Die Welt, die meine war. Ketil Bjornstad

Die Welt, die meine war - Ketil Bjornstad


Скачать книгу
auf Zehenspitzen, als ich im Badezimmer gewesen bin, mich gewaschen und mir die Zähne geputzt habe.

      Tormod steht im Gang und sieht mich an. »Warum gehst du auf Zehenspitzen?«, fragt er fröhlich. Ihm ist klar, dass ich etwas im Schilde führe.

      »Ich habe Pilze unter dem Fuß«, antworte ich mürrisch.

      Aber Mutter hat gute Ohren. »Per!«, ruft sie Vater zu. »Ketil hat Pilze. Schmierst du ihn mit der Schwefelmischung ein, ehe er ins Bett geht?«

      Ach verdammt, denke ich. Eins von Vaters Hilfsmitteln. Etwas, das er und Abel im Schokoladenrausch zusammengekocht haben. »Komm zurück ins Badezimmer«, ruft Vater. »Dann schau ich auch mal in deinem Po nach. Aber du hast keine Würmer mehr, oder vielleicht doch?«

      Kindheit. Als ob sie nicht begreifen, dass wir erwachsene Menschen sind, trotz aller Dummheiten, die wir sagen. Jetzt kommt die fiese Schwefelmischung. In einem kleinen, altmodischen Gefäß.

      »An sowas kann man sterben«, sage ich. »Denk an Chessman, Vater.« Ich weiß, dass er immer weich wird, wenn ich diesen Namen nenne. Aber diesmal beißt er nicht an.

      »Chessman ist mit Zyanid getötet worden«, sagt er kurz. »Lass mal sehen.« Ich zeige meine Fußsohlen. »Aber du hast ja gar keinen Pilz«, sagt er beleidigt. Er gibt mir zu verstehen, dass er mitten in einem wichtigen Artikel in Orientering gestört worden ist.

      »Entschuldigung«, sage ich. »Es hat gejuckt. Ich dachte, das wären Pilze.«

      »Aber du hast Lakritz zwischen den Zehen. Wasch dich, Junge!«

      Tormod steht in der Türöffnung und sieht zu. Sein belustigtes Lächeln. Ab und zu sind große Brüder das Nervigste, was es auf der Welt gibt.

      Noch sind es zwei Stunden bis zum Schrei.

      Ich habe versucht, eine Weile allein in der Küche zu sein, aber das ging nicht. Vater sitzt da mit Dagbladet und hat angefangen, seine schrecklichen Furzbrote zu essen. Graubrot, Butter, rohe Zwiebeln und Ziegenkäse. Es gibt kein besseres Essen auf der Welt, aber nach einer halben Stunde verwandelt man sich wegen der Darmgase in einen Raumfahrer. Der Weg zur Schwerelosigkeit ist ungeheuer kurz. Da sitzt er und liest über das Treffen des NATO-Ministerrates, das gerade in Oslo stattgefunden hat.

      Wenn er nur wüsste!

      Aber irgendwann gehen mir die Gründe aus, warum ich noch immer nicht ins Bett will. Ich umarme Vater, der kaum von seinem Artikel aufschaut, mir aber trotzdem einen feuchten Schmatz auf die Wange pflanzt. Danach Mutter, die im Wohnzimmer sitzt und Bilder retuschiert. Porträts der vielen müden Menschen, die sie so schön macht, wie sie kann. »Gute Nacht, mein Schatz«, sagt sie und drückt mich an sich.

      »Wir zwei und der Mond«, sage ich. Aber sie begreift nicht, was ich meine.

      Ich gehe in mein Zimmer. Ich sehe Mitzi Gaynor an. Versuche, mich auf das Gesicht zu konzentrieren, statt auf den riesigen Busen. Sie ist doch so schön. Die wohlgeformten Lippen. Die funkelnden Augen. Die hohen Wangenknochen. Die flaumweiche Haut. Fast so schön wie Mutter. Aber da verläuft die Grenze.

      Ich bin schlecht gelaunt. Sverre macht zu große Pläne. Ich bin nicht dafür geschaffen. Ich kann niemals Einar Rose werden, der in regelmäßigen Abständen mit der Zigarre im Mund durch den Melumvei fährt. Im offenen Chevrolet. Oder ist das ein Cadillac? Ich kann ja nicht einmal einen Fiat von einem Saab unterscheiden. Ich weiß nur, dass er ein Revuekönig ist. Dass er zusammen mit der bildschönen Schauspielerin Wenche Foss, die vielleicht noch schöner ist als Mitzi Gaynor und die fast Tante Svanhild-Qualitäten besitzt, Geld für Grimebakken gesammelt hat. »Ein Musterheim für schwachsinnige Kinder«, wie in einer Illustrierten stand. Es liegt offenbar oben am Randsfjord, und ich hoffe, dass Fräulein Ätschbätsch dort eine Stellung finden kann und ihre Rechte-Hand-Unterweisungen an Kindern fortsetzt, die das dringender brauchen als ich. Ich komme doch zurecht, denke ich.

