EMOTION CACHING. Heike Vullriede
und legte den Edding auf den Tisch. »Wie lange musst du den Gips tragen?«
Sie betrachtete sein peinliches Gekritzel auf ihrem Arm und beschloss, bei Gelegenheit einen neuen bunten Verband darüber zu wickeln. »Wahrscheinlich drei Wochen, danach gibt es eine Orthese.«
»Dann ist ein Ausflug zum Kletterpütt wohl vorerst tabu.«
»Ja, leider – wochenlange Langeweile bahnt sich an. Was machen wir denn da?«
Nico zuckte mit den Schultern. »Auch keine Idee, außer unsere Filmerei. Paintball fällt flach, und Geocaching scheint für dich nun auch gestrichen zu sein. Du musst es dir ja mit den Verstecken immer besonders schwer machen.«
»Einfach kann doch jeder! Zumindest ist dieser Knochenbruch eine schöne Ausrede, nicht gerade jetzt ein Freiwilliges Soziales Jahr im Altenheim abzuknechten.«
»Wo ist dein Problem?« Nico grinste von einem Ohr zum anderen. »Während du klapprige alte Männer zum Sitztanz schleppst, kannst du doch wunderbar von krassen Outdoor-Abenteuern träumen, oder?«
Kim verzog den Mund. »Oh Mann, also wenn so unser großartiges Erwachsenenleben beginnt, das uns die ganze Welt zu Füßen legen soll? Im Altenheim? … So eine Fernreise, das wär schon was. Trail-Running im Himalaja … das wär mal ein Abenteuer. Obwohl, was ist schon wirklich abenteuerlich? Mir ist noch nichts untergekommen, das mich wirklich an die Grenzen gebracht hätte.«
»Und was war mit Buildering, S-Bahn-Surfen, mit sechzig Sachen longboarden …?«
»Ich weiß, ich habe bestimmt schon alles probiert.«
»Darum bist du auch das coolste Mädchen in der Gegend – mindestens!«
»Aber am Ende ist doch alles immer gleich öde, oder? Irgendwie fehlt mir was … der richtige Kick eben. Ich spür' da gar nichts bei. Das müsste mich doch total aufregen … manchmal denke ich, ich bin emotional so gut wie tot.«
»Also komm, als du gestern den Hang im Wald runtergesaust bist, hast du garantiert was gespürt.«
»So? Was denn? Eher den Schmerz danach.«
»Na was man so spürt, bevor was passiert – ein flaues Gefühl im Magen, Angst und einen Adrenalinstoß – das große Zittern, nachdem alles vorüber ist …«
Sie überlegte. Hatte sie das? »Eigentlich nicht.«
»Nicht mal ein bisschen?«
»Gut, da oben machte ich mir Sorgen, wie ich ohne Knochenbrüche runterkommen könnte, was ja leider nicht geklappt hat. Für einen Moment in der Felswand war mir mulmig zumute. Aber nur kurz. Das war es dann auch. Mir ging es mehr darum, dass mir diese beiden Alten nicht meine Notlage anmerkten. Ich würde das nicht als abenteuerliches Erlebnis oder gar Angst verbuchen.«
»Echt jetzt? Ich meine, mir kannst du es doch sagen.« Ungläubig runzelte er die Stirn in kleine gleichmäßige Denkwellen, die überhaupt nicht zu ihm passten. »Komm, gib es zu. Du hattest Angst und wärst froh gewesen, wenn einer von uns dabei gewesen wäre.«
Er sah erwartungsvoll aus.
Was wusste Nico schon von ihren Gefühlen? Woher sollte er wissen, wie kalt sie all das tatsächlich ließ – wie einfach es war, die unerschrockene und abgebrühte Kim zu sein, die selbst den Kerlen etwas vormachte. Das war so, als führe man täglich Achterbahn und stiege dann auf eine Rutsche um. Man stumpft ab. Der Kick, das Kribbeln, bleibt auf der Strecke. Die anderen schreien und lachen, nur man selbst steht neidvoll gelangweilt daneben. Durch ihre Adern floss schon so lange kaltes Blut, dass sie nicht einmal wusste, wo und wann sie die Wärme gelassen hatte, die einen Menschen zu einem wirklich fühlenden Menschen machte. Ihr schlanker Körper erschien ihr mehr und mehr wie eine fette Dämmschicht gegen alles um sie herum. Nichts drang da noch wirklich hindurch. Auch nicht ihre Fingernägel, die sie sich abends ins eigene Fleisch stieß, um sich wenigstens ein bisschen zu spüren. Da war viel zu wenig Gefühl, zu wenig Empfindsamkeit … zu wenig von allem. Das Einzige, was immer da war, war das, was sie selbst Basiswut nannte, ein Gefühl ständiger Anspannung und Unzufriedenheit.
