EMOTION CACHING. Heike Vullriede

EMOTION CACHING - Heike Vullriede


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zum Draufhauen und hätten die Situation tatsächlich falsch eingeschätzt. Vielleicht meinten sie wahrhaftig, ihnen mit ihrem Engagement zu helfen. So schob Kim die zur Salzsäule erstarrte Lena zur Seite und präsentierte sich den beiden Schlägern mehr oder weniger entschlossen.

      Sie stand seitlich von Mehmet und den Kerlen gegenüber.

      »Hört mal …«, begann sie und registrierte, dass Mehmet sie sehr düster ansah und langsam, aber kaum merklich seinen Kopf schüttelte. »… wir haben kein Problem. Wir hängen hier jeden Tag rum und haben uns nur einen Spaß mit Mehmet gemacht. Alles in Ordnung also. Wir brauchen eure Hilfe nicht.«

      Im Hintergrund sah sie Benni schon wieder grinsend filmen. Der Blödmann schreckte anscheinend nicht davor zurück, ihren Untergang aufzuzeichnen, anstatt sich zum Helfen vorzubereiten. Kim konnte wohl kaum hoffen, dass er sich auf einen von den beiden stürzen würde, falls man Kim auseinanderrisse. Lena hatte sich erwartungsgemäß hinter seinem Rücken verkrochen und lugte mit Rehaugen über Bennis Schulter herüber. Als Kims Blick hilfesuchend auf Nico fiel, fand sie ihn auf dem Tisch sitzend und geruhsam das Theaterstück betrachten, in dem Kim gleich eine Hauptrolle spielen sollte. Tolle Freunde!

      Der Gürtelkettenträger musterte sie mit hochgezogener Oberlippe. Das erinnerte sie an das Gesicht eines Esels und ein Lächeln huschte auf ihr Gesicht.

      »Ach ja? Ihr braucht unsere Hilfe nicht?« Langsam schritt er an Mehmet vorbei auf Kim zu. »Hängst hier also gerne rum, in so 'nem Türkenladen und frisst Knoblauch. Ich sag dir was: Kannst dich gleich mit unter die Theke legen …«, er zögerte, ließ seine Augen wieder abschätzend an ihr mitsamt Gipsarm hinabgleiten, »… oder vielleicht besser gleich auf die Theke. Dann könnte man mal nachsehen, ob du wirklich ein Mädchen bist.« Er lachte seinem Kumpel dreckig zu, der ebenso frivol zurücklachte.

      Allmählich fühlte sie sich wirklich bedroht. Kim spürte etwas. Es war ein leichter Druck im Magen, kurz und pulsierend. Der Gedanke an zwei verschwitzte bullenartige Männer, die sich auf einer Dönertheke über sie hermachen wollten, ängstigte sie anscheinend mehr, als das Herumhangeln an S-Bahnen oder das Klettern auf schwindelerregend hohe Brücken oder Hausfassaden.

      Na klasse, dachte Kim, und Benni filmt das dann auch noch.

      Angriff schien ihr hier die beste Verteidigung. Bevor der Kerl vor ihr noch einen Schritt weiter auf sie zu machen konnte, holte sie mit einem Bein nach hinten aus und trat ihm ohne Vorwarnung mit voller Wucht ihren Turnschuh in die Weichteile. Er konnte nicht wissen, dass sie bis vor kurzem noch Kick-Boxen trainiert und ihr Fußtritt eine gehörige Portion Kraft hatte. Wie erwartet sank der große Mann sehr klein zusammen. Und wie weiter zu erwarten, stürmte nun der Stiernacken mit einem grunzenden »Dich mach ich fertich, du Schlampe« auf Kim zu …

      Sie hätten dem alten Mehmet ja vieles zugetraut, aber die Geschicklichkeit, die er in den nächsten Minuten zutage legte, beeindruckte die Clique nachhaltig. Während Nico nun tatsächlich versuchte, Kim zu helfen und sich so heldenhaft wie wirkungslos an den verschwitzten Nacken des Stiers hängte, war es gerade Mehmet, der das einzig Richtige tat und dem hirnlosen Kerl schlicht ein Bein stellte. Polternd kam er zu Fall und riss Nico mit sich. Kaum dass der sich wieder aufrichtete, ohne den Jungen an seinem Hals überhaupt wahrzunehmen, wollte er sich auf Mehmet stürzen. Der aber ergriff die auf ihn gerichtete Faust, lenkte die Kraft seines Gegners an sich vorbei in Richtung Theke und sah zu, wie die Stirnhaut des Dummkopfes an der Kante des Marmors aufplatzte. Vorausschauend hatte Nico vorher losgelassen, purzelte zu Boden und landete direkt vor der WC-Tür.

      Mehmet nahm indes den Blutenden bei den Haaren und zerrte ihn vor die Tür, wo er ihn die beiden ausgetretenen Stufen hinunterstieß. Dann kehrte er in den Laden zurück, packte die Gürtelkette des anderen, zog ihn daran näher zu sich und verpasste ihm einen weiteren Tritt in den Schritt. Jetzt mischte Kim sich wieder ein, probierte einen vorsichtigen Einsatz ihres Gipses als Schlaghilfe, was sie aber gleich wieder sein ließ, und gemeinsam mit Nico und der aufgetauten Lena transportierten sie den zweiten Kerl auf die Straße.

