Mrs Palfrey im Claremont. Elizabeth Taylor

Mrs Palfrey im Claremont - Elizabeth Taylor


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wahr, dass sich auf dem Grundstück jenseits des Zauns eine Tür öffnete. Licht strömte über die nassen Steine, die Farne und eine Mülltonne, und ein junger Mann kam eilig die Treppe herauf. Er nahm sie in die Arme und drückte sie an sich, wie ein Liebhaber und ohne ein Wort, und eine wunderbare Ergebenheit breitete sich über ihren Schmerz, und sie überließ sich ihm mit williger Dankbarkeit.

      Sie spürte Blut an ihrem Bein hinunterrinnen, wagte aber nicht hinzuschauen.

      Nach einer Weile lehnte der junge Mann sie an den Zaun, um ihre Handtasche, das Buch aus der Leihbücherei und ihren Spazierstock vom Boden aufzuheben; dann legte er ihr den Arm um die Schultern – sie war größer als er – und half ihr langsam die Stufen hinunter. Sie ging mit, ohne zu protestieren, denn ihr blieb ja nichts anderes übrig, und sie war froh, von der Straße weggebracht und nicht womöglich am Zaun zusammengesackt, ganz aufgelöst und durcheinander von irgendwem gesehen zu werden. Wenn er ihr ein Glas Wasser geben würde, könnte sie eine ihrer Pillen aus der Handtasche nehmen, sich sammeln und einen Plan fassen.

      »Entschuldigen Sie!«, keuchte sie, als sie sich drinnen hingesetzt hatte. Ihre Lippen, ihr ganzes Gesicht fühlten sich taub und blutleer an.

      »Sprechen Sie lieber noch nicht«, sagte er. Er ging weg und kam mit einer Tasse Wasser wieder, und es war, als wären keine Worte nötig. Sie zeigte auf ihre Handtasche, und er brachte sie ihr, öffnete sie und hielt sie, vor ihr kniend, für sie auf. Als er ihren zerrissenen Strumpf und das blutende Bein sah, ging er erneut weg und kam mit einer Schüssel warmen Wassers und einem schmutzigen Handtuch zurück. Beim Anblick des Handtuchs erschrak sie, doch dieser Schreck kam zu kurz nach dem anderen, um ihr viel auszumachen, und so ergab sie sich. Sie war jetzt ganz in den Händen des jungen Mannes und unterwarf sich ihm gern. Deshalb fand sie es auch gar nicht empörend, als er den Gummibund ihrer Unterhose über dem Strumpfband anhob und den Strumpf löste. Überaus sanft säuberte er ihr das Knie und betupfte es mit dem schmutzigen Handtuch. Sie spürte keinen Schmerz. Ihr Knie schien nicht zu ihr zu gehören. Er nahm ein Taschentuch aus einer Schublade und band es ihr ums Knie, zog den zerrissenen Strumpf wieder hoch, hockte sich dann hin und sah lächelnd zu ihr hoch.

      »Ich könnte Ihnen eine Tasse Tee machen«, sagte er.

      »Ich kann Ihnen unmöglich so viel Mühe bereiten.«

      Er schien darüber nachzudenken und sagte dann: »Viel Mühe wäre es nicht.«

      »Sie waren so liebenswürdig.«

      »Ja, ich mache Tee«, sagte er, plötzlich entschlossen. »Ich heiße übrigens Ludo. Ludovic Myers. Unglaublich, finden Sie nicht?«

      »Und ich heiße Palfrey – Laura Palfrey«, sagte sie; sie fühlte sich schon um einiges besser.

      »Dann haben wir ja beide lächerliche Namen«, sagte er und stand auf, um den Kessel zu füllen.

      Noch nie im Leben hatte sie Laura Palfrey für einen lächerlichen Namen gehalten, und doch war sie kein bisschen verärgert. Sie lächelte sogar.

      »Wie weit haben Sie es noch?«, fragte er.

      »Bis zur Cromwell Road, dem Claremont Hotel. Kennen Sie es?«

      »Nein.« Der Gedanke, er könnte das Claremont Hotel kennen, schien ihn zu belustigen. »Ich kann Ihnen ein Taxi rufen, wenn Sie möchten«, sagte er. »Es dürfte von hier aus nicht allzu viel kosten.«

      »Da wäre ich Ihnen sehr dankbar«, sagte sie; sie fühlte sich erschöpft.

      Erst jetzt war sie in der Lage, ihre Umgebung wahrzunehmen – ein nackter Tisch mit Büchern, ein auf kleiner Flamme brennender Gasofen, ein an der Rückseite der Tür hängender dunkler Anzug. Die Vorhänge vor dem Fenster trafen nicht genau aufeinander und wurden von zwei großen Sicherheitsnadeln zusammengehalten.

      »Es ist ein Glück, dass ich zu Hause war«, sagte der junge Mann – Ludo. »Ich war eben von der Arbeit zurückgekommen. Zog gerade die Vorhänge zu.«

      »Wo arbeiten Sie denn?«, fragte sie, bemüht darum, Konversation zu machen.

