Die Welt, die meine war. Ketil Bjornstad
könnte. Die Wahl fiel auf Kudryavka (die Kleine mit den Locken), eine Streunerin, die in den Straßen von Moskau aufgegriffen worden war. Die Ingenieure hatten eine Vorliebe für Hunde aus Moskau. Die waren an Hunger und extreme Kälte gewöhnt. Die UdSSR hatte seit 1951 bereits zwölf Hunde in eine ballistische Bahn geschossen. Jetzt sollte also ein Hund in eine Umlaufbahn um die Erde gebracht werden, und das war etwas ganz anderes. Sie wurde in Laika umgetauft (die, die heult oder bellt). Aber die Behörden hatten es eilig. Die Ingenieure hatten nur vier Wochen Zeit, um Sputnik 2 zu bauen. Futter in Gelatineform wurde entwickelt, das durch Schläuche in den Magen eingeführt werden sollte. Das Futter würde für sieben Tage reichen. Danach würde Laika mit einer Dosis vergifteten Futters getötet werden. Ein Ventilator wurde installiert, der sich in Bewegung setzen sollte, wenn es zu warm würde. Zudem wurde eine Art Zaumzeug entworfen, das Laikas Möglichkeiten, zu stehen, zu sitzen oder zu liegen, an den Tagen vor ihrem Tod begrenzen sollte, weil in der Kabine nicht genug Platz war, um sich umzudrehen. Zudem wurde zwischen Laikas Hinterbeinen ein Beutel angebracht, um ihre Exkremente aufzufangen. Um die Hündin auf ihre Reise vorzubereiten, wurde sie bis zu zwanzig Tage hintereinander in immer engere Käfige gesperrt, als der Starttermin für Sputnik 2 noch längst nicht feststand. Nun hörte das Tier auf, zu urinieren oder Exkremente abzusondern. Die Wissenschaftler maßen zudem erhöhten Stress und eine allgemeine Verschlechterung der Lebensumstände. Aufgrund dieser Entdeckungen wurde nun auf hartes Training gesetzt. Laika wurde in eine große Zentrifuge gesteckt, die die Schwerkraftverhältnisse simulieren konnte. Es stellte sich heraus, dass sich ihre Pulsschläge verdoppelten und dass der Blutdruck stieg, aber das war nichts im Vergleich dazu, was dann beim Start passierte. Inzwischen steckte Laika schon seit drei Tagen in der kleinen Raumkapsel. Wegen der Kälte in der Umgebung um den Monatswechsel November/Dezember war ein an einen Heizkörper angeschlossener Schlauch notwendig, wenn Laika nicht erfrieren sollte. Einige Tage vorher hatte einer der Wissenschaftler Laika mit nach Hause genommen. Er hatte bedauert, dass die Hündin nur noch so kurze Zeit zu leben hatte. Deshalb ließ er sie einige Stunden mit seinen Kindern spielen.
Als Laika dann wieder in der Kapsel steckte, wurde die Sache ernst. Zwei Männer sollten Laika in den Stunden vor dem Start überwachen.
Sie desinfizierten ihr Fell mit einer alkoholhaltigen Flüssigkeit und bürsteten es sorgfältig. Dann rieben sie bestimmte Stellen an ihrem Körper mit Jodtinktur ein, damit die Sensoren für die wissenschaftlichen Messapparate angebracht werden konnten.
Danach nahmen sie Abschied von ihr, versiegelten die Tür von Sputnik 2 und verließen den Startbereich.
Sowie die Rakete ihre Geschwindigkeit steigerte, vervierfachte sich Laikas Atemfrequenz. Ihr Herzrhythmus stieg von 103 auf 240 Schläge in der Minute. Als Block A der Rakete sich nicht planmäßig ablöste, funktionierte die Temperaturregelung nicht mehr. Die Temperatur stieg auf 40 Grad, nach drei Stunden der Schwerelosigkeit sank der Puls der kleinen Hündin auf 102. Unten auf der Erde konnten die Wissenschaftler messen, dass sie unruhig war, aber sie verzehrte den Teil des Futters, der nicht intravenös gegeben wurde. Zwei Stunden später waren keine Lebenszeichen mehr wahrnehmbar. Fünf Monate lang sollte sie tot die Welt umkreisen, 2570 Umkreisungen insgesamt. Später kamen die Wissenschaftler zu dem Schluss, dass sie an Überhitzung und Stress gestorben war, nur wenige Stunden nach dem Start. Oro Jaska Beana. Armer Hund. Es war nicht einmal ein Trost, dass die Amerikaner für solche Experimente Schimpansen und Rhesusaffen vorzogen.
Der Winter mit Laika. Vater ging mit uns nach draußen, um sie zu sehen, als sie wie ein Stern über den Himmel jagte. Wir standen im Garten im Melumvei und sahen Sputnik 2 kommen. Das kleine starke Licht, das über den Sternenhimmel glitt. Einfach nur eine Raumkapsel. An Bord lag Laika, mit einem Schlauch im Magen und einem Beutel zwischen den Hinterbeinen. Was hatte sie im Sterben wohl gedacht?
Manchmal weinte ich. Manchmal weinte mein Bruder. Andere Male standen wir einfach nur da und schauten nach oben. Der Kosmos war so groß. Die Milchstraße. Der Große Bär. Der Gürtel des Orion. Laika, die über den Himmel sauste.
Vater schüttelte den Kopf. Er liebte die Wissenschaft. Aber dieses Experiment fand er unerträglich.
