Flucht ins Glück. Barbara Cartland

Flucht ins Glück - Barbara Cartland


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      Vom blassen, milchigen Schein des Mondes begleitet, huschte Melinda über die Wageneinfahrt zu dem schmiedeeisernen Tor. Es war geschlossen, aber der kleine Durchgang daneben war zum Glück nicht verschlossen. Auf Zehenspitzen ging Melinda durch. Das Häuschen des Torwächters war unmittelbar daneben, aber er hörte nichts.

      Mit schnellen, entschlossenen Schritten machte sich Melinda auf den Weg. Die Landstraße war staubig und kurvenreich. Schon bald gelang es Melinda nicht mehr, die Schmerzen zu ignorieren. Die Reisetasche, in die sie wirklich nur das Allernötigste gepackt hatte, schien schwerer und schwerer zu werden.

      Ihr Schritt wurde langsamer, und bald sagte ihr ein schwaches Glühen am Horizont, daß der Tag anbrach. Voll Angst mußte Melinda feststellen, daß das Haus ihres Onkels noch nicht sehr weit hinter ihr lag. Wenn jemand bemerkte, daß sie nicht in ihrem Zimmer war, würde man sie im Handumdrehen wieder eingefangen haben.

      Sie wußte nur zu gut, was passieren würde, wenn man sie zurückbrachte. Sir Hector würde sie auspeitschen und zur Heirat zwingen. Allein bei dem Gedanken, die Frau des ihr so verhaßten Colonel Gillingham werden zu müssen, lief ein Schaudern über ihren ganzen Körper.

      Melinda hastete weiter. Die dünnen gelben Finger der Morgensonne wischten die letzten Spuren der Nacht weg. Keine Menschenseele auf der Landstraße. Bald mußten in der Ferne die ersten Häuser des kleinen Dorfes auftauchen, in dem sie ein Gefährt zu finden hoffte, das sie nach Leminster bringen würde.

      Leminster war fünf Meilen entfernt und von dort aus konnte sie den Zug nehmen und nach London fahren. Ihr Plan stand fest. Es gingen auch Postkutschen nach London, aber sie waren langsamer und von einem Reiter leicht einzuholen.

      Melinda war überzeugt davon, daß ihr Onkel annehmen würde, daß sie es nicht wagte, den Zug zu nehmen. Er war nämlich gegen alles, was modern war. Er vertrat die bornierte Meinung, daß ein Gentleman mit seiner Familie in eigener Kutsche zu reisen habe, mit eigenem Kutscher natürlich.

      Als in Leminster jedoch der Bahnhof eingeweiht worden war, hatte ihn die Neugierde doch hingetrieben, und er hatte als Lord Lieutenant der Grafschaft eine Rede gehalten. Nachdem Lady Margaret mehrmals betont hatte, daß es eine große Ausnahme sei, war Melinda mitgenommen worden.

      Sie und Charlotte hatten die Wagen mit den weichen Sitzen und den Glasfenstern bestaunt, sich aber auch die offenen mit den Holzbänken angesehen, in denen die armen Leute reisten.

      Melindas Problem war es vorerst, wie sie überhaupt nach Leminster kommen würde. Sie bedauerte es fast, nicht doch auf Flash geflohen zu sein. Aber sie hatte gewußt, daß die Stallburschen es ihrem Onkel sagen würden, wenn sie nach ein paar Stunden nicht zurück war. Außerdem hätten sie es merkwürdig gefunden, wenn Melinda allein losgeritten wäre, denn Sir Hector bestand darauf, daß die Mädchen immer von einem Stallburschen begleitet wurden.

      Inzwischen hatte Melinda Angst, daß sie es nicht einmal bis zu dem kleinen Dorf schaffen würde. Sie war so schwach, daß sie sich einen Moment auf einen Meilenstein setzen und ausruhen mußte. Ihre Schuhe und ihr Rocksaum waren bereits voll Staub. Wie würde sie erst aussehen, wenn sie endlich in London ankam?

      Sie wischte sich gerade die Stirn mit dem weißen Spitzentaschentuch ab, in das sie ihre Initialen gestickt hatte, als sie das Schlagen von Pferdehufen hörte. Sie erschrak schier zu Tode. Kurz darauf jedoch sah sie den Leiterwagen näher kommen und wußte, daß sie keine Angst zu haben brauchte. Auf dem Wagen saß der Farmer Jenkins, einer der vielen Pächter ihres Onkels. Sie kannte den jungen Mann mit den feuerroten Haaren von ihren Ausritten.

      Melinda hob den Arm hoch, und der Farmer brachte den schweren Ackergaul neben ihr zum Stehen.

