Die Welt, die meine war. Ketil Bjornstad

Die Welt, die meine war - Ketil Bjornstad


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abstürzt. Nur drei Wochen vorher wurde er ins All geschossen, nachdem die Amerikaner ihre erste Minuteman-Rakete gestartet hatten, die in weniger als fünfzehn Minuten viertausend Meilen fliegen konnte. Sputnik sollte die Venus erforschen und zwei Jahre später in den Pazifik stürzen. Aber etwas ging schief und das Raumschiff kehrte zurück in die Atmosphäre.

      In die Natur hinausgehen. Das hasst er, aber der Vater findet es wichtig. Was ist wichtig? Die schweißnasse Wollkleidung, die kratzt, die Strümpfe, die ins Fleisch schneiden, die Stiefel, die scheuern, die Skier, die wegrutschen, der Saft der Apfelsine, der in die Fäustlinge läuft, der Rotz, der in den Nasenlöchern gefriert. Das einzig Tröstliche ist die Kvikk Lunsj-Schokolade.

      Er sieht, dass der Vater nachdenkt. Er denkt derzeit sehr viel nach. Es sind gewaltig große Gedanken. Und dann werden die beiden Brüder neugierig. Hinten im Sonnenuntergang hängt eine Wolke, die aussieht wie ein Pilz. Wie ein Atompilz? Aus der Wochenschau kennt er die alte Aufnahme: eine explodierende Atombombe und der Rauchpilz, der danach entstand. Das macht weder ihm noch Mads Angst. Sie fühlen sich sicher in ihrer Kindheit. »Wir müssen Vertrauen zu den Erwachsenen haben«, hat Mads einmal gesagt. »Sonst haben wir keine Chance.«

      Aber da geht der Vater und hat durchaus kein Vertrauen zu den Erwachsenen.

      »Siehst du den Atompilz, Vater?«

      »Mach keine Witze darüber, Ketil.«

      »Warum nicht? Abel macht über alles Witze.«

      »Abel ist Abel«, sagt der Vater fast wie zur Entschuldigung. Lange gehen sie schweigend weiter.

      »Am Dienstag geht es los.«

      »Was geht am Dienstag los, Vater?«

      »Der große Atommarsch. Endlich. Das hätte schon längst passieren müssen.«

      »Gehst du zusammen mit Ulf?«

      »Hoffentlich kommen noch viel mehr außer mir und Ulf.«

      »Ich will mitkommen!«, sagt Tormod.

      »Ich auch!«, sage ich.

      »Natürlich kommt ihr mit.«

      »Mutter auch?«

      »Die mag keine Demonstrationen.«

      »Die mag Ulf nicht.«

      »Doch, aber sie findet, dass ich zu oft mit ihm zusammen bin. Und vergesst nicht, Mutter hat so viel anderes zu tun. Ohne Mutter würde dieses gesamte Bauwerk einstürzen.«

      »Welches Bauwerk?«

      »Das Bauwerk, das Familie Bjørnstad heißt, natürlich.« Er lächelt. Aber es ist ein trauriges Lächeln.

      Sie haben es nicht leicht, Mutter und Vater. Wenn ich einen Blick in dieses Bauwerk werfe, sehe ich vier Personen, die in ihrer eigenen Welt leben und die einander zugleich wahnsinnig gern haben. Ich habe das glänzende Bild von Mitzi Gaynor in mein Kinderzimmer gehängt. Sie spielt die Hauptrolle in South Pacific, das gerade in 70-Millimeter-Format im Colosseum läuft. Mutter hat gesagt, dass wir den Film zusammen sehen werden, aber so weit kommt es nie. Am Ende muss sich dann doch Tante Svanhild erbarmen. Mitzi hat Brüste, die geradeaus ragen. Das ist vielleicht doch zu viel. Leah hat gar keine Brüste, und das gefällt mir viel besser.

      Dann ist da das Zimmer meines Bruders. Es liegt für mich in einem ewigen Halbdunkel. Ich habe keine Ahnung, was er dort drinnen treibt. Er ist in allem tüchtiger als ich. Das ist das Teuflische, wenn man einen großen Bruder hat. Man hat keine Ahnung, was der treibt, weil er so viel mehr lernt. Die Rechenaufgaben in seinem Buch sind für mich total unlösbar. Außerdem ist er gut in Deutsch. »Wir sind alle fleißig und gehorsam.« Und nachts liegt er unter seiner Decke und hört Luxemburg in seinem kleinen Radio. Wenn Mutter das wüsste, sie hasst Popmusik doch. Er hat alle Bücher über die Hardy Boys und drei aus der Norman Conquest-Serie gelesen. Bücher, auf die ich mich noch nicht konzentrieren kann. Da sind die politischen Artikel in Aftenposten, Orientering und Dagbladet schon leichter, denn sie sind viel kürzer und außerdem kann ich mit Mads darüber reden. Mads liest keine Jugendbücher. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis er sich über die norwegischen Gesetzessammlungen hermacht.

