Das Mädchen aus Oslo. Pål Gerhard Olsen
dann hörst du jemanden sagen, dass du sterben musst, vielleicht noch bis zum nächsten Sommer lebst, aber dass dann Schluss ist. Da fallen alle Schutzwälle, du stehst mit leeren Händen da, hilflos. Wachrütteln, sagen Sie. Als wäre es nicht der Tod, der uns wachrüttelt. So weit sind wir mit unserem Wohlstandsleben inzwischen gekommen, dass uns nur noch der Tod wachrütteln kann. Plötzlich bin ich auf das zurückgeworfen, was zwischen Bjørn und mir so abrupt endete. Doch jetzt gibt es keine verletzten Gefühle mehr, keine Scham. Nur diese überströmende, umfassende Lust. Das lag alles in mir verschlossen. Es war alles da und wartete auf mich. Auf den Tag, an dem ich den Tatsachen ins Auge sehen würde. An dem ich in der Wahrheit würde leben müssen. Das hört sich alles furchtbar altmodisch an, oder?»
«Ich habe Schlimmeres gehört.»
«In der Wahrheit leben. Wer kann von sich behaupten, das zu tun? Ich habe es nicht getan. Nicht ganz und gar. Vielleicht nur in den heimlichen Begegnungen mit Bjørn. In denen war Wahrheit. Die Wahrheit, dass alles in einem selbst ungefestigt ist, veränderlich. Man fließt. Man lebt. Bjørn gab mir immer genau dieses Gefühl. Darum möchte ich ihn so gern wieder sehen. Um zu erfahren, wer ich mit ihm zusammen war. Wer ich bin. Wenn ich ganz nackt bin. Ein unbeschriebenes Blatt. Keiner außer ihm hat mich an diesem Punkt in mir getroffen.»
«Warum versuchen Sie nicht selbst, ihn zu finden?», fragte ich, um ihr ein bisschen kaltes Wasser ins kochende Blut zu schütten, vielleicht auch mir. «Wozu brauchen Sie mich?»
«Ich möchte mir Peinlichkeiten ersparen. Vielleicht hat er mich vergessen. Wer weiß, ob ihm das Ganze überhaupt etwas bedeutet hat. Darüber habe ich nie etwas erfahren: wie es ihm ging, was er wollte. Er hatte etwas Rastloses. Als wolle er nur weg, als sei der Wald ausschließlich ein Fluchtort. Irgendwie kann ich ihn mir nicht anderswo vorstellen als im Wald. Deswegen habe ich auch nach ihm gefragt, als ich da oben war, ob ihn jemand gesehen hatte, aber es kam nichts dabei raus. Nun verlasse ich mich auf Sie», sagte sie und schabte mit ihren prächtigen Ringen über die Tischdecke, um meine Fingerkuppen zu berühren. «Ich brauche einen – Puffer. Einen, der vermittelt, mir aber auch vermitteln kann, wer Bjørn ist. Ich möchte, dass Sie ihn studieren. Lange. Gründlich. Versuchen, ihn mit meinen Augen zu sehen. Nach alldem, was ich Ihnen erzählt habe. Glauben Sie, dass Sie das können?»
Ich starrte in ihren Blick. Er übte einen Sog aus, einen schwärzenden, sonnenverfinsternden Sog, dem ich mich nicht entziehen konnte. Ich sagte: «Ich kann es jedenfalls versuchen. Aber es könnte schwierig werden. Wer weiß, vielleicht ist er ausgewandert.»
«Nein», sagte sie bestimmt. «Er ist hier in Oslo.»
«Wie kommen Sie darauf?»
«Ich weiß es einfach. Er muss hier sein.»
«Nun gut. Gehen wir also davon aus. Auch wenn nichts sicher ist. Ich brauche ein paar Tage, Sie hören wieder von mir.»
Ich stand auf, gab ihr meine Karte und erhielt die ihre.
«Rufen Sie an, wann immer es nötig ist», sagte sie.
«Auch zu Hause?»
«Jetzt ja.»
Ich blieb stehen und sah ihr nach, wie sie zu ihrem leitenden Bibliotheksjob zurückkehrte, vorbei an der gigantischen roten Buchskulptur, die auf dem Rasenstück vor dem Kreisverkehr für ihren Arbeitsplatz warb, einem Buch, das aufgeschlagen war, als müsse der, der klug werden wolle, nur darin blättern. Sie ging, wie sie gekommen war. Unbekümmert, gleichsam getragen von dem, was sie mir gerade erzählt hatte, wie in einer höheren Sphäre, wo der Tod keinen Stachel hat. Der, so schien mir, war bei mir zurückgeblieben, bei mir, der ich nun die Welt mit ihren Augen sehen sollte.
Im Büro war es inzwischen kochend heiß, aber ich musste mich überwinden, musste ein Telefongespräch führen, dann fiel mir ein, dass mehrere Gespräche anstanden. Das erste war mit der Auskunft. Durch die Kabel der Telefongesellschaft sauste ich aus Oslo hinaus zur Auskunft in Kongsberg, wo ich aber nur erfuhr, dass es im dortigen Teilnehmerverzeichnis keinen Bjørn Aarhus gebe. Ohne etwas in der Hand zu haben, rief ich danach das Osloer Einwohnermeldeamt an. Dort musste ich meine Anfrage begründen. Sie hatten ihre Vorschriften. Ich band der Frau von der Information den Bären einer Erbschaftssache auf, für die ich Bjørn Aarhus umgehend finden müsse. Der Hinweis auf Geld brachte die Sache voran. Es gab nur einen Eintrag auf den Namen Aarhus, und der war in Torshov verzeichnet. Er stammte aber vom Ende der achtziger Jahre. Ich dankte dennoch.
