Lange Schatten. Louise Penny

Lange Schatten - Louise Penny


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      Louise Penny

      Lange Schatten

      Der vierte Fall für Gamache

      Roman

      Aus dem kanadischen Englischen von Andrea Stumpf und Gabriele Werbeck

      Kampa

      Für meine Eltern, in liebender Erinnerung

       Prolog

      Vor mehr als einem Jahrhundert entdeckten die Geld- magnaten den Lac Massawippi. Sie kamen eigens von Montréal, Boston, New York angereist und drangen tief in die kanadischen Wälder vor, wo sie ein großes Jagdhaus errichteten. Wobei sie sich natürlich nicht selbst die Hände schmutzig machten. Zumindest nicht hier und nicht mit ehrlicher Arbeit. Nein, diese Leute heuerten Männer mit Namen wie Zoétique, Télesphore und Honoré an, damit sie die mächtigen, uralten Bäume umschlugen. Zuerst sträubten sich die Québecer, lebten sie doch seit Urzeiten in diesen Wäldern. Sie scheuten sich, etwas so Schönes zu zerstören, und einige von ihnen, die mehr Weitblick hatten, wussten, dass das Ende gekommen war. Aber alldem ließ sich mit Geld abhelfen, und nach und nach wich der Wald, und an seiner statt erhob sich das herrliche Manoir Bellechasse. Nachdem die Männer die mächtigen Stämme gefällt, entrindet und über Monate immer wieder gedreht hatten, damit sie gleichmäßig trockneten, wuchteten sie sie schließlich aufeinander. Der Bau eines solchen Hauses war eine hohe Kunst. Wobei die Männer mit den scharfen Augen und schwieligen Händen keineswegs vollkommene Proportionen im Sinn hatten, vielmehr wussten sie, dass die Bewohner des Hauses dem ersten Winter zum Opfer fallen würden, wenn sie die Stämme nicht sorgsam auswählten. Ein coureur du bois konnte seinen Blick Stunden über den entrindeten Stamm eines mächtigen Baums wandern lassen, so als wolle er ihn entziffern. Er ging immer wieder um ihn herum, setzte sich auf einen Stumpf, stopfte sich seine Pfeife und starrte ihn an, bis er endlich wusste, welchen Platz der Baum von nun an einnehmen würde.

      Es dauerte Jahre, bis das Jagdhaus fertiggestellt war. Wie ein Blitzableiter stand der letzte Mann auf dem herrlichen Kupferdach und überblickte aus einer Höhe, auf die er nie wieder gelangen würde, den Wald und den einsamen, verwunschenen See. Wenn die Augen dieses Mannes weit genug hätten blicken können, dann hätte er etwas Schreckliches näher kommen gesehen, wie ein drohendes Gewitter. Das nicht nur auf das Haus, sondern genau auf die Stelle zukam, wo er auf dem schimmernden Kupferdach stand. An ebendieser Stelle würde sich etwas Grauenvolles zutragen.

      Er hatte früher schon Kupferdächer gedeckt, immer auf dieselbe Weise. An diesem Tag aber war er noch einmal auf das Dach geklettert, das alle für fertig gehalten hatten, und hatte über die gesamte Länge des Firstes eine Art Kappe gesetzt. Er hatte keine Ahnung, warum, fand nur, dass es gut aussah und irgendwie passte. Außerdem hatte er genug Kupfer übrig. Fortan hatte er diese Art First immer wieder für große Gebäude in der Gegend benutzt, die mehr und mehr Leute anzog. Aber hier machte er es zum ersten Mal.

      Nach dem letzten Hammerschlag stieg er langsam und bedächtig die Leiter hinab.

      Dann paddelten die Männer davon, die Herzen schwer, aber die Taschen voll Geld. Als sie noch einmal zurücksahen, dachten die Phantasiebegabteren unter ihnen, dass sie etwas gebaut hatten, das wie der Wald aussah, nur war er widernatürlicherweise zur Seite gekippt.

      Von Anfang an haftete dem Manoir Bellechasse etwas Widernatürliches an. Mit den golden schimmernden Stämmen war es von überwältigender Schönheit. Es bestand aus Holz und Flechtwerk und stand nah am Ufer. So wie die Geldmagnaten über alles andere herrschten, herrschte es über den See. Daran konnten sie offenbar nichts ändern.

      Einmal im Jahr nun verließen Männer mit Namen wie Andrew, Douglas oder Charles ihre Eisenbahn- oder Whiskey-Imperien, tauschten ihre Gamaschen gegen weiche Ledermokassins und fuhren mit dem Kanu zu dem Haus am Ufer des einsam gelegenen Sees. Sie waren es wieder einmal müde, Geld zu scheffeln, und suchten für kurze Zeit Ablenkung.

      Das Manoir Bellechasse war aus einem einzigen Grund geplant und gebaut worden. Damit diese Männer töten konnten.

      Es war eine nette Abwechslung.

