Die Welt, die meine war. Ketil Bjornstad

Die Welt, die meine war - Ketil Bjornstad


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kicherten und lachten. Putzten uns nacheinander die Zähne. Sie sah sich die großen Filmplakate an, die ich an der Wand hängen hatte, von Filmstars, deren Filme ich noch gar nicht sehen durfte. Natalie Wood. Audrey Hepburn. Margarete Robsahm wagte ich nicht hinzuhängen, obwohl Tante Svanhild den Film am Tag der Premiere gesehen hatte. Sie ging jeden Donnerstag um fünf ins Kino. Immer allein, ins Frogner Kino. Oder ins Gimle. Zur Not ins Saga, Scala, Klingenberg oder eins der anderen Kinos unten in der Stadt.

      »Der war überaus gewagt«, sagte sie mit einem geheimnisvollen Lächeln.

      Gewagt, überlegte er. Wieso denn? Was zeigte diese schöne blonde norwegische Schauspielerin denn, was so gefährlich war? Das gleiche, was Leah vielleicht in einigen Minuten zeigen würde? Einen nackten Mädchenkörper? Vielleicht hätte er doch ein Bild von Margarete Robsahm aufhängen sollen. Oft stahl er sich einige Münzen aus der gemeinsamen Kasse der Eltern, um sich Filmzeitschriften zu kaufen. Die hatten so glänzendes Papier. Die Mädchen waren schön. Strahlten. Große Augen. Knallrote Lippen. Fast, als ob sie wirklich wären.

      Allein im Zimmer mit Leah. Sie wagten wohl nicht, Leah mit seinem Bruder alleinzulassen, denn der war drei Jahre älter, so alt wie sie. In dem Alter war offenbar alles möglich.

      Er ist so aufgeregt, glücklich und froh. Seine Wangen werden rot. Und Leah lacht ihr klingendes Lachen. Lächelt ihn an, als ob sie ihn die ganze Zeit neckte. Aber das ist nicht gemein. Er wird gern geneckt, wenn Leah das macht.

      Sie haben seinem Bruder und den Erwachsenen gute Nacht gesagt.

      Sie sind allein in seinem Zimmer, hinter einer geschlossenen Tür. Sie machen eine Kissenschlacht. Sie hüpfen auf dem Bett auf und ab und bewerfen sich gegenseitig mit Kissen.

      Leah wird es warm, und sie zieht ihr Nachthemd aus.

      Splitternackt steht sie vor ihm und lacht. »Du hast einen stehen!«, kichert sie.

      »Wieso denn stehen?«, fragt er.

      19

      Er denkt oft an Abel und Leah. Jeder ihrer Besuche ist wie ein Traum. Immer darf er hinten auf Abels Motorrad aufsitzen, auch wenn seine Mutter wütend wird und es verbieten will. Es ist zu gefährlich. Aber Abel verspricht, langsam zu fahren. Er wird nur ganz wenig Gas geben, sagt er, dann dreht er voll auf, und das Motorrad jagt wie ein Pfeil durch den Melumvei. Bis zum Grinidam braucht es weniger als dreißig Sekunden. Er hält sich fest, während sie nach Lijordet hochfahren. Das hier ist das Jet-Zeitalter. Ist es so ein Gefühl, wenn man fliegt? Die SAS hat von der Swissair zwei Convair-600-Coronado-Maschinen ausgeliehen. Die schaffen angeblich fast tausend Stundenkilometer. Das ist etwas anderes als das viermotorige Propellerflugzeug, mit dem sein Vater einige Monate zuvor aus Spanien gekommen ist. Sie waren mit dem Bus nach Fornebu gefahren, um ihn abzuholen. Schließlich flog der Vater nicht jeden Tag. Und was in aller Welt hatte er in Spanien gewollt? Er erinnert sich, wie das Flugzeug gelandet ist und wie der Vater herauskam, zusammen mit den anderen Fluggästen, leichenblass im Gesicht. Er hatte sich offenbar eine Lebensmittelvergiftung zugezogen. Er saß drei ganze Tage lang auf dem Klo. Aber er hatte Geschenke im Gepäck. Eine Señorita-Puppe mit rotem Flamencorock, die an Leah erinnerte. Einen 8-Millimeter-Schmalfilm, dessen Inhalt der Vater nicht kannte und bei dem es dann um einen Stierkämpfer ging, der in einer riesigen Arena einen großen schwarzen Stier tötete. »Widerlich«, sagte die Mutter. Er selbst sah sich den Film oft heimlich an. Er liebte das Verbotene, genau wie Abel. Abel hätte über diesen Film sicher gelacht. Abel hätte sicher auch gelacht, wenn er mit einem riesigen Auto zusammengestoßen und zu Hackfleisch geworden wäre. Natürlich nur, wenn er dann noch lachen könnte. Er musste einmal etwas Schreckliches erlebt haben. Abel fürchtete sich vor gar nichts mehr. War es so, wenn man Jude war? Er sitzt hinten auf dem Motorrad. Er ist fast neun Jahre alt und hat die Arme fest um den Erwachsenen geschlungen, der nur Rohkost und Schokolade isst. Er denkt, dass er eines Tages auf Reisen gehen wird. Der Vater hatte eine SAS-Broschüre mitgebracht, in der alle Flugstrecken in eine Weltkarte eingezeichnet waren. Zusammen mit Mads hatte er sich diese Karte genau angesehen. Die SAS flog nach New York und Moskau, nach Wien und Warschau. Sie flogen nach Istanbul, Ankara, Teheran, Beirut, Damaskus, Kairo, Abadan, Bagdad, Manila und Jakarta, und natürlich in alle europäischen Städte. Und nach Montreal, Anchorage, Søndre Strømfjord, Santiago, Rio, Montevideo und Buenos Aires. Er wusste nicht, dass er mehr als fünfzig Jahre später dieses Streckennetz nicht wiedererkennen würde. Dass sich die Welt verändern könnte. So, wie er sich auch veränderte, Tag um Tag, mit einer Ausnahme.

