EMOTION CACHING. Heike Vullriede

EMOTION CACHING - Heike Vullriede


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mit Photoshop bearbeitet und vor die Schulklos gehängt hatte. Die durch seine Manipulation völlig überzeichneten und überdimensionalen Fettwülste ihrer nackten Körper spukten noch immer in Kims Kopf herum. Wäre Bennis Vater nicht Anwalt in einer angesehenen Kanzlei und mit dem Direktor befreundet gewesen, hätte er ganz sicher seinen Abschluss auf einer anderen Schule gemacht. Seitdem hielt ihn sein prominenter Papa zu seinem großen Leidwesen ziemlich kurz.

      Bennis eiskaltes Lächeln kroch den meisten Menschen böse in den Nacken, aber erst, wenn sie ihn näher kennenlernten. Selbst Kim hatte es sich inzwischen zur Gewohnheit gemacht, ihm niemals vertrauensvoll den Rücken zuzudrehen.

      Wie erwartet, fand sie sich auch heute auf seiner Aufnahme nicht besonders ansprechend. Zwar war sie schlank und sportlich, aber wie ein Model sah sie nicht gerade aus. Es gab einige, die der Meinung waren, Kim könnte mehr aus sich machen – inklusive ihrer Mutter. Doch allein deshalb zum Trotz! Mit den verschlissenen Turnschuhen, in Longsleaves und der immer gleichen Mütze auf ihren dunklen widerspenstigen Locken fühlte sie sich am wohlsten. Sie wusste, dass ihr Gesicht etwas härtere Züge, als die der anderen Mädchen aufwies. Aber vielleicht auch nur deshalb, weil sie sich nie schminkte. Wahrscheinlich hätte ein Kosmetiker da was zaubern können … oder es hätte einen Maskenbildner gebraucht, um aus ihr ein echtes Mädchen zu machen.

      Der Gipsarm im Film wirkte eher uncool auf Kim. Doch Lena schien beeindruckt. »Ich weiß gar nicht, was du hast. Sieht doch verwegen aus. Ich finde, es passt zu dir.«

      Lena war Bennis derzeitige Freundin. Sie entsprach vollkommen den Anforderungen, die man gewöhnlich an halbwüchsige Mädchen stellte. Lena war schrecklich dürr, immer korrekt modisch gekleidet und perfekt geschminkt – ganz nach Bennis Geschmack. Trotzdem war Kim klar, dass Lena es mit ihm nicht einfach hatte. Sie war eben leicht ersetzbar für ihn, und das wusste sie wohl. Vermutlich daher ihr gelegentliches Gezicke anderen Mädchen gegenüber, das Kim auf die Nerven ging. Im Grunde verhielt sich Lena wie ein Chamäleon. War Benni nicht da, konnte sie richtig nett sein. Manchmal hörte sie sich sogar Kims Schwärmereien über Papas große Reise an – obwohl sie sicher nie verstanden hatte, dass Kims verschollener und für tot erklärter Vater nicht irgendwo in der Erde verfaulte, sondern nur zu einer aufregenden Weltreise aufgebrochen war und irgendwann ganz bestimmt zurückkehren würde. Aber das verstand sowieso niemand. Das konnte sie ihr nicht verdenken.

      Zu viert lehnten sie sich an die graffitibeschmierte Wand neben Mehmets Ladentür und gruben ihre Köpfe noch tiefer über Bennis Handy. Ihr Golffahrer machte seiner komischen Hauptrolle alle Ehre. Die drei anderen brachen in lautstarkes Gejohle aus, als er mit seinen Händen in der Luft herumfuchtelte, und steckten damit auch Kim an.

      Mehmet wetzte drinnen im Laden indessen die Fleischmesser und fluchte. Als die vier Jugendlichen aus dem Gekicher nicht mehr herauskamen, drang seine akzentbeladene Stimme durch die geöffnete Tür nach draußen: »Sucht euch endlich ein anderes Zuhause auf der Straße, ihr Hühner!« Es schien einer seiner schlechteren Tage heute zu sein.

      Sie blickten sich amüsiert an. Als Zuhause hatten sie ihren Treffpunkt Dönerladen noch nicht betrachtet. Aber warum eigentlich nicht? Seit der Prüfung belagerten sie das Zaziki geschwängerte Umfeld um Mehmet fast täglich.

      Ob man sie damals wirklich als Freunde bezeichnen konnte? Kim glaubte es nicht. Sie vereinte eher eine Art Anderssein, und mit dem Anderssein war das so eine Sache: Entweder man fand einen fruchtbaren Weg in ein kreatives Leben oder man fand ihn nicht und verschlungene Pfade führten anstatt ins Paradies in die Hölle. Damals wussten sie noch nicht, dass sie die schlechtere Wahl ansteuerten.

