Mrs Palfrey im Claremont. Elizabeth Taylor

Mrs Palfrey im Claremont - Elizabeth Taylor


Скачать книгу
sie schließlich in den Aufenthaltsraum kam, hatte Mrs Burton bereits die Glocke geläutet, und Mrs Arbuthnot wartete ungeduldig auf ihr Buch aus der Leihbücherei.

      »Ich dachte schon, Sie wären verlorengegangen«, sagte sie.

      »Ich bin leider auf dem Rückweg gestürzt und musste mein Bein säubern.«

      »Es sieht so aus, als wäre mein Buch ebenfalls gestürzt.«

      »Verzeihen Sie. Ich habe es fallen lassen. Aber ich habe versucht, den Schmutz abzuwischen.«

      »Nun, es war trotzdem sehr freundlich von Ihnen. Sind Sie denn jetzt wiederhergestellt?« Mrs Arbuthnot fragte es beiläufig, während sie in dem Buch zu blättern begann.

      »Nur ein wenig steif. Ich denke, ich werde mir dennoch ein Glas Sherry vor dem Essen genehmigen.«

      Sie humpelte zur Bar, und für Mrs Arbuthnot sah es aus, als ginge sie zu ihrer selbstgewählten Verdammnis.

      Als er die Spaghetti aufgegessen hatte, nahm Ludo seinen Anzug von der Rückseite der Tür und machte sich auf den Weg zum Waschsalon. Dort angekommen, setzte er sich und beschrieb in dem harschen Licht einen jungen Mann, der abends allein im Waschsalon sitzt. Manchmal blickte er finster zu seinem Anzug, der sich in der Trockenreinigungsmaschine langsam im Kreis drehte, sodass es schien, als ob sie ihn zu verdauen versuchte und, wäre es möglich gewesen, wieder ausgespuckt hätte.

      Am Samstagabend zog Mrs Palfrey ihr bestes perlenbesetztes Kleid an und besprühte ihr Taschentuch mit Lavendelwasser. Bevor sie nach unten ging, nahm sie einen verschlossenen Briefumschlag aus der Schublade und steckte ihn in ihre Handtasche. Obwohl ihre Bewegungen langsam und bedächtig waren, fühlte sie sich unruhig und bang.

      Am Donnerstagabend hatte sie dem Ober – in Hörweite von Mrs Arbuthnot – gesagt, sie erwarte am Samstag einen Gast zum Essen.

      »Dann kommt Ihr Enkel also doch endlich zu Besuch«, hatte Mrs Arbuthnot auf ihrem langsamen Weg an Mrs Palfreys Tisch vorbei gesagt, und aus irgendeinem Grund, nach dem sie später noch suchte, ließ Mrs Palfrey sie wortlos weiterziehen.

      Zum ersten Mal, seit sie Witwe geworden war, ließ sie sich zu einer Unwahrheit hinreißen. Ja, im Grunde hatte sie seit der frühen Kindheit nicht gelogen, es sei denn für ihren Mann – um Arthur Cocktailpartys zu ersparen, die er hasste, oder unverschämte Einheimische abzuwimmeln, wenn er müde war. Nun versuchte sie – durch Weglassen –, mit einer aus ihrer Sicht faustdicken Lüge davonzukommen, und fragte sich, ob sie oder Ludo dem gewachsen sein würden.

      Immerhin war er ja gewillt gewesen, dabei mitzumachen; hatte keinerlei Skrupel gehabt, wie sie selbst; hatte das Ganze eher als Jux betrachtet.

      Sie hatte ihn in der Kassenhalle von Harrods aufgespürt. Dort war es herrlich warm – und es war ein bitterkalter, böiger Nachmittag –, und er saß zurückgelehnt in seinem bequemen Sessel und schrieb emsig vor sich hin, ohne die ermatteten oder angespannten Leute in den Sesseln um sich herum weiter wahrzunehmen. Mrs Palfrey näherte sich ihm nervös, blieb vor ihm stehen und hüstelte. Als er den Kopf hob, schienen seine Augen noch eine andere Welt zu sehen, eine innere Welt, in der er allein gewesen war.

      »Entschuldigen Sie, dass ich Sie störe«, sagte Mrs Palfrey, von seinem benommenen Blick nur noch mehr verunsichert.

      Daraufhin stand er, mit einem Fächer aus Zetteln in der Hand, auf. Er lächelte.

      Neben ihm war ein Sessel frei, und sie setzte sich und begann, ihn mit leiser, zaghafter Stimme in ihren Plan einzuweihen. Er verstand schnell, worum es ging, und ergriff Partei für sie gegen Mrs Arbuthnot und ihre gefürchtete Herablassung. »Ich habe sie wortlos weitergehen lassen«, sagte Mrs Palfrey. »Und nun ist es zu spät.« Sie ließ den Blick über die Kunden in den anderen Sesseln schweifen und war tief beschämt über das, was sie ihm zu sagen gehabt hatte, und doch war es nichts gegen die Demütigung, die Mrs Arbuthnot ihr zugefügt hätte. Lediglich neben Ludo zu sitzen, erleichterte sie schon ein wenig.

