Die Welt, die meine war. Ketil Bjornstad

Die Welt, die meine war - Ketil Bjornstad


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vielleicht für einen Sterbenden hielt. Er führte die Schmerzen nach den Unfällen in Afrika an, um nicht nach Stockholm reisen zu müssen, wo er zur Preisübergabe erwartet wurde. Stattdessen schrieb er eine Rede, in der er klarstellte, dass Schreiben bestenfalls »ein einsames Leben« sei. Er schrieb darüber, wie vergeblich es sei, Trost oder Gesellschaft zu suchen. Er schrieb darüber, dass ein Schriftsteller Tag für Tag seine Arbeit allein machen muss in der Gewissheit, dass das, was er geschrieben hat, entweder in die Ewigkeit eingehen oder gar nicht bemerkt werden wird.

      Ketchum. Blaine County. An die 2000 Einwohner, am Fuße des Bald Mountain. Bergwerksstadt. 1784 Meter über dem Meer. Ein Ort für Angeln, Bergtouren, Tennis, teure Boutiquen, Kunstgalerien, Prominente, die sich fort von der Welt wünschen, aber doch nicht ganz.

      Hemingway denkt an die Manuskripte, die in Havanna im Safe liegen. Er ist davon überzeugt, dass ihn das FBI überwacht, und zwar schon seit dem Zweiten Weltkrieg, dass es über ihn ein eigenes Dossier gibt. Als diese Paranoia zunimmt, raten Mary und Saviers ihm, sich in der Mayo-Klinik in Minnesota wegen seines hohen Blutdrucks behandeln zu lassen. Er lässt sich unter Saviers Namen einweisen. Alles geschieht unter tiefster Geheimhaltung. Er wird mit fünfzehn Elektroschocks behandelt und im Januar 1961 entlassen. Nun ist er klinisch deprimiert. Ein Freund beschreibt ihn als mental »vollständig zugrundegerichtet«. Als der Frühling kommt, findet Mary ihren Mann eines Morgens mit einem Schrotgewehr in der Küche. Sie fährt ihn zurück in die Mayo-Klinik, wo er mit weiteren Elektroschocks behandelt wird. Am 30. Juni kehrt er nach Ketchum zurück. Zwei Tage später, am frühen Morgen, schließt er den Verschlag im Keller auf und holt sein Lieblingsschrotgewehr heraus, das er früher zur Jagd benutzt hat. Er lädt es mit zwei Patronen. Dann geht er hinauf in die Diele, hält sich den Lauf in den Mund und bläst sich das Gehirn aus.

      Seine Frau Mary wird von dem Schuss geweckt und ruft sofort das Sun Valley Hospital an. Der Arzt ist rasch vor Ort. Anfangs wird eine Pressemeldung versandt, nach der es sich um einen Unfall handelt. Erst fünf Jahre später gibt Mary Hemingway zu, dass ihr Mann Selbstmord begangen hat.

      28

      Alles wurde so traurig. Auch der Sommer wurde traurig. Die Hütte bei Sandefjord war schön. Aber auch dieses Plumpsklo war voll von alter Kacke. Es gab Fliegen und Bremsen. Und jeden Nachmittag, nach den üblichen Regenschauern, wenn alles nass war, bestand Vater darauf, zum Angeln hinauszurudern. Dann musste er sein Hörgerät an Land lassen. Normalerweise dachte ich nur selten daran, dass Vater nicht nur hinkte, sondern auch taub war, wenn er nicht sein großes Hilfsmittel benutzte, das Knäckebrot, wie wir das nannten, was er in der Brusttasche seines Hemdes befestigte. Dieses Hilfsmittel hatte eine Leitung zum Ohr hoch, die er auf allerlei Weisen zu verstecken versuchte, was aber nie gelang. Vater war ein tapferer Mann. Als ihm aufging, dass er taub und lahm war, war ihm auch klar, dass er sich einen Beruf suchen musste, der möglichst wenig Kommunikation mit anderen verlangte.

      Chemieingenieur.

      Aber dann bekam er das Hörgerät doch in den Griff und musste sich viel mehr anhören, als er sich je hatte träumen lassen. Und nun wurde er wieder aufgeschlossener anderen gegenüber, zu Mutters großer Erleichterung.

      Aber noch immer kann ihn etwas von der alten Abwesenheit überkommen. Vor allem, wenn er vor sich hinrudert. Woran denkt er? An die Atombombe, die kommen und uns alle umbringen wird? Oder denkt er an seine Mutter, die gestorben ist und ihn und alle vier Kinder zurückließ, als er zwei Jahre alt war? Ab und zu holt er Bilder von ihr hervor und zeigt sie uns. Ob sie ihm wohl fehlt? Weint er um sie, wenn er glaubt, dass wir es nicht sehen? Wir haben ein wenig ein schlechtes Gewissen, wenn wir uns die Bilder seiner eigentlichen Mutter ansehen, während wir an die Großmutter denken, die also nicht die echte ist, aber doch so echt, dass sie ihn großgezogen hat. Es fällt uns schwer, uns Vater als Kind vorzustellen. Er ist doch so groß. Und Mutter sagt, dass er immer schon so war. Deshalb heißt er Bjørnstad. Mutter heißt eigentlich Martinsen. Aber sie ist doch nicht die Tochter von Martin, sondern von einem Mann, über den sie nie sprechen, obwohl er viele Jahre lang in Stummfilmen, die in den Kinos von Fredrikstad gezeigt wurden, Geige gespielt hat. Die Großmutter spielte dazu Klavier. Das alles sind Geschichten, die in einen undurchdringlichen Schleier aus Vergangenheit gehüllt sind. Ich kann sie dort nur mit Mühe erkennen, in einer Zeit, die mehr und mehr Licht verliert, während die Tage vergehen. Wer soll sich daran erinnern, wenn ich eines Tages anfange, sie zu vergessen? Und das denke ich, obwohl Mutters Mutter ja noch gar nicht tot ist. Sie kommt mir nur so alt vor, wie sie da in ihrer kleinen Wohnung in Gressvik sitzt, wenn wir zu Besuch kommen, und nach Luft schnappt, während sie alle zehn Minuten ein kleines Spray hervornimmt und sich den Mund damit duscht. »Asthma«, sagt Mutter.

