Mrs Palfrey im Claremont. Elizabeth Taylor

Mrs Palfrey im Claremont - Elizabeth Taylor


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nicht.

      »Ich denke, ich begleite Sie nach dem Kaffee hinaus – wenn Sie nichts dagegen haben«, sagte sie. »Es ist sicher nicht sinnvoll, noch einmal in den Aufenthaltsraum zu gehen und womöglich lauter Fragen gestellt zu bekommen.«

      »Nein, wir sollten unser Glück nicht herausfordern.«

      »Und Sie müssen ja auch mit Ihrem Buch vorankommen. Ich will nicht zu viel von Ihrer Zeit beanspruchen.«

      Sie fühlte sich auf einmal erschöpft: freudig gestimmt, aber erschöpft. Sie sehnte sich danach, jetzt allein zu sein, in ihrem Zimmer herumzuhantieren, sich bettfertig zu machen und innerlich den Abend Revue passieren zu lassen.

      »Hier ist Ihr Taschentuch«, sagte sie und nahm den Briefumschlag aus ihrer Handtasche. Er schien verwirrt. »Als ich mir das Knie verletzt habe –«, fügte sie hinzu.

      »Ist es in Ordnung? Ihr Knie, meine ich.« Er steckte den Umschlag ein und blickte sich auf dem Tisch um. Nichts mehr zu essen da. »Na, jetzt fühle ich mich gut für die nächste Woche gerüstet. Es war großartig.«

      »Ich hoffe, Sie kommen einmal wieder«, sagte sie bang.

      Sie sah den zweifelnden Ausdruck auf seinem Gesicht und schaute schnell weg.

      Nachdem sie ihn zur Tür begleitet hatte, ging sie in den Aufenthaltsraum, setzte sich eine Weile hin und wartete darauf, dass die Wirkung des Kaffees nachließ. Mrs Burton und ihr Schwager waren zur Bar zurückgekehrt. Manchmal, wenn er sie zum Lachen gebracht hatte, stieß sie ihn mit dem Ellbogen leicht an. Mr Osmond saß da und starrte vor sich hin, während sich seine Hand auf der Armlehne hob und senkte wie zu einem Musikstück, das nur er hören konnte. Mrs Arbuthnot blätterte missgelaunt die letzten Seiten des neuesten Snow um und knallte dann das Buch zu. »Ich weiß nicht, ob es an mir liegt, aber ich habe den Eindruck, er wird immer schlechter«, sagte sie und dann, etwas direkter, zu Mrs Palfrey: »Ihr Enkel schien sein Essen ja sehr zu genießen.«

      »Er scheint alles zu genießen«, sagte Mrs Palfrey beglückt.

      »Und ist dermaßen um Sie bemüht«, sagte Mrs Post mit wehmütiger Stimme.

      »Er war schon immer sehr liebevoll.«

      »Ein gutaussehender junger Mann.«

      »Ach, er erinnert mich so sehr an meinen Mann. Als wir uns kennenlernten.« Mrs Palfrey erschrak selbst, als sie sich das sagen hörte.

      »Wirklich?«

      »Ja, es ist beinahe unheimlich.«

      »Wie er Sie mit Crackern vollgestopft hat«, sagte Mrs Arbuthnot plötzlich gereizt, außerstande, noch mehr von Mrs Palfreys Selbstzufriedenheit zu ertragen. Sie beugte sich vor und massierte ihr geschwollenes Knie.

      »Ja, er ist ein kleiner Schäker«, sagte Mrs Palfrey.

      »Da er nun endlich aufgetaucht ist, werden wir ihn ja sicher häufiger zu Gesicht bekommen.«

      »Das nehme ich an«, sagte Mrs Palfrey mit (für Mrs Arbuthnot) spürbarem Unbehagen.

      Mrs Post strickte weiter vor sich hin und bewegte dabei stumm die Lippen. Aus irgendeinem Grund hatte sie sich Watte in die Ohren gesteckt. Als sie eine Reihe fertig hatte, sah sie mit glasigem Blick auf und sagte: »Ja, ein nett aussehender junger Mann«, und wandte sich wieder ihrem Muster zu.

      An diesem Abend ging Mrs Palfrey als Erste nach oben.

      Als Ludo nach Hause kam, fror er, denn er hatte keinen Mantel. Er beschloss, sich vor dem Zubettgehen den Luxus eines halbstündigen Feuers zu gönnen, kniete sich vor den Ofen und rieb sich die Hände. Als ihm warm geworden war, griff er nach einem Notizbuch, klappte es auf und fing an zu schreiben. Die Überschrift lautete »Erforschung von Mrs Palfrey«. Eine Zeitlang schrieb er stetig, grübelte, runzelte die Stirn, notierte schließlich: »Sterben lässt man uns hier nicht.« Dann legte er das Buch weg und zog sich aus. Dabei fand er den Briefumschlag in seiner Tasche und öffnete ihn. In dem gewaschenen und gebügelten Taschentuch lagen ein gefalteter Fünfpfundschein und eine kleine Karte. In großer, überraschend theatralischer Handschrift stand dort: »Vielen Dank für Ihre Freundlichkeit.«

      Mrs Palfrey schlief gut und ohne Unterbrechungen, und ihre Lippen waren entspannt, als wäre sie kurz davor zu lächeln.

