Die Welt, die meine war. Ketil Bjornstad
hat ihm ja erzählt, wie überall spioniert wird und dass die Satelliten oben im Weltraum weite Bereiche überwachen. Vielleicht sitzt gerade Präsident Kennedy in seinem ovalen Büro, zusammen mit seinem Bruder Robert, dem Justizminister, und dann taucht Odd Grythe auf dem Bildschirm auf. Mads hatte diese Hypothese schon viele Wochen zuvor aufgestellt, und Mads war einer, der oft recht hatte. Öfter als er selbst jedenfalls.
Jetzt sind sie dran. Es ist eine Direktübertragung. Gleich wird er vor die Kameras treten und aller Welt sein Fett zeigen. Vielleicht sehen die Nähkränzchenmädchen aus seiner Klasse zu? Ein Mann mit Bart und Kopfhörern kommt auf sie zu und fuchtelt mit den Armen, ehe er sie in die Mitte des Raumes scheucht. »Jetzt!«, sagt er. »Jetzt!«
Jetzt muss das Schicksal seinen Lauf nehmen.
25
Die Amerikaner schießen Alan Shepard mit der Freedom 7 hoch. Auf seiner Fahrt wird sein Körpergewicht zwischen null und achthundert Kilo wechseln, ehe es sich dann wieder auf fünfundsiebzig stabilisiert. Aber er soll nur eine ballistische Bahn fliegen, die fünfzehn Minuten dauert, und er wird auch nicht höher fliegen als 187 Kilometer.
»Nicht gerade Gagarin«, sagt Mads.
Vizepräsident Lyndon Baines Johnson schreibt für Präsident Kennedy eine Notiz: »In den Augen der Welt bedeutet Erster im Weltraum Erster überall. Nummer zwei im Raum ist Nummer zwei in allem.«
In dieser Zeit fange ich an, auch mit einem anderen Jungen aus der Klasse zusammenzusein. Er heißt Sverre und wohnt in der Gegenrichtung von Mads, draußen in Eiksmarka, in den großen weißen Blocks, in denen offenbar auch Erik Bye gewohnt hat, als er Anna Lovinda schrieb. Wir können nicht an der Haltestelle Smestad stehen und die großen Krisen der Welt lösen. Stattdessen legen wir uns weiße Mäuse zu. Auch Sverre interessiert sich für den Wettlauf im Weltraum. Er hat genau verfolgt, wie die sowjetischen Wissenschaftler mit Korabl-Sputnik 2 einen ganzen Tierpark hochgeschossen haben. Nicht nur die beiden Hündinnen Belka und Strelka waren an Bord, sondern auch vierzig Mäuse, ein graues Kaninchen, zwei Ratten, Fliegen und allerlei Pflanzen sowie Pilze. Hündinnen sind besser für den Raum geeignet, da sie beim Pissen nicht das Bein heben müssen. Das war nicht nur an Laika getestet worden, sondern auch an den Hunden Desik, Tsygan, Lisa, Ryzhik, Bolik, ZIB, Otvazhnaya, Snezhinka, Albina, Tsyganka, Damka, Krasavka, Bars und Lisichka, die im Laufe der Jahre nicht so viel leiden mussten wie Laika, aber gemeinsam ein Großteil der wissenschaftlichen Grundlage dafür erarbeitet hatten, diesen wahnwitzigen Tierpark ins All zu schicken, wo die Tiere einen ganzen Tag verbrachten, ehe sie glücklicherweise allesamt lebendig zurück auf die Erde gelangten. In gewaltigem Tempo, aber mit Fallschirm.
Sverre und ich waren begeistert von diesem Flug. Zu dieser Zeit wollten wir beide Wissenschaftler werden. Deshalb war die Freude groß, als unsere Elternpaare uns beiden glaubten, dass wir seriöse Raumforscher waren. Jetzt mussten wir die Überlebensmöglichkeiten von weißen Stadtmäusen in Vororten wie Røa und Eiksmarka testen. Hatten sie überhaupt eine Chance? Sie waren doch an das Leben in sicheren Käfigen in Oslo gewöhnt, im Laden Aquarium in der Akersgate, gleich beim Parlamentsgebäude. Obwohl Vater sich keinen Fernseher leisten konnte, half er mir beim Finanziellen, wenn es um Käfig, Sägespäne, rosa und hellblaues Plastikspielzeug und andere Einrichtungsgegenstände ging, die die Mäuse in ihrem neuen Dasein als Vorstadtbürger brauchen könnten. Die Mäuse kosteten auch nicht die Welt, und bald hatte sich in den Raumfahrtzentren Røa und Eiksmarka eine ganze Kolonie von eifrigen und intelligenten Tieren versammelt.