      Es ist der Sommer, in dem ich an einem Seil hinter dem Boot herschwimmen darf. Vater rudert und rudert. Tormod hält Ausschau nach Quallen. »Ein bisschen rechts! Ein bisschen links!«

      Ich liege mitten im Kielwasser. Vater rudert mit rhythmischen Bewegungen. Die ganze Zeit trage ich den Schwimmgürtel. Warum ein Leben ohne Schwimmgürtel leben? Wenn alle Schwimmgürtel benutzten, würde niemand ertrinken. Ich habe Vater gegenüber diese Theorie erwähnt, und er versuchte, ein ernstes Gesicht zu machen, während er nachdenklich nickte. Ich bin trotzdem nicht sicher, was er wirklich meint.

      Wenn wir zur Angelschäre kommen, senken wir die Angelschnüre ins Wasser. Es dauert nie sehr lange, bis ein Fisch anbeißt. Aber meistens ist es die falsche Sorte. Streifenlippfisch. Hornhecht. Petermännchen.

      Igitt! Spitze und giftige Flossen. Schleimige Haut. Und danach sollen wir einige von diesen armen Geschöpfen auch noch essen. Liegt es daran, dass ich Linkshänder bin, dass wir dauernd unnormale Fische an der Angel haben?

      Nur ausnahmsweise kommt ein Seelachs oder Kabeljau, aber nie der Wittling, von dem Vater träumt, den er in seiner Jugend in Skjebergkilen gefangen hat. Das waren noch Zeiten. Da biss der Fisch nach zwei Sekunden!

      Was hat der Sommer an sich, das mich so misstrauisch macht? Wenn ich hier hinter dem Ruderboot hertreibe, denke ich, dass sie einen Außenbordmotor haben könnten, und der würde stehenbleiben, ganz plötzlich, ich aber würde auf meinem Fett weiterschwimmen und mit dem Kopf gegen den Propeller knallen. Ich weiß nicht, dass der amerikanische Astronaut Virgil Grissom fast gleichzeitig vor Cape Canaveral fast im Meer ertrunken wäre. Ich weiß auch nicht, dass Grissom einige Jahre später in der Apollo I verbrennen wird. Feuer, Erde, Wasser, Luft. Manche haben Glück. Andere sind vom Pech verfolgt. Grissom, der am 21. Juli in die Höhe schoss, nachdem der Start zweimal verschoben worden war. Auch diesmal gibt es Probleme. Es stellt sich heraus, dass einer der Bolzen im Kapselverschluss der Mercury-Redstone 4 nicht richtig sitzt. Aber da es neunundsechzig solcher Bolzen gibt, beschließen die Ingenieure von McDonnel und NASA, trotzdem grünes Licht zu geben. Beim Start ist Grissom nervös. Die ersten Sekunden können fatal sein. Als Grissom merkt, dass die Rakete Tempo gewinnt, wird er ruhiger.

      Grissom soll 187 Kilometer Höhe erreichen, ehe er wieder zur Erde zurückfällt. Er spürt die Vibrationen und spricht mit seinem Kollegen Shepard unten auf der Erde, der das alles schon erlebt hat. Das Raumschiff rotiert, aber später übernimmt Grissom manuell die Kontrolle über die Kapsel. Er sieht den Horizont der Erde. Er sieht den blauschwarzen Himmel. Er sagt zu Shepard, es sei schwer, sich zu konzentrieren. Das Universum sei so schön.

      Sechzehn Minuten später landet die Kapsel vor Florida im Meer. Die Liberty Bell treibt im Meer und hat stark Schlagseite nach links.

      Grissom hat das Gefühl, das Raumschiff schwimme auf dem Kopf. Große Hubschrauber, die das Landegebiet umkreist haben, nähern sich der Kapsel. Plötzlich löst sich eine Luke. Das Wasser strömt herein. Grissom kann im letzten Augenblick entkommen und fängt an, um sein Leben zu schwimmen. Er trägt ja nicht gerade eine leichte Badehose.

      Ein Schwimmgürtel, denke ich, als ich später in Aftenposten über diese Aktion lese. Ein Schwimmgürtel wäre ihm eine große Hilfe gewesen.

      Ich habe eine Theorie, so, wie Vater seine Theorien hat. Auch Mutter hat manchmal Theorien. Aber dann lese ich auch, dass Grissom, anders als vor ihm Shepard, nicht zu Kennedy ins Weiße Haus eingeladen wird. Kennedy kann Verlierer nicht leiden, denke ich. Natürlich hätte Nixon Präsident werden sollen.

      Allein


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