      Mrs Arbuthnot dagegen gab die Hoffnung auf Schlaf nach der Hälfte der Nacht auf. Ihre steifen Glieder waren eine Qual für sie, und jeder Versuch, eine bequemere Lage zu finden, schmerzte. Sie schaltete das Licht ein und beschloss, den C. P. Snow noch einmal in Angriff zu nehmen. Aber sie hatte den Faden verloren und nicht genügend Geduld, ihn wieder aufzugreifen. Sie verübelte es Mrs Palfrey, das Buch ausgesucht, und dem Autor, es geschrieben zu haben.

      Im Bett sitzend, blickte sie sich im Zimmer um. Es hatte den gleichen Zuschnitt – kleinen Zuschnitt – wie Mrs Palfreys. Ihr Mann hätte sich beim Management beschwert, und das hätte Wirkung gezeigt. Früher war ihr immer bang gewesen, wenn er das tat, denn sie selbst hatte dazu geneigt, alles klaglos hinzunehmen. Inzwischen beschwerte sie sich unablässig, und es zeigte überhaupt keine Wirkung. Mit jener blitzartigen, scheußlichen Klarheit, wie sie nur um drei Uhr nachts möglich ist, erkannte sie, dass sie sich ausschließlich bei Untergeordneten beschwerte, bei ihresgleichen, die nichts auszurichten vermochten. Ihr Mann war immer direkt zur Quelle gegangen, wie sie damals gern sagte. Sie hatte Angst vor den Quellen. Ihr Mann hatte sie – bei all seiner Herumkommandiererei – vergleichsweise schlecht versorgt zurückgelassen, und die Quelle interessierte sich allein dafür, dass das Hotel rentabel blieb. Sie steckte alte Frauen zu einem Preis, den diese sich gerade noch leisten konnten, in die schlechtesten Zimmer; denn wer nur eine Nacht blieb (zusätzliche Wäschekosten), hätte einen Aufstand gemacht.

      Mrs Arbuthnot unterwarf sich der Quelle noch aus einem anderen Grund. Die Zeit, da sie mit ihren blockierten und geschwollenen Gelenken und all dem Schmerz nicht mehr allein zurechtkommen würde, rückte näher, und das wusste sie. Das Claremont war das letzte bisschen Freiheit, das ihr blieb, und sie wollte es so lange wie möglich behalten. Sie kannte den Ablauf, sah ihn voraus. Ihre vollständige Invalidität; ein Pflegeheim, das mehr kostete als das Claremont und wo sie die ganze Zeit im Bett bleiben müsste, weil es für das Pflegepersonal so bequemer war. Oder der Umzug zu einer ihrer Schwestern, die sie nicht haben wollten. Oder – am Ende – die geriatrische Station irgendeines Krankenhauses.

      Hier kann ich nicht sterben, dachte sie, mitten in dieser Nacht. Und bis dahin dauert es vielleicht noch Jahre. Arthritis brachte einen nicht um. Man konnte damit weiter und weiter leben, eine hoffnungslose Last für andere; am Ende sinkender Komfort wegen steigender Preise. Für sie war das Claremont gerade so bezahlbar. Ohne Frage würde es für sie abwärts gehen.

      Und nun begann sie, äußerst verbittert an Mrs Palfrey zu denken – wie viel Wein sie getrunken hatte, und ihre geröteten Wangen, und der junge Mann, dem sie geräucherten Lachs spendiert hatte, die Portion zu fünf Pfund Sixpence. Sie hatten sich über den Tisch zueinander vorgebeugt, einander ins Gesicht geschaut wie ein Liebespaar. Später, als er ein Stück Brot butterte – er aß so viel Butter, dass der Ober übellaunig geworden war –, hatte er gesagt (Mrs Arbuthnot hatte die Ohren gespitzt): »Mutter ist eine Schlampe, und das ist noch milde ausgedrückt.« »So kann ich dich aber nicht über sie reden lassen«, hatte Mrs Palfrey erwidert – und im nächsten Moment gelacht, als wäre es nicht ihre eigene Tochter, die sie verteidigen müsste. Mrs Arbuthnot hatte ein durch Bosheit geschärftes Gehör und saß nicht weit entfernt; doch obwohl ihr vom Lauschen der Kopf wehtat, war dies alles, was sie mitbekommen hatte.

      Mrs Palfrey ist ein Pferd, auf das keiner gewettet hat, dachte sie. Bei diesem unbeabsichtigten kleinen Wortspiel lehnte sie sich wieder ans Kissen, und ihr Lächeln geriet zu einer Grimasse. »Sie sind ein Pferd, auf das keiner gewettet hat, Mrs Palfrey«, werde ich zu ihr sagen. Als sie den Kopf zur Seite drehte, um auf die Uhr zu schauen, knirschte es in ihrem Nacken wie Kristallzucker. Und nun musste sie auch noch ins Bad, den Flur hinunter. So oft in der Nacht war sie gezwungen, die Kraft für diese Tortur aufzubringen. Sie schob es hinaus, döste und schlief ein.

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