Mrs Palfrey im Claremont. Elizabeth Taylor

Mrs Palfrey im Claremont - Elizabeth Taylor


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wie möglich zu sterben hoffte, ohne irgendwem zur Last zu fallen als denen, die dafür bezahlt wurden, sich um sie zu kümmern.

      »Die jungen Leute sind sehr herzlos«, hatte Mrs Arbuthnot zu sagen gewagt.

      »Er würde kommen, wenn er könnte«, hatte Mrs Palfrey erwidert und die Lippen zusammengepresst, denn sie hatten gezittert.

      »Wir armen alten Frauen leben zu lange«, hatte Mrs Arbuthnot mit einem Lächeln gesagt.

      Wenn sie von ihrem Ehemann sprach, hatte Mrs Palfrey bemerkt, war der bloße Ton ihrer Stimme ein Vorwurf an ihn, gestorben zu sein, sie sitzen gelassen zu haben. Unter den gegebenen Umständen wäre er ihr von so großem Nutzen gewesen, hätte ihr helfen können herumzukommen, abgeholt und gestützt zu werden: Vielleicht würde sie sogar immer noch in ihren eigenen vier Wänden wohnen. Aber sie war nicht so allein wie Mrs Palfrey. Sie hatte Schwestern, die kamen und gingen, manchmal sogar mit dem Wagen, um Ausfahrten mit ihr zu unternehmen oder ihre alte Freundin Miss Benson im Krankenhaus zu besuchen. Miss Benson hatte im Claremont gewohnt, bevor sie krank wurde.

      »Sie hatte niemanden«, sagte Mrs Arbuthnot, was heißen sollte, niemanden außer Mrs Arbuthnot. »Keine Menschenseele. Sie war vollkommen allein.« Ihre Augen ruhten auf Mrs Palfrey. »Nie kam irgendjemand sie besuchen. In all unseren gemeinsamen Jahren hier. Dabei war sie zu ihrer Zeit eine stadtbekannte Frau.«

      »Ich bin viel im Ausland gewesen«, sagte Mrs Palfrey. »Da verliert man den Kontakt.«

      »So ist es wohl. Wir müssen unsere Freundschaften instand halten. Das hat, glaube ich, Doktor Johnson gesagt. Aber Sie, Sie haben natürlich Ihren Enkel.«

      »Ja, ich habe Desmond.« Ich bin wirklich nicht mit dieser armen Miss Benson zu vergleichen, beruhigte sie sich. Zu Mrs Arbuthnot sagte sie: »Meine Tochter lebt so weit weg, in Schottland.«

      »Und Sie würden nicht gern im Norden leben?«, bohrte Mrs Arbuthnot nach.

      Mrs Palfrey war nicht dazu eingeladen worden, und sie kam auch nicht gut mit ihrer Tochter aus, die laut und burschikos war und den größten Teil ihrer Zeit damit verbrachte, Golf zu spielen oder darüber zu reden. »Ich weiß nicht, ob mir das Klima dort zuträglich wäre«, antwortete sie. In London schüttete es; in Schottland kam der Regen gleichmäßiger vom Himmel: als Schnee. Sie hatten es am Abend im Fernsehen gesehen.

      »Nein, natürlich nicht«, sagte Mrs Arbuthnot leise, die Augen erneut auf Mrs Palfrey gerichtet. Es waren so blassblaue Augen, dass Mrs Palfrey mulmig wurde. Sie fand, dass blaue Augen mit den Jahren immer blasser und irrer wurden. Braune Augen dagegen bleiben gleich, dachte sie mit etwas Stolz.

      Mäßig verzweifelt (denn sie hatte noch nicht herausgefunden, dass ihre Mitbewohner sich wesentlich mehr als nötig über Besucher unterhielten) schrieb Mrs Palfrey einer ihrer alten Schulfreundinnen, die in Hampstead wohnte. Sie kannte ihre Adresse, weil sie seit sechzig Jahren Weihnachtskarten austauschten, obwohl es wahrscheinlich kaum das war, was Mrs Arbuthnot oder Doktor Johnson darunter verstanden, eine Freundschaft instand zu halten.

      Mrs Palfrey lud Lilian Kibble zum Mittagessen ins Claremont ein, und Lilian Kibble, die eine Taxifahrt von Hampstead zur Cromwell Road für zu teuer befand, antwortete, sie freue sich sehr und werde ihr bald Bescheid geben, wann es ihr passe – was sie Mrs Palfreys Meinung nach ebenso gut gleich hätte tun können. Natürlich hörte sie nichts mehr von Mrs Kibble, doch ein, zwei Wochen lang gestattete sie sich, auf einen Brief zu hoffen. Es war schon immer eine unausgewogene Freundschaft gewesen, in der Mrs Palfrey die treue, brave, unaufregende Schulkameradin war, zu der Lilian nach ihren Scharmützeln immer wieder zurückkehrte – den Überfällen auf die »besten Freundinnen« anderer Mädchen, anschließenden Zerwürfnissen, leidenschaftlichen Schwärmereien für Lehrerinnen, Eifersucht und Verrat. Nach der Schule war sie, abgesehen von den Weihnachtskarten, aus Mrs Palfreys Leben verschwunden; aber sie hatte drei Ehemänner gehabt, wie Mrs Palfrey wusste, und einer davon war immer noch da.

