Mrs Palfrey im Claremont. Elizabeth Taylor

Mrs Palfrey im Claremont - Elizabeth Taylor


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Die Aussicht – besonders an diesem schon dunkler werdenden Nachmittag – war entmutigend; doch dass die Rückseite von Hotels, in denen mittellose Damen einquartiert werden, einen Blick zu bieten hätte, war ja nicht zu erwarten. Das Beste ist Flitterwöchnern vorbehalten, wozu sie es allerdings brauchen sollten, wusste Gott allein.

      Das Bett sah ziemlich hoch aus, und der Teppich war abgenutzt, wenn auch nicht fadenscheinig. Man konnte Rosen darauf erkennen. In der Ecke gab es einen Kamin, vernagelt, aber noch mit einem Funkenschutzboden aus pfauenblauen Kacheln davor. Der Heizkörper gab einen trockenen Geruch nach Versengtem und gedämpfte Geräusche von sich. Schwere Holzknäufe an den Schubladen der Kommode – das Zimmer glich eher einer Dienstmädchenkammer.

      Sie nahm den Hut ab und schob ihr Haar umher. Es war kurz, grau und gleichmäßig gewellt, als hätte jemand eine Hand darüber ausgebreitet und dann zugedrückt.

      Die Stille war seltsam – eine sonntagnachmittägliche Stille und Seltsamkeit; und kurz geriet ihr Herz ins Schlingern, stolperte vor Entsetzen und Verzweiflung wie schon einmal zuvor, als sie plötzlich begriffen hatte oder nicht mehr nicht begreifen konnte, dass ihr Mann, der an der Schwelle des Todes stand, sie überschreiten würde. Wider alle Hoffnung, all ihren Gebeten zum Trotz.

      Um sich zu beruhigen, setzte sie sich auf die Bettkante, atmete tief durch und hob das Kinn, als wollte sie mit gutem Beispiel vorangehen.

      In der Ferne jammerte der Fahrstuhl. Bald hörte sie sein Gitter zuschlagen, dann zerstiebende Geräusche – Schritte, Gespräche, Menschen, die sich näherten, von einem Flur in den anderen abbogen. Zwei höfliche Stimmen kamen schließlich an ihrer Tür vorbei. Sie war dankbar dafür.

      Ihre düstere Stimmung war verflogen, und sie fing an auszupacken. Sie hängte ihre Kleider auf und dachte an frühere Wohnstätten zurück; aber dankbar, nicht mehr untröstlich. Alles, was sie jetzt berührte, war ihr vertraut – Pillen klapperten vertraut in ihren Dosen, als sie sie auf den Nachttisch stellte. Ihr kurzes Pelzcape hängte sie über einen Stuhl. Es roch nach Kampfer und Tier, wie eh und je. Sie beschloss, es zum Abendessen anzuziehen, um einen maßgeblichen ersten Eindruck zu machen. Auf wen, würde sich herausstellen oder auch nicht. Neben ihr Bett legte sie Palgraves Goldene Schatzkammer und ihre Bibel, obwohl sie nicht religiös war.

      Als sie ausgepackt hatte – und sie zog es nach Kräften in die Länge, damit ihr später früher vorkommen würde –, nahm sie ihr Necessaire und ging den Flur hinunter bis zu einer Tür mit der Aufschrift »Damentoilette«.

      Ihr Tisch stand in einer Ecke des Speisesaals und war leer bis auf eine silberne Vase mit einer einzelnen weißen Chrysantheme und etwas Grün. Bald kämen ihre Packung Knäckebrot und, beim Frühstück, ihre Weizenkleieflocken und ihre bessere Sorte Marmelade hinzu. Aus Hotelmarmelade machte sie sich nichts.

      An anderen Tischen saßen einige ältere Damen wie sie, die für Mrs Palfrey so aussahen, als säßen sie seit Jahren dort. Die Hände im Schoß gefaltet, der Blick verträumt, warteten sie geduldig auf ihre Selleriesuppe. Es gab auch ein, zwei Ehepaare, die, dann und wann kurz aneinander erinnert, zur Wahrung des Scheins eine Bemerkung über den Tisch richteten, während sie ansonsten vage umherschauten oder an einem Stück Brot knabberten. Mehr als die alten Damen wirkten sie wie auf der Durchreise. Die Kellnerinnen liefen geräuschlos über den dicken Teppich, als assistierten sie bei einem Ritual. Viele Tische waren unbesetzt.

      Nach einer zähflüssigen Selleriesuppe gab es die Wahl zwischen gebratenem Surrey-Huhn oder kaltem Norfolk-Truthahn. Dann kam der Servierwagen mit rotem Wackelpudding und schwappendem Obstsalat (hauptsächlich kleingeschnittene Äpfel und Bananen, wie Mrs Palfrey feststellte). Kaffee wurde im Aufenthaltsraum getrunken. Es war alles ziemlich schnell vorbei, ohne Gespräche, mit denen die Zeit sich hätte ausdehnen lassen. Viertel nach acht.

      Im Aufenthaltsraum wurde das Strickzeug hervorgeholt, hier und da gab es sogar eine halbherzige kleine Unterhaltung. Mrs Palfrey wusste, dass die Bewohner eines solchen Hotels ihre angestammten Plätze hatten, und so setzte sie sich, mit ihrem gewohnt sicheren Gespür für das richtige Benehmen, an diesem ersten Abend in eine ziemlich dunkle Ecke an der Tür, wo es zog, legte sich das Cape enger um die Schultern und schlug ihren Agatha Christie auf.

