EMOTION CACHING. Heike Vullriede

EMOTION CACHING - Heike Vullriede


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dreizehn Jahren verschwunden, ohne jedes Lebenszeichen, ohne Grund, mit nichts als einem Rucksack. Ganze Hundertschaften haben nach ihm gesucht. Es bringt ihn nicht zurück, wenn ich heule. Ich bin eben nicht der Typ, der alles hinschmeißt und jammert. Mein Leben geht weiter … und deins auch.«

      Ihre Gelassenheit provozierte Kim nur noch mehr. »Es würde ihm auf jeden Fall mehr Wertschätzung geben, als die Tatsache, dass du mit anderen Männern in seinem Bett fickst … oder unter der Dusche, die er selber eingebaut hat.«

      »Und ich würde es schätzen, wenn du mir mehr Wertschätzung entgegenbringen würdest … und wenn du etwas weniger das Wort ficken benutzen würdest, würde es auch dir einen Funken Wertschätzung einbringen.«

      Das mit dem fehlenden mehr vor Wertschätzung merkte Kim durchaus. »Leck mich doch!«

      Sie gab es auf und verzog sich ganz nach oben in ihr Zimmer. Es hatte ja doch keinen Zweck, mit ihrer Mutter zu streiten. Sie würde sie kühl abblitzen lassen und Kim wäre diejenige, die vor Wut schäumte. Unglaublich, dass sie noch immer hier wohnte! Die Tür schlug sie hinter sich zu, sodass die Rigipswand zu bersten drohte.

      »Manchmal denke ich, dass dir einfach nur eine sinnvolle Aufgabe fehlt. Denk doch bitte noch mal über dieses Freiwillige Soziale Jahr nach. Im Altenheim suchen sie ganz dringend nach jungen Leuten«, rief Sofie hinter ihr her.

      »Es wird dringend Zeit, dass ich hier rauskomme«, flüsterte Kim.

      Sie warf sich auf ihr Bett und starrte an die Decke. Robert musste weg! Je mehr Robert, desto weniger Papa. Und der durfte nie, niemals in Vergessenheit geraten. Es war ihr vollkommen egal, wie lange das her war und wie klein sie damals noch war. In ihrer Erinnerung war es eben erst …

       Sie saß in der Diele auf dem Boden und spielte mit den Schuhen aus dem Schuhschrank. Schnürsenkel herausziehen und wieder einfädeln, ein Spiel, das Kim gerne mochte. Sich in die Schuhe stellen und darin laufen – Papas Schuhe waren riesig und schwer. Ihre kleinen Füße scheiterten fast schon am Gewicht seiner leichtesten Pantoffeln. Und dann blinzelte da Papas verschmitztes Gesicht um die Ecke. »Na, meine Kleine … spielst du schon wieder mit den Schuhen?«

      Und jetzt standen genau dort ständig diese stinkenden Treter von Robert! Sollte der Eindringling trotz ihrer heutigen Attacke weiterhin im Haus auftauchen, musste sie sich etwas einfallen lassen. Sie hatte schon viel zu lange gewartet, dass er von selbst verschwand. Kim musste nachhelfen … nur wie? Bisher widersetzte sich Robert ihren Vergraulungskünsten hartnäckig, und auch die eben noch gehegte Hoffnung, ihn heute bis zum Herzinfarkt getrieben zu haben, blieb sicher nicht mehr als ein unerfüllter Wunsch. Die Sache musste geschickter in Angriff genommen werden. Genial wäre es gewesen, wenn ihre Mutter Robert selbst zum Teufel gejagt hätte, dank Kims niederträchtiger, aber kluger Einmischung in intime Angelegenheiten. Doch Sofie schien immun gegen jegliche Hinterlist von Kims Seite. Jeden noch so gut vorbereiteten und ausgefeilten Schachzug durchschaute sie bereits in den ersten Zügen. Möglicherweise bot der umgekehrte Weg doch mehr Aussicht auf Erfolg. Da Kim offenbar Robert nicht mit ihrem eigenen Großmaul in die Flucht schlagen konnte, sollte sie ihm vielleicht Seiten an ihrer Mutter zeigen, die ihn abschreckten. Man könnte ja ein bisschen übertreiben.

      Kim fasste sich an den Arm. Er schmerzte und sie bereute ihre Kurzschlussreaktion mit dem Gips. Immerhin, es war ja so etwas wie ein großer Gefühlsausbruch gewesen. Mit der Gleichgültigkeit ihrer Mutter konnte nicht einmal sie mithalten.

      Durch die Zimmertür drang ein: »Du hast um 15 Uhr einen Termin in der Ambulanz! Sieh zu, wie du da hinkommst.«

      Anscheinend hatte sich ihre Mutter tatsächlich Gedanken um den zerbrochenen Gips gemacht und dort angerufen. Kim fragte sich, welche Lüge sie dem Arzt im Krankenhaus auftischen sollte. Sie konnte wohl kaum zugeben, dass sie aus Ärger über den Liebhaber ihrer Mutter den Gips auf die Küchenarbeitsplatte geschlagen hatte. Oder doch? Warum sollte nicht das heimische Krankenhauspersonal wissen, dass sie den Konrektor der Gesamtschule zu Hause nackt unter der Dusche erwischt hatte?