      Er hatte ihr mit gespannter Miene zugehört, als traute er seinen Ohren nicht: Seine Augenbrauen waren hochgeschossen und dort geblieben. Er war fast schön, dachte sie, und der Gedanke erschreckte sie derart, dass ihr Blick von seinem Gesicht wegflog und sich auf einen seiner Schuhe heftete, der mit flappender dünner Sohle vor und zurück schwang.

      »Wir bleiben ganz unter uns«, versprach sie. »Es ist nur für den Fall, dass ich Sie vorstellen muss – im Vorübergehen, wissen Sie. Es sind ziemlich neugierige Leute. Ist das zu viel verlangt? Oder muss ich zurückgehen und Mrs Arbuthnot eine Erklärung liefern?«

      »Um Gottes willen, nein! Ich werde mich endlos amüsieren!«

      »Um Viertel nach sieben dann. Ich werde im Aufenthaltsraum sitzen. Wir trinken ein Glas Sherry vor dem Essen.« Sie errötete ein wenig angesichts ihrer Kultiviertheit, der Idee, diesen jungen Mann einzuladen, und ihrer gemeinsamen Schuld. Sie erhob sich und streckte die Hand aus. Wieder packte er seine Zettel zusammen und stand auf. »Ich werde Sie Desmond nennen«, sagte sie.

      »Himmel!«, war alles, was er darauf erwidert hatte.

      Als Mrs Palfrey durch den Aufenthaltsraum zur Bar ging, spürte sie, dass sie beobachtet wurde. Aber nicht von Mrs Burton, die wieder mit ihrem Schwager zusammensaß, lachte und trank und sonst niemanden beachtete.

      Die Schuhe machten Mrs Palfrey Sorgen. Den anständigen dunklen Anzug hatte sie ja in Ludos Souterrain-Zimmer hängen sehen, in der Hinsicht war sie ganz beruhigt. Aber diese alten Schuhe, die er bei Harrods getragen hatte, mit der losen Sohle … angenommen, er hatte keine anderen.

      Ihre Ängste bestätigten sich: Er hatte keine anderen. Er kam in den Aufenthaltsraum und fiel beinahe der Länge nach hin, weil besagte lose Sohle sich zurückbog, als sie den dicken Teppich berührte.

      Seine Contenance war erstaunlich. Er lenkte die Blicke aller Anwesenden von seinen Füßen weg, indem er mit ausgebreiteten Armen auf Mrs Palfrey zuging. Sie geriet in Panik, fürchtete, er würde es mit seiner Enkelrolle übertreiben; doch er kam mit genau dem richtigen Maß an Zuneigung, Vertrautheit und Respekt zu ihr und küsste sie leicht auf die Wange. Gleichzeitig nahm er die seltsame, an ein welkes Blütenblatt erinnernde Weichheit ihrer Haut wahr und speicherte diese Beobachtung für den späteren Gebrauch. Wie auch den Altersgeruch, der zu komplex war, als dass er ihn schon hätte beschreiben können.

      Mrs Palfrey, die ihn nicht weiter auf diesem risikobehafteten Teppich herumlaufen lassen wollte, stand selbst auf und drückte auf den Klingelknopf. Als sie zu ihrem Sessel zurückkam, bat sie ihn, sich zu setzen.

      »Was möchtest du trinken, Desmond?«

      »Was immer unter den Umständen angebracht ist«, sagte er mit leiser Stimme; dann lehnte er sich zu ihr vor und fragte: »Wer ist der alte Knacker da drüben, der mich wie verrückt anstarrt?«

      »Später«, sagte Mrs Palfrey und mied Mr Osmonds Blick.

      Es war ein voller Erfolg. Beim Essen würden sie so viel zu bereden haben. Sie hatte Befürchtungen deswegen gehabt; dass er missmutig und zu jung sein und das Ganze bedauern würde; doch nun stand sie unter dem Einfluss von Charme – eine neue Zutat in ihrem Leben. Die ungeflickten Schuhe waren ein Spleen. Sie strahlte.

      »Würden Sie uns zwei Gläser Sherry bringen, Antonio« sagte sie zum Ober. »Medium dry, denke ich. Einverstanden, Desmond?«

      Ludo neigte den Kopf.

      Diese Worte hatte Mrs Palfrey vorhin, als sie sich fertig machte und in ihrem Zimmer hin und her ging, leise vor sich hingesprochen: »Medium dry« hatte sie mit weltgewandter Miene gesagt und sich selbst im Spiegel betrachtet, während sie die größte Perle genau in die Mitte ihrer Kette rückte.

      »Und dürfte ich um die Speisekarte und die Weinkarte bitten?«, fügte sie hinzu, wie sie es ebenfalls geprobt hatte.

      Der Ober verzog seinen schmalen Mund seitwärts, was Erstaunen ausdrücken sollte. In diesem Hotel schauten die Gäste beim Fahrstuhl auf die Karte oder warteten im Restaurant still und


Скачать книгу