Hoffentlich denkt Gagarin nicht vor allem an Laika, wenn er an diesem Tag im April um neun Uhr morgens Moskauer Zeit mit der Wostok 1 hochgeschossen wird. Die gewaltigen Erschütterungen, wenn eine Rakete auf dem Weg in den Weltraum ist. Er liegt angeschnallt da, und es gibt nichts, was er tun könnte. Er hat keine Möglichkeit, das Raumfahrzeug zu lenken. Der alte Jagdflieger aus der MiG-15, der auf dem Luftwaffenstützpunkt Luostari im Oblast Murmansk ausgebildet worden war, hat keinerlei Herrschaft über sein eigenes Fahrzeug. Man weiß nicht, wie ein Mensch reagiert, wenn er ins Weltall geschossen wird. Deshalb wird alles vom Boden her gesteuert.
Nach einigen Minuten befindet er sich in der Umlaufbahn um die Erde. Und er ruft: »Ich sehe die Erde! Sie ist so schön!« Er hat einen Umschlag mit einem Schlüssel, den er benutzen soll, wenn alles schiefgeht, aber auf diesem Flug entscheidet nicht er. Deshalb sagt er: »Ich weiß nicht, ob ich der erste Mensch im All bin oder der letzte Hund.«
Er fliegt an die 29 000 Kilometer in der Stunde. Er kann die Erdoberfläche aus einer Entfernung von 320 Kilometern sehen. Dann wird er wieder in die Atmosphäre zurückgeholt, nach etwas mehr als einer halben Stunde. Die kleine Kapsel glüht beim Kontakt. Gagarin verliert die Verbindung zur Bodenmannschaft. Siebentausend Meter über dem Erdboden schießt er sich hinaus in den offenen Raum. Dann sinkt er abwärts im längsten Fallschirmsprung aller Zeiten. Das Raumfahrzeug hat ebenfalls einen Fallschirm, aber es geht so schnell, dass ein Mensch nicht überleben könnte. Gagarin landet auf einem Feld in der Nähe der Großstadt Saratow an der Wolga.
Eine alte Babuschka und ihre Enkelkinder kommen angelaufen, als der Mann vom Himmel fällt. Woher kommt er? Ist er Freund oder Feind?
Der Mann sagt, er sei Juri Gagarin, er komme aus dem Weltall und sei der erste Mensch, der jemals den Erdball umrundet habe.
23
In der Nacht träume ich von Laika. Aber ehe ich träume, denke ich an Chruschtschow, der in einer Rede gesagt hat: »Gagarin ist durch das All geflogen, aber er hat dort keinen Gott gesehen.« Das erschreckt mich eigentlich nicht. Es passt zu dem, was Vater denkt, auch wenn er an eine »höhere Intelligenz« glaubt, wie er sagt. Dennoch ist es so einsam, sich den Sternenhimmel als leeren Raum vorzustellen. Nur Kälte und Frost oder gewaltige Hitze. Laikas Leiche, die in dem kleinen Raumfahrzeug ihre Runden dreht. Was hat sie gedacht, als sie dort in der Kapsel lag, ganz allein, und das gewaltige Gebrüll der Trägerrakete hörte, die Beschleunigung, die Erschütterungen, und danach die große Stille draußen in dem dunklen Raum? Ich lebe mich in diese Situation hinein, genauso, wie ich mich in die Gaskammer in San Quentin hineingelebt habe, wieder und wieder. Ich sitze angeschnallt auf dem Stuhl und höre das leise Tropfen der tödlichen Zyanidkapseln, die in den Säurebehälter unten am Stuhl tropfen. Das Blausäuregas steigt auf und hüllt mich in einen unsichtbaren Nebel. Aber ich sterbe nicht! Ich sitze nur da! So, wie Laika dagelegen haben muss, stundenlang, während sie versuchte, aufzustehen. Was ihr nicht gelang, wegen der Riemen. Wo waren die Kinder, mit denen sie einige Tage zuvor gespielt hatte? Wo waren die Menschen, die, früher oder später, die Kapsel öffnen und sie herausholen würden, wie sie das bisher immer getan hatten? Während ich in der Gaskammer sitze, bin ich schon tief in meinem Traum, und zugleich unendlich weit draußen im Weltraum. Nun sehe ich, wie Gagarin vorüberkommt, langsam, in seiner eigenen Kapsel. Sein Gesicht im Raumanzug. Der riesige Helm. Die Mikrofone auf jeder Seite des Mundes. Er versucht zu lächeln. Aber gleich hinter ihm kommen meine Eltern. Erst Mutter in ihrer eigenen Kapsel. Und sie lächelt nicht. Sie starrt vor sich hin. Ich rufe: »Mutter! Mutter! Ich bin auch hier! Siehst du mich nicht? Sieh mich an! Schau nach links, Mutter!« Und dann kommt Vater, ebenfalls in einer eigenen Kapsel. Und er sieht mich. Er sieht durch mich hindurch. Er ist tot! So tot wie Laika! Schon nach wenigen Sekunden ist er in der unendlichen Dunkelheit verschwunden. Aber dann kommt Tormod. Er sitzt ebenfalls in einer kleinen Kapsel. Er hat einen Raumanzug und Mikrofone, und er lebt! Er sagt etwas zu mir. Er versucht zu erklären. Klopft an das Fenster. Erzählt er mir, wie ich hinauskommen kann? Aber ist es nicht lebensgefährlich, die Luke zu öffnen? Ist das nicht der sichere Tod? Er schüttelt den Kopf. Da sehe ich seine Hände. Auch er will die Luke öffnen. Wir müssen das