Das Mädchen aus Oslo. Pål Gerhard Olsen

Das Mädchen aus Oslo - Pål Gerhard Olsen


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und sie sprach bereitwillig über Aarhus, der damals die Dachwohnung gemietet hatte. Sie ließ die Zeitschrift sinken, sie sagte «er», aber irgendwann wechselte sie zu «Bjørn» und blieb dabei, ich hörte eine Neuauflage der Hymnen der Witwe, nur in anderen Worten, hörte Bente Flem davon erzählen, wie wunderbar er mit Kindern umgehen konnte. Sie hatte einen Ehemann, der viel zu oft auf Reisen war, aber ihre beiden Kinder, die damals fünf und sieben gewesen waren, hatten in Aarhus fast so etwas wie einen Vater gehabt, er nahm sie mit zum Rummel, ins Theater, er ging mit ihnen im St. Hanshaugen-Park schwimmen. Sie sprach seinen Namen gedehnt aus, zog das ‹ø› so schön in die Länge, und ich wusste nicht, was das bedeuten sollte, ich wusste nicht, was es mit der langsamen Weitung der Pupillen auf sich hatte, damit, dass ihre Hand manchmal das Glas verfehlte. Es konnte alles und nichts heißen, und was immer es bedeutete, es verriet mehr über sie als über Aarhus, denn selbst wenn sie von ihm sprach, als habe er das Haus voll und ganz in Besitz genommen gehabt, wusste sie über ihn ebenso wenig Konkretes und Handfestes zu erzählen wie ihre Vorrednerin. Die plötzliche und schnelle Abreise hatte sich auch hier wiederholt; er war nur acht Monate geblieben, hatte dieses Mal jedoch eine Adresse hinterlassen, damit die Kinder ihm schreiben konnten, was sie anfangs auch getan hatten, aber nachdem alle Briefe unbeantwortet geblieben waren, hatten sie damit aufgehört, sagte Bente Flem etwas bekümmert.

      Ich fragte nicht, ob sie selbst ebenfalls geschrieben hatte, ich hatte genug gehört. Schon zu dem Zeitpunkt erkannte ich das Muster, ein Muster, das sich in den folgenden Tagen bestätigen sollte: Bjørn Aarhus kam, sah und siegte, um dann zu verduften, und das so unbemerkt, wie es ihm in seiner jeweiligen Umgebung nur möglich war. Und er gewann die Frauen für sich. Die Männer nahmen ihn bestenfalls als diffuse Gestalt wahr, aber für Frauen besaß er eine überwältigende Anwesenheit, heute ebenso wie seinerzeit. Frauen hielten die Türen hinter ihm offen, Frauen halfen mir, als ich ihn wie bei einer Schnitzeljagd im Zickzack durch Oslo suchte. Ich war im Osten, ich war im Westen, ich war im Norden, und ich war im Süden, ich war hier, und ich war da, und immer wenn die Sache rabenschwarz aussah, half mir eine Frau, auch wenn sie selbst nicht wusste, wo er abgeblieben war, aber sie kannte eine, die eine kannte, die eine kannte ... Das Netzwerk von Frauen rettete mich – mit vereinten Kräften behielten sie durch Zeit und Raum hindurch den Überblick über sein rastloses Umherziehen, über einen Mann, der offenbar alles um sich herum heller gemacht hatte, selbst aber in einem undurchdringlichen Dunkel blieb.

      Am Freitagnachmittag war ich in Gamleby, Oslos Wiege und Ursprung, die sich nun größtenteils in ein Stück Orient verwandelt hatte. Hier verhüllten sich die Frauen sorgfältig gegen die Sonne, hier trugen nur verrückte Hunde und gute Norweger keine Kopfbedeckung. Eine blassrote Hauswand wurde von dem deplatzierten Konterfei des Parteiführers der Konservativen beherrscht, in einer Stadtlandschaft, wo Veränderung das Gesetz des Lebens war. Hinweise auf Kickboxveranstaltungen hingen hier neben Einladungen der Kantorei Gamleby. Ich war nicht in der Dritten Welt gelandet, sondern in der vierten, fünften, ich war in der Zukunft. Hier wurde das Land gebaut, auf den Fundamenten aus ältester Zeit.

      Ich stand in der Arupsgate vor einem relativ neu renovierten Wohnhaus. Und da hatte ich ihn – weiß auf schwarz auf einem der gerahmten Klingelschilder. Bjørn Aarhus existierte. Er war kein Phantom, keine schiere, aus weiblicher Phantasie geborene Legende. Ich klingelte. Nicht, um mit ihm zu sprechen – das gehörte nicht zu meinem Auftrag. Ich wollte nur seine Stimme hören, ihren Klang. Als würde das meine Arbeit erleichtern. Aber da oben ging niemand an die Gegensprechanlage.