      Aber das Bauwerk. Der große warme Raum, das Wohnzimmer, wo Mutter Kerzen anzündet und sich über die Bilder beugt, die sie retuschieren soll, während Vater ein dickes Buch liest. Mein Bruder spielt Klavier, und ich liege auf dem Sofa und starre Löcher in die Luft. Das Glück wohnt in diesem Raum. Deshalb sind wir so gern dort. Dort sind wir alle zusammen. Sonst ist Mutter unten in der Waschküche und schrubbt Kleidung mit Waschbrett und Bütte. Oder sie ist in der Küche und kocht Leber in Sahnesoße oder putzt den kleinen gelben Kühlschrank, den wir gerade bekommen haben und auf dem mein Bruder und ich Marmeladeflecken hinterlassen haben. Oder sie putzt den Boden. Oder sie bügelt. Oder sie hängt Wäsche zum Trocknen auf. Oder sie bezieht die Betten neu.

      Es ist dunkel, als wir endlich zurück in den Melumvei kommen. Ich sehe Mutters Schatten hinter dem beschlagenen Küchenfenster. Schon in der Haustür riecht es nach Hammeleintopf.

      Zwei Tage später findet der große Anti-Atommarsch statt. Ich frage Mads, ob er nicht mitkommen will. Er antwortet ausweichend. Vielleicht ist sein Vater für Atomwaffen, denke ich. Oder er findet, dass fast neun Jahre alte Jungs bei Demonstrationen und Protestmärschen nichts zu suchen haben.

      Vater sieht das anders.

      Er will, dass wir das hier erleben. »Protest gegen Atomwaffen« steht auf dem Haupttransparent. Unten in der Stadt liegt fast kein Schnee, aber noch immer ist Winter. Die Männer tragen lange Mäntel und breitkrempige Hüte. Die Frauen, von denen nicht so viele dabei sind, tragen Mäntel und Kopfbedeckungen in allen möglichen Farben. In Oslo setzen sich gleichzeitig vier verschiedene Züge von unterschiedlichen Orten aus in Bewegung. Alle treffen sich am Fridtjof Nansens plass, wo die Teilnehmer sich im Hof des Rathauses versammeln und Appellen und Reden lauschen werden. Ulf kommt die Bygdøy allé herunter. Vater ruft ihm aus dem Gewimmel zu und schon ist er bei uns. Der freundliche Mann, der nur lächeln und kichern kann, egal, worüber gerade diskutiert wird. Man sollte eigentlich nicht glauben, dass er gegen irgendetwas protestieren kann.

      Er merkt, dass die Stimmung in seiner Umgebung ernst ist. Als ob sie gegen den Untergang der Welt protestierten. Und das tun sie ja auch, denkt er. Wenn die Atomwaffen zu einem Teil des Kalten Krieges werden. Bei der Demo sind kaum Kinder dabei. Nur einige Mädchen und Jungen auf Fahrrädern, die versuchen, Ärger zu machen. Er dreht ihnen eine lange Nase. Sie antworten mit Grimassen, während Ulf dem Vater strahlend erzählen kann, dass sie über 150 000 Unterschriften gegen Atomwaffen gesammelt haben und dass es in allen großen Städten zu Protestmärschen kommt.

      Ein junger Mann springt auf die Rednertribüne. Arne Haugestad, 25. Er merkt, dass er diesen Mann mag. Die Intensität. Die Art, in der er die UdSSR und die USA angreift. Mads würde ihn auch leiden können. Haugestad hat überhaupt keine Angst vor Autoritäten. Heißt auch nicht alles gut, was aus Amerika kommt. Haugestad ist Vorsitzender des Studentenverbandes. Studiert Jura. Ja, er hat ein bisschen Ähnlichkeit mit Mads, denkt er. Was bringt ihn dazu, einen bestimmten Menschentyp vorzuziehen und anderen aus dem Weg zu gehen? Er weiß nicht, dass er Haugestad wieder begegnen wird. Viele Jahre später. Dass dieser Mann in seinem Leben besonders wichtig sein wird. Dass noch weitere solche Mads-Typen in sein Leben treten werden, aber nicht allzu viele, weil es so viele eben nicht gibt. Die nicht still in der Schafherde verharren und alles hinnehmen. Die nicht fliehen, wenn die anderen fliehen, und die nicht schlafen, wenn die anderen schlafen. Die Gedanken fliegen, während er dort steht und lauscht. Er prägt sich den Namen ein. Vergisst ihn nie. Aber dann kommt der Gesundheitsdirektor, Karl Evang, den er noch nie leiden konnte, weil der diese widerliche Yankee-Frisur hat, die er selbst jetzt auch haben muss, seit in der Schule Läuse entdeckt worden sind. Außerdem ist Evang schuld an Brustschwimmen, Skiwanderungen, Apfelsinen und allem, was als gesund gilt, aber nur abscheulich ist. Vielleicht hat auch Evang Läuse, und deshalb steht er da mit seinen kurzen Haaren und predigt? Er beobachtet, dass der Vater zuhört und applaudiert, als nun Johan B. Hygen spricht, der Theologieprofessor. Viel älter als Haugestad, schon fünfzig. Aber er wirkt trotzdem jung. »Wir sind weder Wölfe im Schafspelz noch Schafe im Wolfspelz«,


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