      »Gülle, Gülle!«, rief Mehmet ihnen zu.

      Benni folgte ihnen kichernd mit der Kamera. »Das ist so genial! Mehmet, tritt dem blutenden Dicken da noch mal in den Arsch!«

      Für einen Moment schien Mehmet zu überlegen, doch dann schüttelte er den Kopf und zeigte Benni einen Vogel.

      Bevor ihre Opfer sich erneut aufraffen konnten, um sich zu rächen, begrüßte Mehmet mit lautem Rufen und ausholendem Winken seine drei Cousins, die wie durch ein Wunder auf der anderen Straßenseite auftauchten und sich scheinbar bereits auf eine Rangelei freuten. Die beiden Schläger verschwanden hinkend. Alle johlten ihnen hinterher und die Cousins ließen es sich nicht nehmen, ihnen hinterherzujagen.

      Jetzt erst ließ Benni endlich das Handy sinken. »Das wird ein super Filmabend!«

      Kim blickte Mehmet an, der schwer atmend neben ihr im Eingang des Ladens stand und sofort wieder um einige Jahre alterte. »Und die wolltest du als Stammkunden gewinnen?«

      Er sah sie erst fragend an, dann grinste er über beide Wangen. »Du bist ein sehr mutiges Mädchen, Kim. Aber bitte, lass einem alten Mann niemals das Gefühl, dass er deine Hilfe benötigt, ja?«

      Nachdenklich fasste Kim die drei Cousins von Mehmet ins Auge, die nach der kurzen Verfolgung mit heiteren Gesichtern zurückkehrten. »Wo kamen die denn überhaupt so schnell her?«

      »Ein Knopfdruck auf die richtige Taste meines Handys und die Leute aus meiner Familie wissen, dass ich Hilfe brauche.«

      Dann nahm Mehmet Kim kurz beiseite und blickte sich verstohlen nach seinen Cousins um. »Das mit dem Schweinefleisch, weißt du, das ist wegen des Geschmacks … auf keinen Fall verraten, ja?«

      »Kein Problem, wenn du uns jedem einen Döner spendierst.«

      ***

      Um einhändig die Haustür aufzuschließen, musste Kim einige umständliche Verrenkungen vollbringen. Sie verfluchte den verdammten Gips und die Behinderung, die sie sich damit selbst eingebrockt hatte.

      Ohne sich zu bücken, streifte sie mit den Füßen ihre Schuhe ab und gab ihnen einen Kick. Sie schlitterten vor den Metall-Schuhschrank in der Diele und lenkten Kims Blick auf ein Paar schwarze ausgetretene Halbschuhe.

      Robert war also da.

      Obwohl sie aus der Entfernung nicht wirklich etwas riechen konnte, kam es ihr vor, als strömte der Geruch fremder Männerfüße aus den Tretern wie die Markierung eines brünstigen Tieres durch die Diele. Er hätte genauso gut hier hinpinkeln können.

      Natürlich wusste sie, dass ihre Mutter ein Anrecht auf ein Intimleben hatte, dafür war Kim alt genug … aber sie mochte das nicht. Schon gar nicht, wenn einer von denen zu einem Dauerzustand wurde. Robert war schon viel zu lange ein Thema in diesem Haus.

      Kims gute Laune versank in den tiefsten Keller, den es in einem Gehirn geben konnte. Sie schlürfte einen Raum weiter, warf den Rucksack auf den Esstisch, an dem sie mit Nico mittags noch über Angst und Abenteuer geredet hatte, und ließ sich wie ein Sack auf einen der Stühle fallen. Dann lauschte sie. Da keinerlei Gesprächsfetzen von irgendwoher in ihre Ohren drangen, konnte sie sich schon denken, wo die beiden alten Herrschaften gerade ihre Zeit verbrachten. Entweder vergnügten sie sich im Schlafzimmer oder plätscherten gemeinsam mit einem Glas Sekt in der Badewanne.

      Alles schon gehabt.

      Sensibilisiert nahm Kim ein gleichmäßiges Rauschen im Haus wahr … die Dusche also … angewidert verzog sie die Mundwinkel. Wozu gab Gott den Menschen Lustgefühle, wenn sie sowieso nicht mehr zeugen konnten? Die Vorstellung ihrer Mutter, die immerhin schon Mitte vierzig war, beim Sex mit Robert, verursachte ihr Übelkeit. Unwillkürlich starrte sie auf das Bild ihres lachenden Vaters auf dem Sideboard. Hätte sie das Gleiche empfunden, wenn dieser Mann da oben ihr Vater wäre? Kim versuchte es sich vorzustellen und zur Rechtfertigung genau den gleichen Ekel hervorzubringen. Klar – ihre Gedanken waren unfair und vermutlich kindisch. Sie wusste selbst, dass sie zwar der Kindheit entwachsen war, sich aber auf dem Weg in die Erwachsenenwelt irgendwie verlaufen haben musste.


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