Davon wusste Nico nichts. Woher auch? Er hätte es nicht verstanden – so, wie niemand es verstand. Nur ihre Mutter schien ab und zu den Hauch einer Ahnung zu haben, dass Kims Gefühlsleben in einem Sarg ruhte. Doch die beunruhigte das anscheinend nicht. Sie war mit ihrem eigenen Leben genug beschäftigt … und damit, wie sie in ihrem Alter noch einen Kerl fürs Bett kriegen sollte.
Noch immer wartete Nico auf Kims Zugeständnis, mehr empfunden zu haben, als ein kleines Flattern im Bauch.
Es ging ihr nicht darum, ihn nicht zu enttäuschen, sie wollte eigentlich nur ihre Ruhe. »Also gut, mir ging die Flatter.«
Sein Gesicht verwandelte sich augenblicklich in die ansteckend lachende Hackfresse zurück, die sie kannte. »Vielleicht solltest du solche Aktionen demnächst nicht alleine starten. Wir sind doch ein Team! Und hey – wir wollen gemeinsam Spaß haben.«
Mit Team meinte er sie beide und die anderen zwei aus dem losen Verbund, den sie Clique nannten: Benni, ein gewissenloses, aber verkanntes Genie, und Lena, seine chamäleon-artige Freundin.
Sie waren die Unentschlossenen aus ihrem Jahrgang und hingen noch immer oft genug gegenüber der Schule vor Mehmets Dönerladen herum. Dabei waren sie nicht hungrig auf Döner, sondern eigentlich nur hungrig auf das Leben. Keiner von ihnen wollte noch mal auf die Schule oder später jahrelang studieren. Was auch? Kims Abschluss aus der Zehnten war mies, wie das der anderen beiden auch – trotz aller Genialität. Und Nico hatte nicht einmal das. Manchmal tauchten Visionen in ihren Träumereien auf, doch jede noch so vage Idee eines Lebensentwurfes erstickte an den Vorbehalten und am Frust der anderen.
Kim sah auf die Uhr und zupfte Nico am Ärmel. »Komm, auf zu Mehmet. Vielleicht kann ich meinen Freund Haifisch noch pünktlich abpassen.«
»Au ja! Aber Kim – irgendwann steigt der Typ aus seinem schönen silbernen Golfkombi aus und haut dir aufs Maul.«
Grinsend stand sie auf, schob ihren Gipsarm in die Schlaufe und schnappte sich den Wohnungsschlüssel vom Schlüsselbrett. »Mir haut keiner aufs Maul. Schon gar nicht so ein Weichei wie der. Und weißt du warum?«
»Weil du Kickboxen kannst?«
»Und weil ich schneller bin. Wer zuerst angreift, hat einen entscheidenden Vorteil.«
»Frechheit siegt?«
»Immer!«
Sie warfen die Haustür hinter sich zu und liefen die zwei Kilometer in freudiger Erwartung einer aufheiternden Abwechslung auf Kosten von Kims speziellem Freund. An der großen Kreuzung vor Mehmets Laden blieben sie stehen und warteten vor der Ampel. Es war fast halb eins. Nahezu jeden Wochentag um diese Uhrzeit fuhr derselbe silberfarbene Golf heran – mit einem großen Fischaufkleber auf der Seite und mit immer demselben spießigen, leicht zu erschreckenden Fahrer.
Kim war ihm eines Tages bei strömendem Regen vor den Wagen gelaufen, weil sie es vermieden hatte, ihr Gesichtsfeld durch Anheben der tropfnassen Kapuze zu erweitern. Und natürlich hatte sie wie immer das Rot der Ampel ignoriert.
Der Wagen bremste ewig lang auf dem Asphalt und die Stoßstange hätte sie sicher erwischt, gäbe es nicht die wunderbare Technik des ABS. Bis dahin nichts Besonderes. Wahrscheinlich wäre der Mann niemals zu der beliebten Unterhaltungseinlage für die Clique geworden, die er nun war, hätte er in ihren Augen nicht völlig übertrieben reagiert. Er hatte das Fenster am Wagen heruntergelassen, Kopf und Arm herausgestreckt und wütend lamentiert. So triefend und zähnefletschend hatte er Kim an einen Haifisch erinnert.
Haifisch hatte sie angeschrien, sich in purem Katastrophendenken immer mehr in Rage geredet und sie mit Moralvorwürfen übergossen. »… hättest tot sein können«, »In deinem Alter sollte man das aber wissen« und so weiter. Sie konnte gar nicht begreifen, warum er um eine solche Lappalie ein derartiges Theater machte. So mutierte der kleine Schreck in Kims Inneren noch im Laufe seiner Daueransprache zu einer witzigen Einlage – zu einer riesig witzigen Einlage – und ab da machte sie