Mrs Palfrey im Claremont. Elizabeth Taylor

Mrs Palfrey im Claremont - Elizabeth Taylor


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Kleider mit auf der Brust verstreuten aufgestickten Perlen hinunterfuhr, überlegte sie, ob sie einen halbtrockenen Sherry oder Dubonnet nehmen sollte. Sie fühlte sich zugleich verwegen und trotzig. Ihren Strickbeutel hatte sie oben gelassen. Leicht errötend ging sie in den hinteren Teil des Aufenthaltsraums und nahm ein altes, altes Exemplar der Feldsportzeitschrift The Field zur Hand. Beiläufig blätterte sie darin und hielt den Kopf die ganze Zeit gesenkt. Bald darauf kam Mrs Burton und drückte mit großer Autorität auf den Klingelknopf. Ihnen gegenüber saß Mr Osmond und beäugte sie. Er hatte ein Glas Wein neben sich auf dem Tisch stehen, rührte es aber nicht an. Er saß geduldig still, die Hände auf den Knien, als wartete er darauf, dass der Wein sich selbst trank.

      Mrs Burton hatte ihr Haarnetz abgenommen und die Falten ihres Gesichts mit Puder gefüllt. Ihr Gesicht hatte sich im Grunde aufgelöst – in Beutel, Wammen und tiefe Schluchten, sodass es aussah, als hätte sich ein Erdrutsch ereignet.

      »Die Trinkerei hat bereits ihren Tribut gefordert«, flüsterte am anderen Ende des Raums Mrs Arbuthnot Mrs Post zu; die schüttelte spröde den Kopf, wenn auch nicht, weil sie anderer Meinung war; sie zählte, stumm die Lippen bewegend, Stiche. Als sie damit fertig war, warf sie einen langen, klaren Blick auf Mrs Burton und schüttelte erneut den Kopf. »Es ist sehr traurig«, sagte sie, als hätte sie großes Mitleid.

      Endlich kam der Ober, und Mrs Palfrey, die sich für Sherry entschieden hatte, lehnte sich zurück, um das feindselige Interesse auf der anderen Seite des Raumes heil zu überstehen.

      »Mein Schwager kommt zum Essen«, sagte Mrs Burton. »Deshalb das frisierte Haar.« Sie berührte es leicht, aber es gab nicht nach. »Er kümmert sich um mich, der Harry. Haben Sie Verwandte in London?«

      Sie war nicht die Art von Frau, mit der sie normalerweise Umgang gehabt hätte, dachte Mrs Palfrey, … nicht ganz … aber das Leben hatte sich verändert, und um bei Trost zu bleiben, musste sie sich mit ihm verändern.

      »Ich habe einen Enkel, der im Britischen Museum arbeitet. Sonst niemanden. Seine Mutter lebt in Schottland. Nein, ich rauche nicht, danke.«

      »Ach, dann wären Sie im Astor ja mehr in seiner Nähe gewesen. Kommt er Sie besuchen?«

      »Oh ja. Desmond wird kommen. Er weiß ja, wo er mich findet. Wir haben immer – einen Draht zueinander gehabt, wissen Sie. Manchmal überspringen diese Beziehungen ja eine Generation.«

      »Ich freue mich, wenn ich mal ein junges Gesicht zu sehen bekomme.«

      Mr Osmond hatte den Ober abgefangen, der – wenn auch ungeduldig – neben seinem Stuhl stehen blieb.

      »Könnte Sie interessieren, dachte ich …«, murmelte Mr Osmond. »Fiel mir plötzlich ein … muss ich Antonio erzählen … auf meinen Reisen … in Italien war das … Ihrem Land … Fresken …«

      Das alte, rötliche Gesicht hatte die falsche Lebendigkeit eines Wegelagerers angenommen, denn es war mühselige Arbeit, seinen Zuhörer bei der Stange zu halten. Mrs Burton schaute leidenschaftslos zu und schob ihr Haar hoch, denn sie konnte nur Fetzen von diesem hastigen, gedämpften Gerede hören; dennoch blickte Mr Osmond auf einmal zu ihr herüber und sagte: »Hier muss ich meine Stimme senken.« Er erhob sich halb zum seitwärts geneigten Kopf des Obers und brüllte, als wäre der Mann taub: »… ein enormes Geschlechtsteil. Ganz enorm.« Dann senkte er die Stimme wieder und sagte vertraulicher: »Fresken. Italienische Fresken. Ich nehme an, Sie wissen, was ich meine.«

      Mrs Burton prustete kurz vor Lachen und verwandelte es schnell in Husten. Mrs Palfrey schaute beiläufig weg und nahm einen Schluck Sherry. So ein armer alter Wicht ist er also, dachte sie.

      »Enorm!«, sagte Mr Osmond erneut, und der Ober eilte davon. Wieder allein, saß Mr Osmond ganz still in seinem Sessel und lächelte. Er hatte sein Gespräch gehabt.

      »Unflätiger alter Kerl«, flüsterte Mrs Burton hinter ihrem Taschentuch.

      Schweigen am anderen Ende des Raums. Mrs Post löste Stiche auf, und Mrs Arbuthnot hatte sich in ihre Welt des Schmerzes zurückgezogen. Bald stand Mrs Burton auf und drückte wieder auf die Klingel.

