Die Welt, die meine war. Ketil Bjornstad
während ihn die anderen draußen im Garten anfeuerten. Sein Herz hämmerte, und er war nicht so mutig, wie er erwartet hatte. Warum hatten die anderen alle so verängstigt ausgesehen, als sie wieder zum Vorschein gekommen waren? Was erwartete ihn am Ende des Tunnels?
Eine geschlossene Tür. Dahinter war die Kvikk Lunsj. Das bedeutete, dass er die Tür öffnen musste, obwohl er dahinter einige bedrohliche Geräusche hörte.
Das hier war das Kellerklo des Hauses. Er mochte Kellerklos nicht. Bei den Großeltern in Sarpsborg stand das Klo in einem kalten Raum, in dem es immer nach Schimmel roch. Außerdem hing der Spülkasten ganz oben an der Wand und er musste an einer Schnur ziehen. Scheußlich. Aber egal. Ihm war jedenfalls klar, dass er die Tür öffnen musste, wie alle anderen es auch getan hatten.
Aber als er die Klinke packt und die Tür aufmacht, sieht er dahinter eine erwachsene Person auf dem Klo sitzen. Es ist dieselbe widerliche Konstruktion wie in Sarpsborg, mit dem Spülkasten ganz oben an der Wand. Und das Monster auf dem Klositz ist rot angezogen. Es ist der gemeinste Weihnachtsmann, den er je gesehen hat. Und der sitzt da und bewacht die Kvikk Lunsj-Tafeln, die zwischen seinen Beinen liegen, und schreit, nein brüllt, als er ihn sieht. Ein Ungeheuer! Eine schrecklich beängstigende Person! Ein böses, grauenhaftes Lachen. Der widerliche Bart aus Stahlwolle. Nie im Leben wird er es wagen, die Hand auszustrecken und sich eine Kvikk Lunsj vom Boden zu nehmen. Er schwebt hier in Lebensgefahr. Er macht kehrt und stürzt davon.
Als er ins Licht entkommt, warten schon alle auf ihn. »Wo ist denn deine Kvikk Lunsj?«
Er kann keine Antwort geben. Fleht sie mit Blicken an, nicht zu lachen.
Aber sie lachen. Natürlich lachen sie, alle. »Bist du wirklich so ein Angsthase? Das ist doch bloß Willens Papa.«
Als ob er aus einem Traum aufwacht. Warum hat er daran gedacht? Noch sitzen Abel und Leah im Garten. Noch liegt der Arm der Mutter um seine Schultern. Noch scheint die Sonne. Noch zeichnet Tormod das Profil dieses Mädchens, das für sie beide fast wie eine Schwester ist. Ist er in sie verliebt? Warum nicht? Zwölfjährige haben offenbar starke Gefühle. Er sehnt sich nicht danach, älter zu werden. Er will da sein, wo er gerade jetzt im Leben steht. Auf den großen Flächen, die nur seine Arena sind. An den Orten, die er mit dem Rad erreichen kann, oben in Richtung Brunkollen. Das Gestrüpp, in dem er sich verstecken kann.
Und als er das gerade denkt, hört er den Hubschrauberlärm.
An einem Sonntag, staunt er. Ist das nicht der Ruhetag? Hubschrauber sind nichts für normale Menschen. Sie sind für Generäle und Soldaten. Hubschrauber fliegen fast nie über ihre Gegend. Sie sind böse, sie haben Bomben. Atombomben diesmal?
Seltsamerweise fürchten sich weder Leah noch Tormod. Sie sitzen da wie früher, in Positionen, die wie ein Bild sind, das er selbst von seinem Bruder malen könnte, während der Leah zeichnet. Abel schaut auf. Also kommt da nicht irgendein beliebiger Vogel angeflogen.
Schmeißfliegen.
Da ist wieder diese Assoziation. Er hat doch eben erst an sie gedacht. Ob das eine Vorahnung war? Seine Mutter hat dauernd Vorahnungen. Und sie verabscheut Requien in der Musik. Immer, wenn sie eins gehört hat, ob nun von Verdi oder von Mozart, stirbt gleich danach jemand, behauptet sie.
Nur, weil sie zugehört hat?
Nun kommen also, nur weil er an Schmeißfliegen gedacht hat, Hubschrauber am Himmel angeflogen?
Dieses schreckliche monotone Dröhnen. Das langsame Crescendo. Und jetzt sieht er sie. Ungefähr über Fossumbakkene. Es sind drei. Eine Formation. Sein Magen krampft sich zusammen, seine Mutter merkt es und drückt ihn fester an sich.
»Keine Angst, Ketil. Das sind doch nur Hubschrauber.«
»Die werden genau über uns wegfliegen. Die nehmen uns mit, Mama!«
Mama?, denkt er, sowie er das gesagt hat. Er sagt doch immer Mutter. »Aber Ketil, die sind nicht gefährlich.«
Er hört die Stimme des Vaters. Aber der Lärm der Hubschrauber ist jetzt ohrenbetäubend. Nichts, wo man sich verstecken kann. Die Mutter und die Großmutter im Krieg. Sie liefen über ein Feld. Hatten nichts, wo sie sich verstecken konnten. Die deutschen Jagdflieger kamen im Tiefflug und schossen auf sie. Deshalb hasst sie die Deutschen noch heute. Die Mutter ist nachtragend. Auch wenn sie der liebste Mensch auf der Welt ist. Sie vergisst nicht so schnell.