      Um neun Uhr merkte sie, dass Bewegung in den Raum kam. Stricknadeln wurden in Wollknäuel gestochen (sie beschloss, sich am nächsten Morgen ebenfalls Strickzeug zu besorgen), Bücher dankbar zugeklappt, als wären sie nur eine Übergangsbeschäftigung gewesen, und steife Körper erhoben sich mit viel Aufwand aus den Sesseln.

      Nur Mrs Palfrey las weiter und wunderte sich, bis eine ältere Frau, langsamer als die anderen, von Arthritis gebeugt und an zwei Stöcken gehend, auf ihrem Weg zur Tür bei Mrs Palfreys Stuhl innehielt. »Wollen Sie nicht auch herüberkommen und sich die Serie ansehen?«, fragte sie, und es schien, als wäre da vielleicht ein Lächeln auf ihrem Gesicht gewesen, wenn sie nicht solche Schmerzen gehabt hätte.

      Mrs Palfrey stand schnell auf und errötete ein wenig, als wäre sie neu an einer Schule und würde zum ersten Mal von einer Vertrauensschülerin angesprochen.

      »Ich heiße Elvira Arbuthnot«, sagte die geplagte Frau knapp und schleppte sich weiter. »Wir sehen uns die Serie immer gern an«, fügte sie hinzu. »Es sorgt für Abwechslung.«

      Mrs Palfrey war zufrieden mit ihrem ersten Abend. Jemand hatte mit ihr gesprochen: Sie kannte jetzt einen Namen, den sie sich merken würde. Morgen, beim Frühstück, könnte sie Mrs Arbuthnot »Guten Morgen« sagen und nicken. So würde der Tag angenehm beginnen. Danach würde sie hinausgehen und sich ihr Knäckebrot, ein Glas Marmelade und etwas Wolle kaufen. (Was um alles in der Welt könnte sie stricken, überlegte sie, und für wen?) Auf diese Weise wäre sie den ganzen Vormittag über beschäftigt.

      Sie half ihrer neuen Bekanntschaft, in dem abgedunkelten Raum einen Platz zu finden. Sie selbst setzte sich auf einen harten Stuhl hinter einer Reihe von Sesseln. Köpfe mit gelichtetem Haar lehnten an den Schonern. Jemand drehte sich steif um und sah sie kurz an, wie zur Warnung, sich ja nicht zu rühren. Sie wurde ganz reglos. Von der Serie verstand sie wenig, sie war zu spät hinzugekommen.

      Die ganze Nacht lang war es still im Hotel; selbst der Londoner Verkehr schien in einer anderen Welt zu fließen, gedämpft und einlullend. Mrs Palfrey schlief schlecht und war froh, als sie endlich draußen auf dem Flur jemanden entlanggehen hörte und kurz darauf das Wasser zu rauschen begann. Sie stand auf, zog sich den Morgenmantel über und setzte sich, Necessaire am Handgelenk, in Habachtstellung, um auf die zurückkehrenden Schritte zu lauschen. Als sie kamen, huschte sie aus der Tür und den Flur entlang und hatte die Hand schon am Griff der Badezimmertür, bevor irgendjemand anders auch nur um die Ecke biegen konnte.

      Das Bad war warm und dunstig, der Vorleger feucht, und in der nassen Wanne fand sich ein krauses graues Haar. Sie spülte es weg und versuchte, nicht darüber nachzudenken. Sie wusch sich schnell (aus Rücksicht auf andere) und vertrieb mit ihrer nach Zitrone duftenden Seife den Nelkengeruch, der vorher dagewesen war.

      Später ging sie, bekleidet mit ihrem kastanienbraunen Wollkostüm, den Tagesperlen und festen Schuhen, in den Speisesaal und nickte auf dem Weg zu ihrem Ecktisch ein, zwei Leuten ganz leicht zu. Die ältliche Kellnerin wartete mürrisch ab, bis Mrs Palfrey sich zwischen Backpflaumen und Porridge, Schellfisch und Würstchen entschieden hatte.

      Während sie auf die Backpflaumen wartete, fasste Mrs Palfrey den vor ihr liegenden Tag ins Auge. Der Vormittag wäre auf recht schöne Art gefüllt; Nachmittag und Abend dagegen würden sich lange hinziehen. Ich darf mein Leben nicht fortwünschen, schalt sie sich; doch sie wusste, dass sie immer häufiger auf die Uhr schaute, je älter sie wurde, und dass es jedes Mal früher war, als sie gedacht hatte. In ihren jüngeren Jahren war es immer später gewesen.

      Ich könnte ins Victoria and Albert Museum gehen, dachte sie – spürte aber, dass sie es auf einen anderen Tag verschieben würde. In London sei immer so viel los, hatte sie zu ihrer Tochter gesagt, die ihr Eastbourne als geeigneteren Ort zum Leben vorgeschlagen hatte. In London gebe es jede Menge kostenloser Vergnügungen und eine große Vielfalt an Menschen.

      Vor den Fenstern des Speisesaals hingen Stores, aber ihr war so, als hätte es wieder angefangen zu regnen.

      Nach


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