      Jahr um Jahr wich die Wildnis weiter zurück. Die Füchse und Hirsche, die Elche und Bären, all die wilden Tiere, die die Geldmagnaten jagten, verkrochen sich tiefer in die Wälder. Auch die Abinaki, die die Geldmagnaten häufig zu dem großen Jagdhaus gepaddelt hatten, hatten sich schließlich zurückgezogen. Siedlungen und Dörfer schossen wie Pilze aus dem Boden. Großstädter entdeckten die nahe gelegenen Seen und ließen sich Wochenenddomizile an deren Ufern bauen.

      Aber das Bellechasse überdauerte. Es wechselte die Besitzer, und nach und nach verschwanden die erschreckt dreinblickenden ausgestopften Köpfe vor langer Zeit erlegter Hirsche und Elche und sogar des einen oder anderen Pumas von den Wänden und wanderten auf den Dachboden des Jagdhauses.

      So, wie das Vermögen der ersten Besitzer des Jagdhauses zusammenschrumpfte, verlor das Haus an Glanz. Lange Jahre lag es verlassen da, für eine einzelne Familie war es viel zu groß und für ein Hotel zu abgelegen. Gerade als der Wald beschlossen hatte, das Anwesen zurückzuerobern, wurde es aufgekauft. Eine Straße wurde gebaut, Vorhänge aufgehängt, Spinnen, Käfer und Eulen daraus verjagt und zahlende Gäste angelockt. Das Manoir Bellechasse wurde eines der elegantesten Hotels von ganz Québec.

      Aber auch wenn sich im Laufe eines Jahrhunderts der Lac Massawippi verändert hatte, Québec und Kanada, ja, im Grunde alles sich verändert hatte, war eines gleich geblieben.

      Die Geldmagnaten waren zurück. Sie waren erneut ins Manoir Bellechasse gekommen, um zu töten.

      1

      Zu Beginn des Sommers fielen die Gäste in dem einsamen Haus am See ein, herbeizitiert von identischen Einladungen auf edlem Papier in Umschlägen, die von der allzu bekannten krakeligen Handschrift wie von einem Spinnennetz überzogen waren. Das schwere Bütten war durch die Briefschlitze herrschaftlicher Häuser in Vancouver und Toronto und eines bescheidenen kleinen Cottages in Three Pines geworfen worden und mit einem Plumps auf den Dielen gelandet.

      Der Briefträger hatte sich Zeit gelassen, als er den Brief in seiner Tasche durch das kleine Dorf in Québec getragen hatte. Er sagte sich, dass es keinen Sinn hatte, sich bei dieser Hitze zu verausgaben, und er blieb stehen und nahm den Hut ab, um sich den Schweiß von der Stirn zu wischen. Gewerkschaftsvorschrift. Aber der eigentliche Grund für seine Langsamkeit war nicht die stechende Sonne, es war etwas ganz Persönliches. In Three Pines trödelte er immer. Er spazierte langsam an den Staudenbeeten mit den Rosen, den Lilien und dem Fingerhut vorbei, der sich stolz in die Höhe reckte. Mit den Kindern suchte er den Teich auf dem Dorfanger nach Fröschen ab. Er setzte sich auf warme Natursteinmauern und sah dem Treiben in dem alten Dorf zu. Das verlängerte seinen Arbeitstag um Stunden, und er war stets der letzte Austräger, der zurück auf das Hauptpostamt kam. Die Kollegen machten sich deswegen über ihn lustig, und wahrscheinlich war das auch der Grund, dachte er, warum man ihn bislang noch nicht befördert hatte. Seit mehr als zwanzig Jahren ließ er sich nun Zeit. Statt sich zu beeilen, schlenderte er durch Three Pines und redete mit den Leuten, die ihre Hunde spazieren führten, oder er gesellte sich auf eine Limonade oder einen Eistee vor dem Bistro zu ihnen. Oder, im Winter, auf einen Milchkaffee vor dem knisternden Feuer im Kamin. Manchmal kamen die Dorfbewohner vorbei, wenn er im Bistro zu Mittag aß, holten sich ihre Post bei ihm ab und plauderten kurz mit ihm. Er brachte Neuigkeiten aus den anderen Dörfern, die auf seiner Route lagen, so wie ein fahrender Sänger im Mittelalter Neuigkeiten über Pest, Kriege oder Sturmfluten aus fernen Gefilden gebracht hatte. So etwas gab es hier, in diesem kleinen friedlichen Dorf, nie. In seiner Vorstellung war Three Pines, in ein Tal geschmiegt und von dichten Wäldern umgeben, von der Außenwelt abgeschnitten. Diesen Eindruck machte es jedenfalls. Es verschaffte einem eine Atempause.

      So kam es, dass er sich immer Zeit ließ, wie auch an diesem Tag, an dem er einen Packen Umschläge in seiner schweißnassen Hand hielt und hoffte, dass er das schöne dicke Papier des zuoberst liegenden Briefs nicht ruinierte. Dann fiel sein Blick auf die Handschrift, und er ging noch ein wenig langsamer. Nach so vielen Jahren als Briefträger wusste er, dass er nicht nur Briefe überbrachte. Seine Route war gesäumt von Bomben, die er in Briefkästen und durch Briefschlitze geworfen hatte. Wundervolle Nachrichten: die Geburt eines Kindes, ein Lottogewinn,


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