Flucht ins Glück. Barbara Cartland
nein, nein!“ wimmerte Melinda, obwohl sie halb ohnmächtig war vor Schmerzen.
„Du heiratest ihn, und wenn ich dich umbringe!“ drohte Sir Hector.
Die Peitsche zerschnitt die Luft, bis er schließlich merkte, daß Melinda nichts mehr sagte und sich auch nicht mehr regte. Sie lag quer über dem Sofa, die Haare wirr, eine Hand schlaff und wie leblos. Eine Sekunde lang hatte Sir Hector Angst, dann warf er die Peitsche in eine Ecke.
„Steh auf!“ herrschte er Melinda an. „Du hast es herausgefordert und nicht anders verdient.“
Melinda rührte sich nicht. Sir Hector beugte sich über sie, hob sie hoch und legte sie auf den Rücken. Sie war erstaunlich leicht. Ihr Kopf rollte zur Seite, sie hatte die Augen geschlossen.
„Melinda!“ rief Sir Hector. „Melinda! Dieses störrische Etwas. Sie muß gehorchen lernen. Aber Randolph wird ihr schon den Willen brechen, und ich wünsche ihm viel Vergnügen dabei.“
Er ging zu dem Butler’s Tray mit den vielen Flaschen, das in einer Ecke der Bibliothek stand. Aus einer Kristallkaraffe goß er Wasser in ein Glas, ging damit zum Sofa und schüttete es Melinda ins Gesicht.
Nach einem Moment öffnete Melinda langsam die Augen. Falls Sir Hector erleichtert war, sah man es ihm zumindest nicht an.
„Steh auf!“ sagte er streng. „Geh auf dein Zimmer und wage dich nicht heraus. Du bekommst vorerst nichts zu essen. Ich werde dich irgendwann holen lassen, und wenn du dich dann nicht einverstanden erklärst, Colonel Gillingham zu heiraten, bekommst du noch einmal die Peitsche zu spüren und noch einmal und noch einmal. Ungehorsam, das gibt es nicht in meinem Haus, hörst du? Los, ab in dein Zimmer. Und versuche nicht, dich bei deiner Tante auszujammern. Von ihr kannst du kein Mitleid erwarten.“
Wie ein Mann, der überzeugt davon war, sich einen Drink verdient zu haben, goß er sich einen Cognac ein und schlürfte ihn genüßlich.
Melinda rappelte sich auf. Sie schleppte sich von Möbelstück zu Möbelstück, bis sie endlich an der Tür war. Wie eine Schlafwandlerin ging sie durch die Halle. Es war, als ob es keinen Willen mehr gäbe, der sie leitete, sondern nur noch den Instinkt.
In ihrem freudlosen, kargen Schlafzimmer, das gegenüber dem Studierzimmer lag, schloß sie die Tür hinter sich, schaffte es gerade noch, den Schlüssel umzudrehen und brach auf dem Boden zusammen.
Sie hatte keine Ahnung, wie lange sie so dagelegen war. Sie wußte nur noch, daß sie selbst in ihrer Besinnungslosigkeit unter der Erniedrigung gelitten hatte. Die Schmerzen waren weit weniger schlimm.
Es war dunkel und bitter kalt. Melinda stand auf und taumelte zu ihrem Bett. In dem Moment klopfte es.
„Wer ist da?“ fragte Melinda, zitternd vor Angst.
„Ich bin’s Miss“, rief das junge Zimmermädchen, das jeden Abend Melindas Bett zurückschlug.
„Ist schon gut, Lucy“, rief Melinda zurück. „Ich mache es selber, vielen Dank.“
„Dann gute Nacht, Miss.“
Lucys Schritte entfernten sich, und jetzt war Melinda endlich in der Lage, die Kerzen anzuzünden. Sie betrachtete sich im Spiegel und hatte das Gefühl, als starre sie ein fremdes Gesicht an.
Es war ein blasses, verhärmtes Gesicht mit Augen voller Schmerz und Dunkelheit. Die Haare waren verwirrt. Melinda drehte sich um und sah jetzt auch die dunklen, feuchten Flecken auf dem Rücken ihres Baumwollkleides.
Langsam zog sie sich aus. Jede Bewegung war eine Qual. Sie schlüpfte in ihren alten Morgenrock aus Flanell, setzte sich an den Toilettentisch und starrte mit leeren Augen vor sich hin. Sie war nicht bei Besinnung gewesen, hatte aber trotzdem die Worte des Onkels gehört.
„ ... bekommst du noch einmal die Peitsche zu spüren und noch einmal und noch einmal.“
Wie oft schon war Sir Hector drauf und dran gewesen, sie zu schlagen, wie er seine Hunde und seine Pferde schlug. Und - so hatte man es sich zugeflüstert - wie er seinen Stallburschen geschlagen hatte, dessen Eltern ihm mit einer Anzeige gedroht hatten.