      „Guten Morgen, Miss Melinda“, sagte er freundlich. „Sie sind aber schon früh unterwegs.“

      „Guten Morgen, Jim“, sagte Melinda. „Wohin des Wegs?“

      „Es ist Dienstag, Miss, da fahre ich immer auf den Markt nach Leminster.“

      Melinda seufzte erleichtert auf.

      „Können Sie mich bitte mitnehmen?“

      „Jederzeit gern“, sagte Jim Jenkins. „Aber als Lady können Sie doch nicht auf einen Leiterwagen steigen.“

      Melinda lächelte.

      „Und ob ich das kann“, sagte sie, gab Jenkins die Reisetasche, kletterte auf den Wagen und setzte sich neben ihn.

      „Vielen Dank, Jim“, sagte sie so herzlich, daß der Farmer sie erstaunt ansah.

      „Es geht mich zwar nichts an, Miss“, sagte er, „aber was denkt denn Sir Hector, wenn er das erfährt?“

      „Ich hoffe, daß er es nie erfahren wird, Jim“, sagte Melinda. „Oh, Jim, ich kann es Ihnen nicht erklären, aber lassen Sie uns so schnell wie möglich nach Leminster fahren. Ich hätte nie gedacht, daß jemand schon so früh unterwegs ist.“

      „Ich muß dort sein, wenn der Markt beginnt“, sagte Jim Jenkins. „Dann bekommt man die besten Preise.“

      Melinda sah sich um. Auf dem Leiterwagen standen Holzkäfige mit Hühnern, Körbe voll Eier und große Klumpen Butter, die in feuchte Leinentücher gewickelt waren.

      „Wie viel Uhr ist es denn?“ fragte Melinda. „Meinen Sie, daß in Oakle schon viele Leute auf sind?“

      „Kaum“, sagte Jim Jenkins. „Das sind doch alles Faulenzer, die von Oakle.“

      „Ich möchte nicht gesehen werden, Jim“, sagte Melinda. „Und ich möchte auch nicht, daß Sie meinetwegen Ärger bekommen.“

      „Heißt das, daß Sir Hector nichts von Ihrem Ausflug nach Leminster weiß?“

      Melinda zögerte einen Moment, dann sagte sie dem Farmer aber doch die Wahrheit.

      „Nein, Jim“, antwortete sie. „Er weiß nichts davon.“

      „Glauben Sie nicht, daß er wütend wird, wenn er es herauskriegt?“

      „Doch“, sagte Melinda. „Aber ich möchte wenigstens vermeiden, daß Sie hineingezogen werden.“

      „Von mir erfährt er nichts“, sagte Jim Jenkins. „Und wenn Sie mich fragen, Miss, dann gibt es in der ganzen Gegend niemand, der Sir Hector etwas erzählt, was ihn in Wut bringt.“

      „Das glaube ich gern“, sagte Melinda. „Trotzdem ist es besser, wenn ich gar nicht erst gesehen werde.“

      Als sie durch Oakle fuhren, hielt Melinda den Kopf gesenkt. Die paar Häuser lagen schnell hinter ihnen, und Melinda atmete erleichtert auf.

      „Hab ich’s nicht gesagt?“ Jim Jenkins lachte. „Faulenzer sind das in Oakle.“

      Es war noch nicht einmal fünf, als sie in Leminster ankamen. Jim Jenkins wollte Melinda am Bahnhof absetzen, aber sie lehnte dankend ab, denn der Bahnhof war ein ganzes Stück vom Markt entfernt, und Melinda fand außerdem, daß es wahrscheinlich weniger auffallen würde, wenn sie zu Fuß hinging.

      „Vielen Dank, Jim“, sagte sie und reichte ihm die Hand. „Sie haben mir sehr geholfen. Ich hoffe nur, daß Sie nicht in Schwierigkeiten kommen.“

      „Ach wo“, sagte Jim Jenkins. „Viel Glück.“

      Er schüttelte ihr die Hand.

      Als Melinda von ihm wegging, hatte sie das Gefühl, ihren letzten Freund zurückzulassen. Diese Farmer waren brave, zurückhaltende Menschen. Nicht eine Frage hatte er ihr gestellt, sondern die Situation einfach als gegeben hingenommen. Sie hatten wenig zusammen gesprochen, und so hatte Melinda Zeit gehabt, sich für das zu rüsten, was vor ihr lag.

      Sie kam am Bahnhof an und erfuhr, daß der Nachtexpreß aus dem Norden um sechs Uhr in Leminster hielt. Sie ging zum Schalter und erkundigte sich nach dem Fahrpreis bis London. Der Unterschied zwischen der Ersten und der Zweiten Klasse war horrend. Sie zögerte kurz, überlegte sich aber dann, daß sie am falschen Platz sparte, wenn sie in einem der offenen Wagen fuhr. Sie besaß an Kleidung nur das,


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