      Ich schlenderte durch die Hofeinfahrt in den Innenhof. An der Längswand standen eng eingeparkt die Mülltonnen. Die Renovierung war nicht bis in dieses lang gestreckte Rechteck vorgedrungen. Verrostete Wäschespinnen. Mitten drin eine mitgenommene Doppelgarage. Aber das Gittertor war fast neu, die Dimensionen des Vorhängeschlosses genügten sicher den Ansprüchen einer jeden Versicherungsgesellschaft. In zwei Eisenbügeln unter dem Flachdach der Garage hing ein Kajak. Schwarz umrandete Sitzluke, schwarze Gepäckluke, weißer Rumpf, Paddel – ein erstklassiges Boot. Auch ein Motorrad stand dort hinter Schloss und Riegel, eine rot-schwarz lackierte Harley Davidson. Keine der ganz abgedrehten, sondern mit Gepäckbox und halbhohem Lenker, gut gepflegt, eine Augenweide. Ich sah mich an diesen materiellen Gütern satt, bevor ich wieder auf die Straße zurückging, zur gegenüberliegenden Seite, wo ich meinen Golf geparkt hatte, zwanzig Meter von Aarhus’ Hauseingang entfernt. Ich setzte mich hinter das Steuer und stellte den mentalen Autopiloten an. Jetzt musste ich nur noch warten. Autos kamen die Straße hoch, Autos fuhren die Straße runter. Dazwischen lagen lange Pausen. Die Arupsgate war keine Durchfahrtsstraße, sie war das abgewandte Gesicht des Stadtteils Gamleby. Kinderlärm vom Spielplatz hinter der Schule brach wie ein sanft schaukelnder Singsang in meine totgeschlagene Zeit ein. Das Kunstleder des Sitzes klebte an meinem Hemd. Ich zappte mich durch die quakende Überzahl an Sendern, blieb aber nirgendwo hängen. Ich hatte das Gefühl zu versinken. Ein unruhiges Kribbeln wie von Mäusefüßchen. Die Frist läuft ab, dachte ich. Die Frist, um einen Rückzieher zu machen, wovon, war mir nicht klar. Nur, dass es etwas war, das mich tief berühren würde.

      Die Unruhe trieb mich hinaus. Ich ging zu dem Gelände mit archäologischen Ausgrabungen hinüber, spazierte zwischen den Überresten des ursprünglichen Oslo umher. Nicht so weit, dass ich die Tür und deren direktes Umfeld aus den Augen verloren hätte. Aber ich musste mich etwas bewegen, ich nahm meine erste zusammenhängende Lateinstunde auf horizontalen Steintafeln, berührte die gewaltigen Fundamente von Gebäuden, die ich mir nur vage vorstellen konnte. Hier im Park herrschte Kühle, all diese Steine strahlten eine Andeutung von Herbst aus und versetzten mich in eine Stimmung, die ihre Entsprechung in Helen Lassens überschwänglich begeisterten Schilderungen des Waldes fand. Hier war der Ursprung, die Wurzel, das, was außerhalb unserer selbst lag, aber auch in uns war. Geschichte. Die Geschichte, die voranging, aber nur, um zurückzuschlagen. Das Ausgrabungsgelände nahm meine Unruhe in sich auf, es gab nichts, was dieser Ort nicht schon gesehen oder gehört hatte.

      Er kam am Abend. Ich hatte kein Bild von ihm, nichts, was ich mir ansehen und mit diesem Menschen vergleichen konnte, der einen japanischen Geländewagen geschickt an die Bürgersteigkante manövrierte. Helen Lassen hatte nichts über sein Aussehen gesagt. Keine der etwa zwanzig Frauen, mit denen ich im Verlauf der Woche gesprochen hatte, war darauf eingegangen. Und ich hatte nicht gefragt. Als sei das nicht wichtig. Als würde seine Körperlichkeit sich aus dem ergeben, was sonst gesagt worden war. Und ich wusste tatsächlich, bevor es hinter den Fenstern des zweiten Stocks hell wurde, dass er es sein musste. Ich sah nicht viel von ihm, er war flink. Ich erhaschte nur Details, in Bewegung, und es dauerte, bis ich ihn einigermaßen zu einem Ganzen zusammensetzen konnte. Ich sah das Haar. Das dunkle Haar, wie es fiel. Ein Gesicht, das sich einprägte. War das Charisma? Ein T-Shirt mit V-Ausschnitt, weite Hosen, keine Jacke, den Schlüsselbund in der rechten Hand. Er war groß. Sein Gang war von katzengleicher Geschmeidigkeit. Er blickte sich um, als er den Schlüssel ins Schloss steckte, nach allen Seiten, auch über die Straße. Ich saß in seinem Blickfeld, duckte mich zwar, aber ich war im Blickfeld. Seine Wachsamkeit wirkte wie ein fester Bestandteil seines Wesens, sie hatte nichts Impulsives.

      Es ging ihm wie mir. Auch er schwor auf schwarze Jalousien. Ich beobachtete, wie er zwei aufzog, wie er die Fenster öffnete und die Jalousien wieder herunterließ, bevor er sich in den hinteren Teil der Wohnung zurückzog. Aber nur eine halbe Stunde lang. Dann kam er im Anzug wieder aus der Tür. Der hatte nichts von der Auswechselbarkeit billiger Konfektionsware. Das war Dkny, das war Calvin Klein – das war die oberste Schublade. Er trug das Haar glatter an den Kopf gekämmt. Die Schuhe machten glänzend einen Schritt auf die Straße. Ich ließ ihm den nötigen Vorsprung, dann schlich ich im ersten Gang hinterher. Er bog nach rechts in die Oslogate ein und winkte an der Ecke zur Schweigaardsgate ein Taxi herbei.

      Ich hängte mich dran. Oslos geduckte Skyline – mit der einen Ausnahme des raffinierten Stoßzahns, des Oslo Plaza – funkelte mir blass entgegen. Das Taxi nahm Kurs auf die kreisverkehrsregulierte Schlucht zwischen dem Plaza und dem Postgirogebäude. Trotz des dichten Freitagabendverkehrs konnte ich dem Mercedes ohne größere Schwierigkeiten durch das Zentrum bis zum Wesselsplatz folgen, wo Bjørn Aarhus wieder zum Fußgänger wurde. Und mich zwang, es ihm gleichzutun. Ich donnerte die Nedre Vollgate hinunter, ergatterte einen zweifelhaften Parkplatz und rannte zurück zum Anfang der Stortingsgate.

      Er ging vor mir, die Hände


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