Er war ein grausamer, unbeherrschter Mann. Was ihn jedoch besonders in Rage gebracht hatte, war die Tatsache, daß durch ihre Weigerung Colonel Gillingham denken würde, daß er, Sir Hector, nicht Herr in seinem Haus war. Er war ein Despot und verlangte absoluten Gehorsam.
„Und ich heirate ihn trotzdem nicht“, flüsterte Melinda vor sich hin.
Die Tränen liefen ihr über die blassen Wangen, und sie zitterte am ganzen Körper.
„Oh Papa! Mama! Wie habt ihr das geschehen lassen können?“ schluchzte sie. „Wir waren doch so glücklich zusammen. Warum habt ihr mich verlassen? Papa, Mama, wo seid ihr? Kommt doch bitte wieder zurück!“
Als ob ihr die Eltern geantwortet hätten, wußte Melinda plötzlich, was sie tun mußte. Wie Schuppen fiel es ihr von den Augen. Nicht eine Sekunde lang stellte sie sich die Frage nach Recht oder Unrecht. Im Grunde hätte sie es schon längst tun und nicht erst warten sollen, bis sie dazu gezwungen war.
Sie wischte sich die Tränen ab, stand auf, holte die kleine Reisetasche aus dem Schrank und fing an, zu packen. Sie wollte nur das Nötigste mitnehmen. Sie wußte, daß sie nicht kräftig genug war, viel mit sich herumzuschleppen.
Sie zog sich schließlich an. Frische Unterwäsche, frische Unterröcke und ihr Sonntagskleid aus lavendelfarbenem Tuch mit weißem Kragen und weißen Manschetten. Sie besaß ein dazu passendes, einfaches Häubchen. Lady Margaret hatte es nicht gestattet, daß sie etwas trug, was auch nur etwas ausgeschmückt und verziert war. Den schon etwas abgetragenen Wollschal ihrer Mutter legte sie neben die Tasche. Sie wollte ihn im letzten Moment umschlingen.
Sie mußte länger am Toilettentisch gesessen sein, als ihr bewußt gewesen war, denn die Standuhr in der Halle schlug zweimal. Melinda klappte ihre Handtasche auf. Nur ein paar Shilling besaß sie. Es waren die jämmerlichen Ersparnisse, die sie von dem mageren Taschengeld übrigbehalten hatte, das ihr Sir Hector für die Kollekte in der Kirche und sonstige Ausgaben genehmigt hatte.
Sie entnahm der Schublade des Toilettentisches ein kleines lilafarbenes Samtschächtelchen und klappte es auf. Es enthielt die zierliche Brillantnadel, die sie als Einziges hatte behalten dürfen, als das Haus und die persönlichen Dinge ihrer Eltern unter den Hammer des Versteigerers gekommen waren.
Sie hatte die Nadel auch nur deshalb behalten dürfen, weil sie ihr bereits gehörte. Sie hatte sie zum Andenken an ihre Großmutter nach deren Tod bekommen. Es war ein bescheidenes Schmuckstück, aber die Steine waren so geschliffen, daß sie glitzerten und funkelten, und Melinda wußte, daß die Nadel einen gewissen Wert hatte.
Mit dem Etui in der Hand schlich sie sich aus dem Zimmer und über den Gang. Im Haus war alles still. Bloß das Ticken der Standuhr war zu hören.
Vorsichtig öffnete Melinda die Tür zum Boudoir ihrer Tante. Drinnen war alles dunkel, aber das junge Mädchen kannte seinen Weg. Wie ein Geist huschte Melinda über die dicken Teppiche und schob den Vorhang ein wenig zur Seite, um das Mondlicht hereinzulassen. Melinda klappte den Sekretär auf. Sie wußte nur zu gut, wo das Haushaltsgeld aufbewahrt wurde, denn Woche für Woche hatte sie Lady Margaret bei der Abrechnung helfen müssen.
Melinda fand ganze zehn Goldmünzen. Sie nahm sie und legte dafür die Brillantnadel ihrer Großmutter in den Sekretär. Daß ihr Onkel sie eine Diebin schimpfen würde, war ihr klar, aber sie war überzeugt davon, daß die Nadel mehr Geld einbrachte als zehn Goldmünzen - falls Lady Margaret sie verkaufte.
Melinda schlich in ihr Zimmer zurück. Ihr Rücken schmerzte, aber sie durfte jetzt nicht daran denken. Wenn sie fliehen wollte, dann mußte es gleich geschehen.
Sie steckte das Geld in ihre Tasche, sah sich noch einmal in dem Zimmer um und blies die Kerzen aus.
„Papa, Mama“, flüsterte sie in die Dunkelheit hinein. „Helft mir. Ich habe Angst, fortzugehen, aber noch viel mehr Angst hätte ich, wenn ich bleiben würde. Helft mir. Es ist mein