Die Welt, die meine war. Ketil Bjornstad

Die Welt, die meine war - Ketil Bjornstad


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und ich werden überleben. Ich öffne die Luke. Ich krieche aus der kleinen Kapsel. Werde ich jetzt schweben? Mit Tormod zusammen schweben? Werden wir zurechtkommen, obwohl Vater tot ist und Mutter wie versteinert um den Erdball kreist, wieder und wieder? Vielleicht können wir auch ihre Kapsel öffnen. Sie hinaus in die Freiheit holen, in den großen Raum, wo uns niemand erreichen kann.

      Wir gleiten aus der Kapsel, Tormod und ich. Ich strecke die Arme aus, mache mich bereit zum Fliegen. Tormod tut es mir nach. Es ist wie bei der Eurythmie in unserer Schule. Die großen, unförmigen Körper. Jetzt sind wir noch größer, das verdanken wir den Raumanzügen. Aber wir sind doch nicht schwerelos! Wir sind betrogen worden. Wir fallen und fallen. Hilflos sind wir. Ach und weh! Wir fallen zur Erde. Auf das große blaue Meer zu. Es kitzelt in meinem Bauch. Ich versuche es mit Brustschwimmen, aber keine Bewegung hilft.

      In der Schule steht Ledsaak bereit, um uns von Luzifer zu erzählen, der dort oben im Himmel saß, zusammen mit Gott und dem Erzengel Michael. Luzifer war nicht schlecht, sagt Ledsaak. Er war in vieler Hinsicht sympathisch, aber er war von sich eingenommen und stolz. Er wollte sich an Gottes Stelle setzen. Er konnte nicht begreifen, warum seine Kenntnisse und Fähigkeiten nicht so sehr geschätzt wurden, dass alle in ihm den wahren Anführer erkannten. Er wollte der Beste sein und diese Verantwortung übernehmen. Deshalb forderte er Gott heraus, und es kam zum Krieg im Himmel.

      Der Erzengel Michael bekämpfte Luzifer. Danach setzte er sich an Luzifers Platz.

      Luzifer selbst stürzt in die Finsternis und wird von nun an seine vielen Talente und seine reizende Persönlichkeit einsetzen, um die Hölle zu organisieren mit hilfreicher Unterstützung von Mammon und Beelzebub.

      Wir hören Ledsaak zu, wie er dort steht und mit großer Anteilnahme von den Engeln erzählt. Etwas an der Art, wie er redet, bringt mich dazu, Luzifer zu mögen. Jedenfalls bekomme ich eine Gänsehaut, als ich dort mit einem blanken weißen Blatt sitze und mit Wasserfarben Luzifers Sturz in die Hölle malen soll.

      Soll Gott dann Kennedy sein? Oder Chruschtschow?

      Aber an dieser Schule sollen wir nicht so konkret sein. Deshalb male ich einen Engel mit schwarzen Flügeln. Er ähnelt niemandem besonders. Er stürzt in brodelnde Lava.

      Beim Malen betritt ein weiterer Lehrer das Zimmer.

      Er ist strenger als Ledsaak. Zusammen mit Ledsaak hat sich die Klasse gefunden. Es gibt viel Spaß und Vergnügen. Aber jetzt wird es still. Der Lehrer soll Ledsaak etwas ausrichten, aber während die beiden miteinander tuscheln, schaut der andere Lehrer zu meinem Tisch herüber.

      Er sieht, dass ich mit der linken Hand male.

      Ich versuche zu wechseln. Blitzschnell. Aber es ist zu spät. Er kommt auf mich zu. »Hab keine Angst«, sagt er.

      »Ich habe keine Angst«, sage ich.

      Dann steht er da, ohne etwas zu sagen. Ich versuche, mit der rechten Hand zu malen. Das geht nicht gut. Alles verschwimmt. Luzifer ist ruiniert. Gott ebenfalls. Das ganze Bild ist zerstört. Der Lehrer geht zu Ledsaak zurück. Sie sprechen leise miteinander.

      Zwei Stunden später gehe ich wieder über den Platz zum Haus im Wald. Fräulein Ätschbätsch wartet schon auf mich. Sie hat offenbar mit jemandem geredet. Sie packt meine linke Hand. »Das ist Luzifer«, sagt sie.

      »Ach so«, sage ich.

      Dann packte sie die andere Hand. »Und das ist der Erzengel Michael.«

      Langsam begreife ich. Es gibt das Gute und das Böse, auch in meinem eigenen Körper. Jetzt muss ich gegen das Böse kämpfen, sonst wird es mir schlecht ergehen.