Ich hatte einen grashüpfergrünen Golf aus dem geschichtsträchtigen Jahr 1989. Mit heruntergedrehten Scheiben fuhr ich den Kirkevei entlang, auch unter dem erheblich weitläufigeren Namen Ring 2 bekannt. Eine anonyme Straße, ein anonymes Wohnhaus. Schmucklose Architektur. Ich drückte wahllos auf ein paar Klingeln, wahllos, weil auf keiner der Name Bjørn Aarhus stand. Das hatte ich erwartet. Wenn Helen Lassen ihn richtig beschrieben hatte, konnte es nicht ganz so einfach sein. Auch ich hatte den Eindruck eines ruhelosen Menschen bekommen. Lebendig und ruhelos.
Im ersten Stock war jemand zu Hause. Ein älterer Mann, dessen Misstrauen metertief saß – ich musste mich mit der Gegensprechanlage als Kommunikationsmedium zufrieden geben. Nein, um so etwas kümmere er sich nicht, er wisse nicht, wer hier ein- und ausziehe. Ja, Ende der Achtziger habe er bereits hier gewohnt, sogar schon Ende der Siebziger, aber zu dem Namen Aarhus falle ihm nichts ein. Auch die Frau im Stockwerk darüber war schon in die Jahre gekommen, bei ihr löste Aarhus jedoch eine regelrechte Sesam-öffne-dich-Reaktion aus. Sie ließ mich umgehend ein. Es handelte sich um eine Witwe Isachsen mit steifer Hüfte, im groß geblümten Kleid, mit sommertrockenen Dauerwellenlöckchen und Kuckucksuhr im Flur. Und ob sie sich an einen so netten jungen Mann wie Aarhus erinnerte! Er hatte nicht lange hier gewohnt, knapp ein Jahr, in der Wohnung schräg gegenüber von ihr, zur Untermiete. Sie persönlich habe für solche Regelungen nichts übrig, das führe leicht zu Unannehmlichkeiten. Aber Aarhus war die Höflichkeit in Person gewesen, immer so hilfsbereit. Ja, die steife Hüfte habe ihr schon damals zu schaffen gemacht, aber dieser Aarhus habe doch tatsächlich angeboten, die Treppe für sie zu wischen – er habe auch Glühbirnen und Sicherungen ausgewechselt. Mit ihm im Haus habe sie sich sicher gefühlt, da sei alles in Ordnung gewesen. Sonst sei ja unten drunter einiges los, na ja, oben drüber auch. Ausländer, sagte sie und kniff die Augen zusammen, als imitiere sie die resoluten Schließmuskeln in der Asylpolitik der amtierenden Regierung. Na ja, er nahm es vielleicht nicht mit allem so genau, Aarhus, meinte sie, denn zu ihrem Schrecken habe sie feststellen müssen, dass er sich nicht umgemeldet hatte. Darum musste sie sich kümmern, die Papiere mussten schließlich in Ordnung sein, das hatte sie von ihrem verstorbenen Mann gelernt, der war Wirtschaftsprüfer gewesen. Das sei doch das Mindeste, was sie zum Dank für Aarhus’ Hilfsbereitschaft hatte tun können. Was er von Beruf gewesen sei? Schwer zu sagen. Er war keiner von denen, die unnötig viel über sich selbst redeten, aber hatte er nicht mal ein Studium erwähnt? Er war viel unterwegs. Und sie hatte nie gesehen, dass er jemanden mit nach Hause gebracht hätte. Nein, hinter dieser Tür war es immer ruhig gewesen, fügte sie viel sagend an. Doch dann war er verschwunden, von einem auf den anderen Tag. Das war das einzige Mal, dass er sie enttäuscht hatte. Einfach zu verschwinden, ohne ihr ein einziges Wort zu sagen. Kein Zettel im Briefkasten, nichts. Aber im Jahr darauf hatte sie ihn einmal gesehen, im Freiapark. Eine Freundin von ihr wohnte in der Fagerheimgate, sie waren im Herbst einmal zusammen spazieren gegangen, und da war ihnen Aarhus begegnet. Er hatte etwas verlegen gewirkt, aber trotzdem konnte sie ihn fragen, wohin er eigentlich gezogen sei, er würde ihr doch wohl nicht verbieten, ihm eine Weihnachtskarte zu schreiben? Und sie schrieb ihm eine, musste aber leider sagen, dass sie keine zurückbekommen hatte. Nun ja, sie wollte ihm das nicht übel nehmen, er hatte sicher anderes zu tun, als alten Frauen Karten zu schreiben.
Nach der Wegbeschreibung der redseligen Witwe fuhr ich bis zu der Kreuzung, wo die Uelandsgate nach Oslo downtown abbiegt, und parkte den Wagen im Maridalsvei. Dann ging ich den Hügel hinauf, wo Oslo von pittoresker Dörflichkeit ist. Fast rechnete ich damit, dass mir die Märchensammler Asbjørnsen und Moe aus der Alten Akerkirche entgegenkommen würden, zahllose Sagen und Märchen gut verstaut in den Satteltaschen eines Packpferdes. Aber die Dame im Sarong, die unter einem absolut unverzichtbaren Sonnenschirm hinter einem südnorwegisch wirkenden, weißen Gartenzaun saß, las eine Frauenzeitschrift, neben sich ein Glas