      Eine weitere alte Bekannte aus der Zeit des Auswärtigen Dienstes lebte in Richmond. Das war ziemlich weit von der Cromwell Road entfernt, doch Mrs Palfrey beschloss, sie trotzdem aufzustöbern. Sie schrieb auch ihr und lud sie zum Mittagessen ein – doch die Arme war noch schlechter dran als Mrs Palfrey, sie lag mit gebrochener Hüfte unbeweglich im Bett. Sie schlug allerdings nicht vor, dass Mrs Palfrey sie doch ihrerseits in Richmond besuchen könne. Mrs Palfrey fand, das hätte sie tun sollen, und wäre auch gekommen.

      Danach fiel ihr niemand mehr ein, den sie hätte einladen können. Sie hatte im Claremont ein wenig dazugelernt und beging nicht den Fehler, Mrs Arbuthnot zu erzählen, dass ihre Freundin Lilian vielleicht irgendwann zum Mittagessen kommen würde. Sie fühlte sich mehr und mehr wie die arme Miss Benson.

      Die Zeit verging. Das ließ sich beweisen, obwohl so wenig geschah.

      Im Claremont verbrachte man die Tage einzeln. Man saß an Einzeltischen und ging einzeln spazieren. Der Nachmittagsausflug zur Leihbücherei wurde stets allein unternommen. Mrs Arbuthnot konnte nicht so weit laufen, also ging Mrs Post für sie und brachte fast jedes Mal das falsche Buch mit: Sie verwechselte Elizabeth Bowen mit Marjorie Bowen und konnte sich nie merken, dass es zwei Mannings, zwei Durrells und mehrere Flemings gab. »Sehr freundlich von Ihnen, dass Sie sich die Mühe gemacht haben«, dankte ihr Mrs Arbuthnot dann und legte das Buch beiseite.

      Mrs Palfreys Herz schlug ein wenig höher, als Mrs Arbuthnot – deren übliche Sklavin erkältet war – sie bat, ein Buch für sie zurückzugeben und ihr ein neues mitzubringen. Es war, als wäre sie wieder in der Schule und würde von der Schulsprecherin gebeten, etwas für sie zu erledigen. Sie hatte bloß einen ihrer ziellosen Spaziergänge machen wollen, um den Nachmittag zu verkürzen, und freute sich nun, einen richtigen Anlass dafür zu haben.

      »Irgendetwas von Lord Snow vielleicht«, sagte Mrs Arbuthnot. »Ich ertrage keinen Schund.«

      »Aber wenn Sie es schon gelesen haben …«, setzte Mrs Palfrey nervös an.

      »Ein gutes Buch kann man ruhig zweimal lesen«, gab Mrs Arbuthnot spitz zurück. »Vielmehr sollte man ein gutes Buch sogar zweimal lesen.«

      Mrs Palfrey nahm die Zurechtweisung einigermaßen gefasst hin. Schließlich war Mrs Arbuthnot diejenige, die ihr einen Gefallen tat. Sie brach auf, entschlossen, einen solchen Schatz mitzubringen – den allerneuesten Snow vielleicht –, dass Mrs Post ihre Aufgabe für immer los wäre. Sie wusste, dass sie sich, indem sie so dachte, wie ihre frühere Freundin Lilian benahm, ließ sich aber nicht beirren. (Lilian wäre trotzig gewesen.) Das Claremont war im Grunde wie eine eingeschränkte und ausgetrocknete Schulwelt. Zwar war das Essen besser; allerdings wäre es sonst für Erwachsene auch ungenießbar gewesen.

      Es dämmerte schon, als Mrs Palfrey, triumphierend den neuesten Snow in der Hand, aus der Leihbücherei kam und den Rückweg antrat, von einer ruhigen, inzwischen vertrauten Straße zur anderen. Nieselregen trübte die Lichter und verschlammte die Bürgersteige. Sie war müde und ging langsam dicht an den Grundstückszäunen entlang. Einige Souterrainfenster waren erleuchtet und manche Vorhänge noch nicht zugezogen, sodass sie – auch wenn sie sich ein wenig dafür schämte – in die Zimmer hineinschauen konnte: hier eine triste Küche, dort ein gemütliches Wohnzimmer mit aufgelegter Tischdecke und einem Vogel im Käfig.

      Wie entsetzlich die Venen in ihrem Bein schmerzten; jeder Schritt tat ihr weh. Doch den Nachmittag hatte sie gut genutzt, und nun konnte sie sich bald hinsetzen, einen langen Abend nur noch dasitzen und ausruhen. Den ganzen Tag hätte sie so nicht verbringen können. Durch den Spaziergang war sie aus sich heraus und aus dem Haus gekommen.

      Plötzlich – sie konnte sich später nicht mehr erinnern, wie; ob ihr Fuß umgeknickt oder ob sie auf dem glitschigen Boden ausgerutscht war – stolperte sie, versuchte, sich zu halten, und fiel mit dem grässlichen Geräusch eines schweren, älteren Menschen hin.

      Zuerst empfand sie nur Scham. Sie bot all ihre Kraft auf, um sich zu berappeln, ihre Würde wiederzuerlangen, obwohl die Straße leer war; keine Passanten in der Nähe, die sie dort hätten liegen sehen können. Sie war ganz außer sich – außer Atem – und voller Angst. Jeder Herzschlag mochte ihr letzter sein. Sie zog sich an den Zaunpfählen hoch, lehnte


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