Er vergisst auch nicht, worüber der Vater mit Ulf gesprochen hat, oben auf dem Dachboden in der Bygdøy allé. Ein Tag wird kommen. Ja, genau das haben sie gesagt. Und vielleicht ist heute dieser Tag!
Er kann nicht mehr. Auch wenn er sie alle liebt und mit ihnen zusammen sterben will, will er auch leben. Noch ein bisschen jedenfalls. Er springt auf und rennt davon. Die Hubschrauber sind jetzt genau über dem Grinidam. Jetzt geht es um Sekunden.
Er reißt die Kellertür auf. Dort unten ist es unheimlich, aber jetzt lässt er es darauf ankommen. Es ist zu weit zum nächsten Luftschutzraum, oben bei der Haltestelle Røa. Er kann nur hoffen, dass die anderen hinterher kommen. Ohne die Mutter ist das Leben nicht lebenswert. Die Mauern beben. Jetzt sind sie genau über ihm. Jetzt können sie schießen.
Er legt beschützend die Arme über den Kopf. Er kneift die Augen zusammen und denkt an Pilze. An den großen Pilz. Den Atompilz. Der allem das Leben nimmt.
Dann wird alles weiß.
27
Sommer bedeutet immer Wehmut. Es regnet und es blitzt. Dann scheint die Sonne durch die Bäume. Dann summen die Mücken. Dann haben Mutter und Vater zu viel Zeit füreinander. Aber sie sind nicht dazu geschaffen, in winzigkleinen Hütten, die der Vater gemietet hat, für Geld, das er nicht besitzt, das er aber angeblich bei der Bank geliehen hat, umeinander herumzuschleichen. Dann kann es zwischen den beiden leicht zum Streit kommen. Mir graust vor diesem Sommer. Ich glaube nicht an die Idylle. Es ist fast nicht zu begreifen, an dem Tag, an dem sich Chruschtschow und Kennedy in Wien treffen und die ganze Welt angrinsen, erzählt der Vater von der Hütte unten auf Østerøya bei Sandefjord. Wir können da offenbar eine ganze Woche wohnen. Wir fahren einige Tage später los.
Der Autor Ernest Miller Hemingway begeht in Ketchum, Idaho, Selbstmord. Es ist der zweite Tag im Juli. Hemingway ist so alt wie die eine Großmutter, noch keine 62. Sie sind im Abstand von einer Woche geboren. Vater hat schon viel über ihn geredet. Der alte Mann und das Meer. Will Vater gerade jetzt an die Küste, weil er das Buch gelesen hat? Der Traum, seinen eigenen Wittling zu fangen. Das hatte er als Kind gemacht. So, wie er über den Wittling sprach. So, wie er über Hemingway sprach.
In das Negative hineingleiten, dachte ich, viele Jahre später. Zu wissen, dass man die falsche Entscheidung trifft, während man sie trifft. Die Beziehung zu Hadley, über die Hemingway spät in seinem Leben schrieb. Die jungen Jahre in Paris. A Moveable Feast. Alles, was noch nicht zerbrochen war. Der Betrug. Die andere. Die, die in The Garden of Eden beschrieben wird. Die Kriege, an denen er teilnahm. Die Invasion in der Normandie. Die Befreiung von Paris. Die vielen Notizbücher, die er später im Hotel Ritz finden sollte, und die er fast vergessen hatte. Zugleich: Der Autounfall 1945, als er sein Knie zerschlug und sich eine tiefe Kopfverletzung zuzog. Die ersten Depressionen, als Freunde wie William Butler Yeats, Ford Madox Ford, F. Scott Fitzgerald, Sherwood Anderson und James Joyce während der Kriegsjahre einer nach dem anderen starben. Kopfschmerzen, Bluthochdruck, Gewichtsprobleme und Zucker. Das Trinken, das fast seine Leber zerstört hätte. Die vielen Manuskripte, die er nicht vollenden konnte. Die Trilogie The Land, The Sea, The Air. Die Arbeit an The Garden of Eden. Die Frau, die in eine neue und glückliche Beziehung eintritt. Sie, die alles zerstört, die er aber trotzdem heiratet, wieder und wieder. Eva im Garten des Paradieses. Danach die fast tödlichen Flugzeugabstürze in Afrika. Ein bisschen wie bei den Kennedys, denke ich später. Schöne, begabte Menschen, die anscheinend alles haben. Und dann geht es trotzdem total zum Teufel. Hemingway fuhr nach Venedig. Dort trank er noch mehr als zuvor. Er wollte die körperlichen Schmerzen betäuben. Zugleich kommt der Literaturnobelpreis. Er sagt der Presse, dass Tanja Blixen, Bernard Berenson und Carl Sandburg den ebenfalls verdient hätten, aber dass er das Geld