      Fräulein Ätschbätsch beugt sich über mich. Packt meine rechte Hand, während ich schreibe. Macht mit großen Bewegungen Buchstaben, sodass die Fingerknöchel weiß werden: »Wieder und wieder. Wieder und wieder. Sprich mir nach, rhythmisch und kraftvoll. Luzifer und Michael. Luzifer und Michael. Wieder und wieder. Wieder und wieder.«

      24

      Exil-Kubaner und Batista-Anhänger versuchen eine Invasion auf Südkuba, nach vielen Monaten im Exil. Fidel Castro ist Chruschtschows Mann, und Kuba liegt gefährlich nahe an den USA. Es ist der 17. April 1961. Eine Gruppe von 1500 Exil-Kubanern beteiligt sich an der Aktion, und 1300 von ihnen gehen mit zwei CIA-Agenten an Land. Sie haben sich für ihren Invasionsversuch die Bahía de Cochinos ausgesucht, die Schweinbucht. Aber in Kuba warten 25 000 Soldaten, 200 000 Milizionäre und 9000 bewaffnete Polizisten. Schon nach drei Tagen sind die Invasionstruppen besiegt, und sie stecken fest in den Mangrovensümpfen an der Westküste, in den Savannen im Osten oder an den Stränden.

      Als Castro später zur Bevölkerung spricht, erwähnt er Kennedy nicht ein einziges Mal namentlich. Er weiß, dass eigentlich das Regime von Eisenhower und Nixon hinter dieser Aktion steckt. Kennedy sitzt noch keine drei Monate im Weißen Haus. Castro will dem Verhältnis zum neuen Präsidenten des Nachbarlandes nicht schaden.

      Fünf Tage danach machen vier französische Generäle unter Führung von Maurice Challe in Algerien einen Putschversuch gegen Frankreich. Sie wollen an der französischen Südküste an Land gehen und de Gaulle absetzen, den sie überaus kritisch sehen. Seit vielen Jahren gab es nun schon den Cafékrieg. Die Gegner bringen sich gegenseitig in Cafés um, schießen einander nieder, wenn sie dort bei Rotwein und Pfefferminztee sitzen. Allein dieser Teil des Krieges hat zu über 15 000 Toten geführt. Viel höher waren die Todeszahlen, als französische Soldaten an der Grenze zu Tunesien und Marokko 900 000 Landminen auslegten, um die Unabhängigkeitsbewegung FNL zu bekämpfen. Frankreich hatte soeben seine Kolonien in Südostasien verloren. Es wollte nicht auch noch Algerien einbüßen. Dennoch war de Gaulle ins Schwanken geraten. Er wollte den Krieg beenden. 25 000 französische Soldaten und 150 000 FNL-Angehörige sollten noch ums Leben kommen. Die Verlustzahlen auf algerischer Seite werden schließlich anderthalb Millionen betragen.

      Aber de Gaulle und seine Soldaten sind vorbereitet. Der Putschversuch wird zurückgeschlagen und Challe stellt sich den französischen Behörden. Der Junge steht am Fenster, als der Vater mit Graubrot und Dagbladet unter dem Arm nach Hause kommt. Die Schlagzeilen sind schwärzer und fetter denn je. Der Vater runzelt auf seine unverkennbare Weise die Stirn. Diesmal geht es also um Algerien. Er ist empört darüber, dass Frankreich in diesem Land eine Atombombe gezündet hat, aber dass die verrückten Generäle in Algerien de Gaulle stürzen und auf französischem Boden an Land gehen wollten, ist Wahnsinn.

      »Was ist denn bloß los?«, sagt er zur Mutter. »Er versucht doch trotz allem, Algerien Selbstständigkeit zu geben.«

      Der Glaube des Vaters an die Demokratie. Humanismus. Der Glaube des Vaters an den Dialog. Die Möglichkeit der langen Gedanken. Der Glaube des Vaters an Camus, der als Pied-noir geboren war. Der Glaube des Vaters an eine europäische Föderation. An alles, was einen neuen Krieg in diesem bereits zerschlagenen Erdteil verhindern kann.

      Aber das alles ist zu hoch für ihn. Und auch zu hoch für Mads. Sie haben mehr als genug zu tun mit UdSSR, USA und Weltraum. Soll denn noch mehr kommen? Ja, es kommt noch mehr. Die Orienterings-Jungs, zu denen Vater so großes Vertrauen hat, trennen sich von den Sozialdemokraten und gründen ihre eigene Partei. SF. Sozialistische Volkspartei, mit Knut Løfsnes als Vorsitzendem, Berge Furre als Sekretär und Finn Gustavsen als Leiter der Ortsgruppe Oslo.

      Der Vater wirkt erleichtert, aber er ist trotzdem nicht sicher, dass dieses politische Projekt gelingen kann. Sie haben sich gewehrt, als es um Atomwaffen und NATO ging. Aber können sie mit den Wünschen der USA umgehen? Und mit Chruschtschow?

      Der Vater sitzt bei Ulf auf dem Dachboden und diskutiert mit seinem Freund, der ohnehin niemals in irgendeine Partei eintreten wird. Ulf will lieber die Bevölkerung mit Demonstrationen, Pamphleten und Aufforderungen zum Protest aufrütteln. Volksaufstand gegen den Krieg. Der endgültige Bruch mit den Machtpolitikern, die die Verantwortung für den Kalten Krieg tragen. Sind die Orienterings-Jungs bereit dazu?

      Er hört dem Vater und Ulf zu und merkt, dass er Bauchweh hat. Das hat er immer, wenn er zum Ballett muss. Er kneift alles zusammen, bis er einfach aufs Klo muss. Sitzt da wie ein Krüppel mit krummem Rücken


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