      Fräulein Ätschbätsch hatte total versagt bei ihrem Versuch, ihn zum Rechtshänder zu machen. Jetzt hatte er sogar schreiben gelernt, und er wusste, dass er niemals, unter keinen Umständen, die richtige Hand benutzen würde. Nur beim Klavierspielen konnte er die rechte Hand benutzen, zusammen mit der linken. Aber das hatte er ihr noch nicht gesagt.

      Dreimal pro Woche wird er weiterhin aus der Klasse geholt und muss über den leeren Schulhof zu dem Haus im Wald gehen. Da erwartet sie ihn.

      Sie tut ihm immer mehr leid. Der krumme Rücken. Die verstockte Freundlichkeit. Sie begreift nicht, dass er ein Spiel spielt. Dass er sich bereits entschieden hat. Dass ihre Bemühungen sinnlos sind. Dass er sich nur verstellt.

      Sie stopft ihm keine Süßigkeiten mehr in den Mund. Ab und zu, wenn er nach einer Stunde in einem Hauptfach müde oder wenn sein Magen aufgequollen ist, weil er zum Frühstück zu viele rohe Zwiebeln gegessen hat, kann er abweisend wirken. Dann sieht er in ihren Augen etwas Trauriges, das ihn rührt. Er sieht, dass die Erwachsenen nicht immer so stark sind, wie sie vorgeben. Er sieht, dass sie bald sterben wird.

      Sie packt seine Hände, als wäre er eine Puppe. Es ist ein starker Griff, aber kein unfreundlicher. Er lässt sie gewähren. Er lernt etwas Wichtiges, das ihm später im Leben oft helfen wird: Ausweichen. Den Kampf nicht aufnehmen. Nicht auf seinem Standpunkt beharren. Es ist so leicht, das zu tun, denn es gibt keinen Widerstand. Keine Konflikte. Und dann glauben sie, sie könnten ihn fangen. Aber sowie er allein ist oder sich ungesehen wähnt, ist er frei. Dann schreibt er wieder mit der linken Hand. Das ist sein kostbares Geheimnis: Niemand kann über ihn bestimmen. In seinem Reich ist er Chruschtschow. Er ist Kennedy. Er ist Diktator für einen einzigen Menschen: sich selbst.

      Ihr ganzes Leben hat sie dafür gearbeitet, dass Kinder es besser haben. Deshalb schreibt er mit der rechten Hand, so lange er bei ihr ist. Buchstaben, die unleserlich sind. Sie sagt, er sei tüchtig, während Darmgase aus ihr heraussickern. Körperdünste, die sich mit dem Geruch von verfaulenden Pilzen, Kalk und Lavendel mischen.

      Er lässt sich nichts anmerken. Lügt wie gedruckt. Er merkt, dass sie sich freut. Hat sie es wirklich geschafft? Schreibt er jetzt mit der rechten Hand? Kommt ihm das ganz natürlich vor?

      Fräulein Ätschbätsch sieht ihn triumphierend an. Sie ist stolz auf sich, weil ihr etwas gelungen ist. Ein gehorsamer Schüler, der tut, was sie sagt. Davon hat sie nicht allzu viele.

      Wenn er wieder in der Klasse ist, lässt er sich nichts anmerken. Er schreibt mit links. Verschmiert Tinte auf dem Papier, wenn seine Handfläche die noch nicht getrocknete Schrift verwischt. Er spürt die Blicke der anderen. Sie sehen ihn an. Einige Mädchen kichern. Er wird rot. Denkt daran, was sie denken. Dass er es auch diesmal nicht geschafft hat.

      Ledsaak steht an der Tafel und beobachtet das alles. Er sagt nichts.

      Viele Jahre später wird er denken: Die größten Helden sind nicht immer die, die handeln, die eingreifen, die etwas sagen. Sondern manchmal auch die, die im richtigen Augenblick den Mund halten.

      20

      Sonntag, 26. Februar 1961. Er geht mit Vater und Bruder über die Wiesen bei Grini. Der Vater hinkt nicht so stark, wenn er auf Skiern geht. Er hat riesige Holzskier, die so viel wiegen wie ein Mensch. Auf denen gleitet er vorwärts, in langsamen, entschiedenen Zügen, während ihm der Schweiß über die Stirn läuft. Selbstgestrickte Ohrwärmer. Der Sonnenuntergang ist flammendgelb und blaurot. Vor Einbruch der Dunkelheit schaffen sie es nicht zurück in den Melumvei. Vielleicht dürfen sie von Eiksmarka nach Røa die Straßenbahn nehmen? Das haben sie schon mal gemacht, zweimal sogar, auch wenn der Vater sagt, dass sie es sich nicht leisten


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