      Um halb acht schlenderte Mr Osmond als Erster in den Speisesaal, gefolgt von Mrs Arbuthnot, langsam, geisterhaft, Schritt für schmerzhaften Schritt, ihre zwei Stöcke immer ein kleines Stück voraus. Sie war wie ein verletztes Insekt. Bei Mrs Palfrey angelangt – Mrs Burton ignorierte sie –, hielt sie inne. »Was haben Sie mit Ihrem Enkel angestellt?«, fragte sie. »Wenn wir ihn nicht bald hier sehen, fangen wir noch an zu denken, dass es ihn gar nicht gibt.«

      »Oh, er wird schon kommen«, sagte Mrs Palfrey und lächelte. Sie glaubte es wirklich.

      Nach dem Essen holte sie ihr Strickzeug und gesellte sich nun, da sie genügend Widerstand geleistet hatte, um ihre Persönlichkeit zu behaupten, zu den anderen auf der Fensterseite des Raums. Mrs Burton kam mit ihrem Schwager zurück in die Bar, und nun war er derjenige, der auf die Klingel drückte und den Eindruck machte, als hätte er das zu seiner Zeit sehr oft getan.

      Desmond kam nicht. Der Pullover, den Mrs Palfrey für ihn strickte, würde bald fertig sein, und alle wussten, dass er nicht erschienen war, um ihn sich zu holen. Im Fernen Osten hatte es wesentlich zum Leben dazugehört, das Gesicht zu wahren, und Mrs Palfrey wahrte jetzt, so gut es ging, ihres. Für gewöhnlich führt das zu Schwierigkeiten, und so war es auch bei Mrs Palfrey, denn es bedeutete, dass sie lügen musste und gezwungen war, sich hinterher an ihre Lügen zu erinnern. Sie musste Krankheiten für Desmond erfinden und Auslandsreisen im Rahmen seiner Arbeit – die, wie sie sehr wohl wusste, keinerlei Auslandsreisen mit sich brachte. Das empfand sie als äußerst anstrengend, und hinzu kam ihr heimlicher Kummer, dass sie in London letztlich doch niemanden hatte, der zu ihr gehörte, und dass der strebsame, recht untadelige junge Mann, auf den sie immer so stolz gewesen war, sich kein bisschen für sie interessierte. Noch nicht einmal ihre Briefe hatte er beantwortet, ihre Einladungen zum Abendessen im Claremont. Junge Männer waren immer hungrig und sehr oft knapp bei Kasse, hatte sie angenommen; nun aber zeigte sich, dass ihr Enkel weder hungrig noch knapp bei Kasse genug war, um in dieser Hinsicht irgendwelche Unterstützung ihrerseits zu benötigen. Das kränkte sie nicht nur, es empörte sie. Nicht zuletzt war es eine Frage der Erziehung. Briefe sollten beantwortet werden. Sie konnte nicht umhin, diesen Fehltritt ihrer Tochter gegenüber zu erwähnen, und schrieb ihr in ihrer unnachahmlichen Art, »sie meine ja bloß«. Es kam häufig vor, dass sie etwas »bloß meinte« oder »lediglich erwähnen« oder »nur mal gesagt haben« wollte. Ihre Tochter ging ganz beiläufig auf dieses »Meinen« ein, und zwar in ihrer gewohnt forschen Art, ohne Entschuldigung oder Erstaunen. »Sie sind alle gleich. Ich habe einen Brass auf die Jugend.« Solche landschaftlichen Wörter übernahm sie gern; ihren schottischen Ehemann ließen sie zusammenzucken. Er konnte sie nicht »verknusen«, wie sie es ausgedrückt hätte.

      Ob sie sich ihren Sohn zur Brust nahm oder nicht, fand Mrs Palfrey nicht heraus. Weder kam er noch schrieb er ihr, und sie wünschte von Herzen, sie hätte im Claremont nie von ihm gesprochen. Sie hatte zunehmend das Gefühl, bemitleidet zu werden. Alle anderen Bewohner bekamen Besuch – selbst einigermaßen ferne Verwandte taten von Zeit zu Zeit ihre Pflicht; sie blieben eine Weile, lobten die Annehmlichkeiten des Hotels in den höchsten Tönen und zogen erleichtert wieder von dannen. Es war Mrs Palfrey schleierhaft, wie ihr einziges Enkelkind – noch dazu ihr Erbe – sie derart vernachlässigen konnte.

      An einem ihrer schlimmsten Arthritis-Tage sprach Mrs Arbuthnot ihr gehässig ihre Anteilnahme aus, und in der darauffolgenden Nacht konnte Mrs Palfrey nicht schlafen. Von panischer Angst vor Einsamkeit heimgesucht, quälte sie sich durch die Stunden nach Mitternacht.

      Ich darf mich nicht nervös machen lassen, warnte sie sich. Nervosität war schlecht für ihr Herz. Sie knipste das Licht an und fragte sich, ob es je Morgen werden würde. Sie versuchte zu lesen, doch ihr Herz ruckelte so zögerlich, dass jedes Pochen in ihrem Kopf widerhallte. Wenn ihr so zumute war, schien ihr alles besser, als allein zu sein – ein Pflegeheim, wo auch andere nachts wach liegen würden, ja sogar bei ihrer Tochter zu wohnen, vorausgesetzt, so etwas wäre je vorgeschlagen worden. Am Morgen – wie sie sich jetzt schwor – wäre ihr Lebensmut,


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