      Nico stieß sich von der Hauswand ab und platzierte sich zwischen der klapprigen Tür und dem zerkratzten graulackierten Rahmen, um sich an Mehmets verärgertem Gesicht zu ergötzen. »Hey, sei ehrlich – wir sind doch deine besten Kunden.«

      »Brauchst gar nicht reinzukommen! Wer nichts isst, bleibt draußen!«

      »Du wirfst deine einzigen Stammkunden raus?«

      »Nix Stammkunden! Ihr vergrault mir die Gäste. Die …« Mit dem langen Messer in der Hand durchschnitt Mehmet die Luft und zeigte an Nicos Sommersprossengesicht, Kim und den anderen vorbei zur gegenüberliegenden Straßenseite. Zwei wenig vertrauensselig aussehende Typen gafften von dort herüber. »… die da drüben würden bestimmt hier Döner essen, aber ihr haltet sie mit eurem Gegacker davon ab!«

      »Wie sollten wir sie denn davon abhalten?«, fragte Nico gespielt entrüstet und machte ein paar testende Schritte in Mehmets Laden hinein. Die anderen folgten ihm in den Eingang.

      Wie erhofft, regte sich Mehmet weiter auf. »Indem ihr hier rumlungert! Kaum einer kauft noch bei mir. Weder Türken noch Deutsche. Alles Scheiße!«

      »Mehmet, das liegt aber nicht an uns. Die Türken kaufen deine Döner nicht, weil du Schweinefleisch da reinschmuggelst und die Deutschen kaufen sie nicht, weil du zu türkisch würzt. Du musst dich vielleicht mal entscheiden, was du sein willst.«

      »Was sagst du da von Schweinefleisch?!« Mehmet sah nun unter seinem angegrauten Schnäuzer besorgniserregend aufgewühlt aus und sprang erstaunlich wendig von der Theke aus auf Nico zu, der inzwischen kaum drei Meter von ihm entfernt stand. Schützend riss Nico die Arme über seinen Kopf. Er konnte sich vor Lachen kaum halten. Zu seinem Glück hatte Mehmet das Messer zuvor hinter der Theke verschwinden lassen.

      Um nichts zu verpassen, startete Benni hinter Nico geistesgegenwärtig seine Handykamera und streckte seine Arme über Nicos langen Körper, um alles aufs Bild zu bekommen. Es konnte ja sein, dass sich ein paar dramatische Szenen für weitere langweilige Nachmittage speichern ließen. Kim und Lena wagten sich weiter sich in den Laden und reckten ihre Hälse.

      Kim wusste, das Schlimmste für Mehmet war ihr Gekicher. Und dass Benni ihn dann auch noch mit derart unkontrollierten Gesichtszügen filmte, schmerzte den stolzen Kurden besonders.

      Was sie alle nicht bemerkten, waren die zwei Männer, die sich hinter ihnen dem Laden näherten.

      »Was'n hier los?«, tönte plötzlich eine tiefe Stimme in Kims Rücken.

      Ein bulliger Blondschopf mit ärmellosem Shirt zwängte sich neben Kim und Lena. Kims Augen reichten gerade bis zu seinen Oberarmmuskeln, auf denen das Bild eines bunten Totenkopfes beim Spiel seiner Hand mit einer Gürtelkette erzitterte. Da ihre Nase nur unwesentlich entfernt von seinen Achselhaaren weilte, strömte die schweißnasse Hitze seines Körpers wie ein Gasgemisch in ihr Gesicht. Angewidert wandte sie sich ab und stieß ihren Hinterkopf an dem nicht weniger schwitzenden Stiernacken des zweiten Kerls, der ebenfalls in den Laden drängte. Er blickte sie kurz und schroff an, um dann wie sein stinkender Freund zu Nico und Mehmet vorzustoßen und breitbeinig vor ihnen stehen zu bleiben.

      Nico und Mehmet waren inzwischen mit offenen Mündern in ihren Bewegungen erstarrt, ganz so, als ob sie gerade Stopptanzen gespielt hätten. Besonders Mehmet schien in seiner körperlichen Lähmung eine geistige Achterbahnfahrt zu durchleben, denn seinen dunklen Augen merkte man eine deutliche Panik an.

      Der Stiernacken packte Nico am Ärmel und zog ihn an seinen nass geschwitzten Bauch heran. »Macht der Kanake Probleme?«

      Nico erwachte nur langsam aus seiner Starre. »Äh … was? Nein, ich … er wollte nur …«

      »Was wollte der?«

      Nico schluckte. »Nichts. Ist alles in Ordnung hier.«

      Dem festen Griff des Mannes, der ihn jetzt zur Seite warf, konnte Nicos dürrer Körper mit nichts begegnen. Taumelnd stieß er sich am nahestehenden Tisch die Hüfte.

      Die beiden gewichtigen Männer wandten sich mit schmalen Augen Mehmet zu, der immer noch wie verwurzelt auf der Stelle verharrte. Immerhin blinzelte er inzwischen.

      Benni und Kim wechselten Blicke. Was tun? Im Geiste sah Kim den alten Mehmet wie einen schlaffen Sack unter den dicken Fäusten seiner Gegner zusammenbrechen. Wenn sie ihn auch zu gerne ärgerten, so gehörte er doch irgendwie zu ihrer Clique dazu – zumindest für Kim. Wahrscheinlich war Mehmets Dönerladen wirklich so etwas wie ein Zuhause für sie geworden und ein bisschen angenehm anders als andere Erwachsene war Mehmet


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