      »Bei Harrods.«

      Auf der Gaskochstelle begann der Kessel zu pfeifen, und Ludo holte einen Zinnbecher hervor, mit einem Union Jack darauf. Die jungen Leute heutzutage hatten eine Leidenschaft für den Union Jack, stellte Mrs Palfrey immer wieder voller Erstaunen fest. All die Mädchen mit den langen Haaren und langen Röcken schienen Union-Jack-Tragetaschen zu haben. Sie fragte sich, ob das angemessen war – selbst wenn sie es vielleicht ernst meinten.

      »In welcher Abteilung von Harrods denn?«, fragte sie.

      »Nein, nein, ich arbeite nicht für Harrods, sondern bei Harrods. In der Kassenhalle. Ich nehme mein Schreibzeug und ein paar Sandwiches mit. Es ist schön warm dort, und die Sessel sind so gemütlich. Außerdem muss ich dann diesen Gasofen nicht anzünden, der ein Geldfresser ist. Milch?« Er hielt eine Flasche hoch, und sie nickte. Die Flasche war halb voll und hatte geronnene Ablagerungen am Hals.

      »Sind Sie Schriftsteller?«, fragte sie.

      »Na ja, ich versuche zur Zeit, einer zu sein, auch wenn ich durchaus schon andere Jobs gehabt habe.« Höflich, aber auch widerstrebend, wie sie merkte, drehte er das Feuer höher und blickte, die Hände um seinen Becher gelegt, in die Flammen. Was für Wimpern!, dachte Mrs Palfrey – sie warfen lange Schatten auf seine Wangenknochen, und als er sich zu ihr wandte und sie anlächelte, kam ihr seine Miene spitzbübisch vor, sein Lächeln etwas spöttisch; seine Augen verengten sich, als er sie so musterte, fast als wäre ihm gerade ein Streich eingefallen, den er ihr spielen könnte. Der Ausdruck »diebische Freude« kam ihr in den Sinn. Ja, er hatte etwas Diebisches an sich, und sie registrierte es zugleich fasziniert und beklommen.

      »Ich halte Sie vom Schreiben ab«, sagte sie und stellte ihren Becher auf den Tisch. Ihr Knie begann zu schmerzen, und sie machte sich nun doch Sorgen wegen des schmutzigen Handtuchs.

      »Ich habe den ganzen Tag gearbeitet. Das habe ich Ihnen doch erzählt, Mrs Palfrey, Ma’am«, sagte er. »Jetzt werde ich nur noch ein bisschen lesen und mir eine Dose Irgendwas aufmachen.«

      Anscheinend war er so knapp bei Kasse und so hungrig, wie sie es sich von ihrem Enkelsohn ersehnt hatte.

      »Sie waren so freundlich zu mir«, sagte sie. »Aber ich denke, ich sollte mich jetzt auf den Weg machen.« Steif bewegte sie ihr Bein.

      »Dann laufe ich schnell um die Ecke und pfeife ein Taxi heran.«

      Er trank seinen Becher aus und verschwand. Sie hörte ihn die Stufen hinauf und den Weg vor dem Haus entlangrennen. Seine leiser werdenden Schritte noch im Ohr, lehnte sie sich zurück, dachte an ihr Abenteuer zurück und stellte sich dann vor, wie er, nachdem sie gegangen wäre, das Feuer herunterdrehen und sich eine Dose Irgendwas aufmachen würde.

      Nicht viel später hörte sie draußen das Taxi vorfahren und Ludo die Treppe herunterkommen. Sie hatte sich ihre Worte schon zurechtgelegt. »Ich würde mich sehr freuen, wenn Sie einmal im Claremont mit mir zu Abend essen würden. Ich möchte Ihnen Ihre Freundlichkeit gern auf irgendeine Weise vergelten.«

      Der Vorschlag schien ihn einigermaßen zu erstaunen, ja zu erschrecken; dann kehrte der Ausdruck von diebischer Freude in seine Augen zurück.

      »Das wäre ganz großartig«, sagte er.

      »Würde es Ihnen am Samstag passen? Samstags ist das Essen meist um einiges besser.«

      »Samstag wäre wunderbar.«

      Er half ihr die Stufen hinauf und setzte sie ins Taxi, und als es abgefahren war, ging er in sein Zimmer zurück und schrieb, über den Tisch gebeugt, in sein Notizbuch: »flauschige graue Unterhosen … Gummiband … traubenfarbene Venen am Bein … Geruch nach Lavendelwasser (irg!) … große Flecken auf glänzenden Handrücken und auch da Venen – waagerechte Falten auf den Händen.«

      Dann drehte er das Feuer herunter und machte sich eine Dose Spaghetti auf.

      Mrs Palfrey gelangte zum Fahrstuhl, ohne jemandem zu begegnen. Sie fühlte sich elend und schwach. In ihrem Zimmer zog sie das Taschentuch


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