die Berge, solche Sachen. Er stand einfach da, am Rand einer Lichtung, und sah mich an. Ich hatte ihn nicht gehört, er hatte überhaupt kein Geräusch gemacht. Es war heiß, ein Sommer wie dieser. Ich hatte den Pullover ausgezogen, ich saß da und trug nur ... Aber das war es nicht. Es lag nicht daran, dass ich fast nichts anhatte. Mich sah er an, mich. Mich als Menschen. Er gaffte nicht. Verstehen Sie?»

      «Ich glaube schon», behauptete ich.

      «Ich blieb sitzen. Ich drehte ihm den Rücken zu. Aber ich spürte, dass er da stand. Es kitzelte im Nacken. Diese Begegnung wurde so etwas wie eine heimliche Verbindung zwischen Bjørn und mir. Wir hatten etwas gemeinsam. Etwas Sprachloses. Wir wussten, wo und wann wir uns finden würden. Lange sah er mich nur an. Er war scheu, wie ein ... Tier. Er kam und ging sehr schnell. Eines Tages folgte ich ihm. Wir stiegen einen steilen Abhang hoch, über einige moosbewachsene Felsblöcke. Dort war eine kleine Mulde, und ich begriff, dass er sich oft dort aufhielt, dass es sich um eine der Stellen handelte, an denen er häufig war, dass er mehrere davon hatte, dass er überall im Wald herumstreunte. Dort berührte er mich, ich bekam ihn dazu, mich zu berühren, ich musste von ihm mehr haben als dieses Kitzeln, ich musste in ihn, und ich hatte nicht im Geringsten das Gefühl, etwas Falsches zu tun, ich dachte keine Sekunde an meinen Mann, er hatte damit nichts zu tun, das spielte sich auf einer ganz anderen Ebene ab.»

      «Animalisch», assistierte ich, mit Kaffeesatz in der Stimme.

      «Er hielt mich so fest, er hob mich so hoch. Es passierte immer wieder, ich ließ mich offenen Auges darauf ein, es war Leben und Lust. Ja, Lust. Die reine Lust. Schwere, undurchdringliche Lust. Eine Lust, die durch all das Ungesagte zwischen uns entstand. Wir spielten. Er kannte so viele Spiele. Er machte den Wald zu unserer Spielwiese. Er wusste so viel über ... mich. Er sagte, er hätte noch nie ... Aber er wusste so gut Bescheid. Er hat mir so viel gegeben. Er hat mir gut getan. Den ganzen Sommer lang hat er mir nur gut getan. Aber dann starb plötzlich seine Mutter. Die beiden lebten allein in einem kleinen, ungepflegten Häuschen, einer Hütte fast. Ich habe sie nie außerhalb des Hauses gesehen, aber sie muss ihm viel bedeutet haben, denn nach ihrem Tod zog er sich völlig von mir zurück, und eines Tages war er wie vom Erdboden verschluckt – niemand wusste, wo er abgeblieben war.»

      «Und seither haben Sie ihn nicht mehr gesehen?»

      «Nein. Nach ein paar Jahren sind wir wieder in die Stadt gezogen. Mein Mann hatte genug vom Landleben. Es gab Momente, in denen ich überzeugt war, Bjørn sei in der Nähe, weil ich eine Andeutung dieses Kitzelns spürte, das er in mir auslöste, aber wenn ich mich umdrehte, war es immer ein anderer, einer, der mir nichts anhaben konnte, nur ein Mann, ein ganz normaler Mann ...»

      Sie hatte die Hand flach auf die Tischfläche gelegt, außer dem goldenen Ehering trug sie zwei ziselierte Silberringe.

      «Was ist mit Ihrem Mann?», fragte ich. «Sollten Sie ihm nicht auch davon erzählen? Ihn wachrütteln, bevor es mit Ihnen beiden – vorbei ist? Wenn ich das richtig verstehe, hat er all die Jahre sanft geschlafen.»

      «Ich habe geschlafen. Ich habe nicht unablässig an Bjørn gedacht. Er hat mich damals verletzt – als er mit mir nichts mehr zu tun haben wollte. Außerdem war es, als habe er mich entlarvt, auf frischer Tat ertappt. Ich sah meinen eigenen – Hunger. Ich sah, wie gierig ich geworden war. Und dann kam die Scham. Scham darüber, was ich getan hatte, in welche Lage ich mich gebracht hatte. Ich bereute alles. Ich fing an, das nur als Laune zu betrachten, als ein Strohfeuer. Eine Jugendsünde. Eine verspätete Jugendsünde. Ich ließ die Wunde, in der Bjørn verschwunden war, vernarben. Ich wollte damit nichts mehr zu tun haben. Ich wollte treu sein. Ich wollte ein ... reflektierter Mensch sein. Mit ihm war ich das nicht gewesen. Er war meiner nicht würdig, dachte ich schließlich, musste ich denken, um ein Haus haben zu können, ein Zuhause, eine Familie. Und deshalb, na ja, deshalb habe ich geschlafen. Die Zeit verschlafen.»

      «Aber Sie haben es doch zu etwas gebracht», sagte ich aufmunternd. «Sagten Sie nicht, dass Sie Abteilungsleiterin sind? Das ist doch nicht schlecht.»

      «Nein, das ist nicht schlecht», sagte sie mit schneidendem Sarkasmus. «Nichts von dem, was ich gemacht habe, war jemals schlecht. Das gilt auch für meinen Mann. Wir sind einfach ungeheuer gut.»

      «Was macht er?»

      «Er ist Journalist. Bei der Aftenposten. Früher war er Redakteur. Jetzt hat er kein festes Ressort mehr, er schreibt vor allem über Kunst, Reisen und Essen und lebt wie Gott in Frankreich.»

      «Während Sie sich verzehren?»

      «Es ist nicht so, dass mir das Leben in der Stadt nicht gefällt, ich mag die vielen Gestaltungsmöglichkeiten. Aber manchmal wünscht man sich, dass etwas – Gefährliches passiert, etwas, das einem den Boden unter den Füßen wegziehen könnte. Wir modernen Menschen reiben uns so überhaupt nicht mehr aneinander. Als seien wir uns einmal zu oft zu nah gekommen. Als müssten wir erst den Globus umrunden, um wieder zueinander finden zu können. Aber dafür ist mein Mann nicht zu begeistern, er kann nur der sein,


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