      Aber stimmt das auch?

      Ich liege in meinem Bett und schaue zur Decke hoch. Ich glaube nicht mehr jedesmal vor dem Einschlafen, dass ich jetzt sterben muss. Diese Zeit ist vorbei. Ich bin ein Kind mit den Qualitäten eines Erwachsenen, denke ich. Nicht einmal Mads oder Sverre sind klüger als ich. Dennoch will ich meinen Intellekt nicht überbewerten. Wenn ich daran denke, worauf ich mich eingelassen habe, bricht mir der Schweiß aus, genau wie Nixon und all den anderen Verlierern.

      Die Vorwarnung zum Schrei kommt um zwei Minuten nach Mitternacht.

      Eine kleine weiße Maus läuft über meine Bettdecke.

      »Hallo, du kleiner Raumfahrer«, sage ich leise. »Bist du sicher, dass das so klug ist?« Ich schalte die Nachttischlampe ein. Nun sehe ich weitere Mäuse. Mindestens sieben. Sie sind aus der Küchenschublade entkommen. Die Situation ist also außer Kontrolle geraten. Und nun höre ich den Schrei. Aber es ist nicht Mutter. Es ist Tormod.

      »Hier sind Mäuse!«, ruft er aus seinem Zimmer. Aber alle wissen ja, dass er zum Schlafwandeln neigt. Was er nachts sagt, wird meistens nicht so wichtig genommen.

      »Schlaf weiter, mein Junge«, murmelt Mutter aus dem anderen Schlafzimmer. »Du träumst doch nur.«

      »Ich träume nicht! Lebende Mäuse, Mutter! Weiße Mäuse auf meiner Bettdecke!«

      Das Haus, das eben eingeschlafen war, wird wieder wach. Voller Angst stehe ich auf und sehe, dass sie überall sind. Das ist das Ende der Welt. Schlimmer als ein Atomkrieg!

      »Nicht auf sie treten!«, schreie ich hysterisch. »Das sind Raumfahrer! Jedes einzelne Leben ist wichtig!«

      Mutter und Vater haben das Deckenlicht angeknipst. »Eine ganze Heerschar«, ruft Vater. »Ganz ruhig jetzt! Nicht voreilig handeln!« Nun höre ich Mutters Stimme. »Ach, was sind die süß!« Sie sitzt im Bett. Beugt sich zum Boden hinunter. Nimmt eine Maus in die Hand. Hebt sie an ihr Gesicht. Redet beruhigend auf sie ein und streichelt sie mit dem Zeigefinger.

      »Mutter?«, frage ich vorsichtig. »Bist du wirklich richtig bei Verstand?«

      »Ich habe mir immer Tiere gewünscht«, sagt sie. »Viele Tiere. Aber ich bin doch allergisch. Und das sind vielleicht ein bisschen viele?« Sie niest heftig.

      »Das glaube ich schon«, sagt Vater, seufzt und holt einen alten Schuhkarton.

      Am nächsten Tag gibt es in der Waldorfschule eine Mäuseauktion. Aber niemand bietet. Unten im Tiergeschäft in der Akersgata sagt immerhin ein freundlicher Verkäufer, dass er alle Raumfahrer nehmen kann.

      Sverre und ich verdienen jeder zwei Kronen.

      Auf der anderen Seite des Atlantik spricht Präsident Kennedy mit James E. Webb, dem Direktor der NASA. »Ich glaube, das Wichtigste, was wir tun können, ist, vor den Russen auf dem Mond zu landen. Ansonsten sollten wir nicht so viel Geld ausgeben, denn eigentlich interessiert mich der Weltraum nicht. Das Einzige, was diese Kosten rechtfertigen kann, ist die Hoffnung, sie zu schlagen, damit wir der Welt zeigen können, dass wir, statt im Weltraumwettlauf zurückzuliegen, sie überholen.«

      Am 25. Mai stellt Kennedy dem US-Kongress das Apollo-Programm vor und sagt: »I believe this nation should commit itself to achieving the goal before this decade is out, landing a man on the Moon and returning him safely to the earth.«

      Mads und ich sitzen im dunklen Saal des Palassteaters und sehen ihn an, als er seine gefühlsbetonte Rede hält und den Funken bei den Menschen entzündet, die er so oft Gottes auserwähltes Volk nennt. »So, God bless America!«, sagt er zu ohrenbetäubendem Jubel.

      »Der hat doch eine Meise«, sage ich.

      »Aber er ist die Zukunft«, sagt Mads.

      26

      Ich bewundere Präsident Kennedy inzwischen heimlich, vor allem wegen seiner Frau. Sie hat einwandfrei Audrey Hepburn-Qualitäten. Aber das sage ich niemandem. Verdammt. Er hat aber auch etwas an sich. Dieses verführerische Lächeln, das zu einem gewissen Punkt in Erinnerungen an Onkel Kjell übergeht. Und ich mag Onkel Kjell, den rauchenden Pianisten, der mit einem Orchester Rhapsody in


Скачать книгу