      Emotion Caching

      Ein Klopfen ihres Handys lenkte Kim ab. Benni schickte einen YouTube-Link in die Cliquen-Gruppe. Schneller als erwartet. Sie folgte dem Link und Sekunden später lachte sie auf der Matratze liegend laut auf. Die beiden Rechten machten eine ziemlich miese Figur auf dem Film. Herrlich, ihre erschöpften und ratlosen Gesichter, als sie auf dem Asphalt der Straße saßen und dann Mehmets Ausklopfen seiner Hände und sein ironisch freundliches »Gülle, gülle«. Sie saßen da wie Idioten. Verdient hatten sie es! Kim teilte das Video in dreizehn weiteren Gruppen, in die man sie gegen ihren Willen eingeladen hatte. Zu irgendetwas mussten sie ja gut sein. Ihre Laune hob sich mit jedem Drücken der OK-Taste und sie fühlte sich fast schon wie eine Menschenrechtskämpferin. Rechts fand sie schon immer verächtlich. Unfairness gegenüber Robert und politische Korrektheit waren allerdings etwas völlig Unterschiedliches. Die Sache mit Robert war privat. Und wer war hier überhaupt unfair? Niemand zwang ihn, sich in ihr Leben zu drängen. Da musste er schon mit Widerstand rechnen.

      Das Handy klopfte erneut. Benni schickte einen weiteren Link: Ihr Wortgefecht mit Haifisch auf der Kreuzung. Was sie sah, gefiel ihr ganz und gar nicht.

      Kurz darauf hatte sie Benni am Ohr. »Hey, was soll das? Wir hatten doch gesagt, unsere eigenen Gesichter niemals in Nahaufnahme und schon gar nicht auf YouTube.«

      »Kim, mach dir keinen Kopf. Hast du den eingeschränkten Zugriff auf das Video nicht gesehen? Nur die Clique!«

      Kim lehnte sich wenig beruhigt zurück. »Trotzdem, verschieb es augenblicklich in unsere private Gruppen-Cloud. Ich will das nicht auf YouTube sehen! Jeder weiß, es braucht nur einen Klick von dir, um das mit dem Empfängerkreis zu ändern.«

      Sie biss sich auf die Lippen, denn sie wusste, solche Äußerungen brachten Benni nur auf dumme Gedanken.

      »Wir haben eine ganz schöne Sammlung bisher, findest du nicht? Wenn wir das alles öffentlich machen würden, könnten wir einen lustigen Kurzfilm draus basteln«, schwärmte er.

      Kim klickte sich durch die Titel in der privaten Cloud. Die Liste solcher Filmchen war tatsächlich lang. Szenen mit wildfremden Menschen, deren zufällige Missgeschicke sie aufgezeichnet hatten, um sich anschließend bei Chips und Bier darüber zu amüsieren. Es war so eine Art Wettbewerb unter ihnen entstanden, wer die witzigsten Videos erstellt und ihre eigenen waren oft die besten. Am Anfang hatte Benni alle Aufnahmen veröffentlicht. Tausende Hits hatten sie angestachelt, bei ihren Ausflügen stets nach dummen Pechvögeln auf der Straße zu suchen, an deren Schicksal man sich laben konnte. Doch das hatte bald zu Ärger mit angesäuerten Mitmenschen geführt, deshalb belustigten sie sich seitdem lieber privat daran. Dieses Video mit den rechten Schlägern in Mehmets Laden allerdings war nun für jeden zugänglich. Hoffentlich wusste Benni, was er da tat. Schon jetzt verteilte es sich über alle möglichen Netzwerke im Internet und es zeigte 448 Hits. Benni vertrieb es als Anti-Rechts-Kampagne – wie edelmütig von einem, der sich einen Kehricht um soziale Gerechtigkeit scherte. Zwei Nutzer hatten das Video jedoch abgewertet und monierten entschieden, weil der eine der zu Opfern gewordenen Täter an der Stirn blutete. Kim schnaubte. Vermutlich waren das so weltverbessernde Sozialarbeiter oder Pädagogen. Sie kannte solche Typen, die jedem gerecht werden wollten, nur nicht denen, mit denen sie gerade sprachen. Genau so einer war Robert. Immer musste er alles hinterfragen und kritisieren, konnte niemals eine Bauchentscheidung gelten lassen. Wenig überrascht stellte sie fest, dass die beiden Kritiker ihrerseits von dreiundzwanzig anderen Usern mit blöden Kommentaren bombardiert wurden.

      »Kim? Bist du noch dran?«

      Sie hatte Benni am Telefon ganz vergessen. »Mal was anderes, ich hab dir von Robert erzählt …«

      »… den Lover deiner Mutter … kommt der immer noch zu euch? Ist ja hartnäckig, der Kerl.«

      »Er nervt gewaltig. Er muss hier weg.«

      »Weg? Wie denn?«

      »Ich weiß nicht … man sollte ihm einen Denkzettel verpassen. Aber mir fällt nichts Passendes ein. Vielleicht


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