Sverre war ein Anführertyp, obwohl er damals nur siebenundzwanzig Kilo wog. Wir waren in der Klasse alle gewogen worden, und es war peinlich, der Schwerste zu sein mit fast schon vierzig Kilo. Die Mädchen hatten gekichert, aber aus irgendeinem Grund zogen sie mich nie auf, außer beim Völkerball, wenn sie versuchten, mich umzuwerfen. Dann hatte ich manchmal das gleiche seltsame Gefühl wie damals, als Leah zu Besuch gekommen war und wir im Bett eine Kissenschlacht veranstaltet hatten.
Aber wenn ich mit Sverre zusammen war, interessierten mich ganz andere Dinge. Es machte Eindruck auf uns, dass nicht weniger als vierzig Mäuse beim Flug von Sputnik 2 dabeigewesen waren. Wir hatten uns jeder nur zwei leisten können. Nun sollten sie sich ganz schnell vermehren. Es musste doch möglich sein, innerhalb von vier Monaten auch auf vierzig zu kommen? Sverre war besser als ich darin, sich Ziele zu setzen.
In seiner Erinnerung erscheint diese Zeit als eine andere Art von Zeit. Als die große Mäusezeit. Alles drehte sich um Mäuse. Um den Weltraum. Um Vermehrung. Er konnte zusammen mit seinem neuen Freund in den Käfig blicken und begeistert rufen: »Jetzt paaren sie sich!« Er konnte sehen, dass die eine Maus dicker wurde, bis sie zu bersten drohte, ehe die Mäusejungen geradezu aus ihr herausquollen, als ob man Kaviarpaste aus einer Tube quetschte. Er war so stolz auf die Mäuseeltern. Er kostete das Glücksgefühl aus. Auch Sverre war sichtlich gerührt und begeistert. Seine Stimme klang belegt, wenn er darüber redete. Jetzt hatten sie plötzlich insgesamt neunzehn Mäuse. Er hatte neun und Sverre hatte zehn. Es spielte keine Rolle, dass der Freund ihm um eine Maus voraus war. Sie machten das hier ja zusammen. Aber als der nächste Geburtstermin näherrückte, hatten Sverres Eltern genug. Kleinlaut kam Sverre eines Tages in die Schule und wagte fast nicht zu erzählen, was zu Hause in Eiksmarka passiert war. Nicht noch mehr Mäuse. Und die bereits vorhandenen mussten wir verkaufen. Zehn wunderschöne weiße Mäuse verkaufen, deren Anzahl sich bald verdoppeln würde oder vielleicht sogar verdreifachen? Das kam nicht in Frage. Als er Sverres flehenden Blick sah, war ihm klar, dass er eingreifen musste. Dass alle Mäuse im Melumvei untergebracht werden müssten, jedenfalls für eine gewisse Zeit. Er überlegte. Was würden seine Eltern sagen? Die waren zum Glück jetzt oft weit weg, dachte er. Nahmen morgens die Straßenbahn und kamen abends nach Hause. Der Vater war jetzt Redaktionsleiter des Technischen Wochenblattes, und die Mutter arbeitete noch immer bei Fotograf Wickmann, wenn sie nicht abends in der Oper war oder in einem Buchladen Bücher verkaufte. Tormod hatte seine Freunde. Deshalb war er sehr viel allein im Haus. Doch, es müsste gehen. Er konnte natürlich nicht an die vierzig Mäuse in einen einzigen Käfig stecken. Sie mussten verteilt werden. Im Haus gab es viele Schlupfwinkel. Bald würde der Sommer kommen. Dann könnte er im Garten einen Käfig aus Maschendraht bauen, hinter den Johannisbeersträuchern. Aber noch war es nachts zu kalt. Die Erwachsenen trugen Hut und Mantel. Plötzlich fielen ihm die Küchenschubladen ein. Genau! Die Mutter hatte fast nie mehr Zeit zum Backen. Die Brotformen, die jahrelang auf dem Küchenboden Straßenbahnen dargestellt hatten, wurden in der untersten Schublade des gelben Küchenschranks aufbewahrt. Die Mutter öffnete diese Schublade nie. Dort könnten die Mäuse untergebracht werden!
Aufgeregt kam er am nächsten Tag in die Schule und sprach mit Sverre über diese neue Möglichkeit. Er sah die Freude im Gesicht seines Freundes und dachte zum ersten Mal bewusst, wieviel es ihm zurückgab, wenn er es über sich brachte, nett zu irgendwem zu sein. Der Zwischenfall mit Tante Svanhild im vergangenen Jahr hatte ihm gezeigt, dass man unglücklich wird, wenn man gemein zu anderen ist. Aber jetzt hatten er und Sverre einen Plan. Sverre sollte zu Hause erzählen, dass er ein Zuhause für alle Mäuse gefunden hatte, und wenn sie fragten, wo, sollte er nicht den Namen des Freundes im Melumvei nennen, sondern den eines Jungen aus einer anderen Klasse, den seine Eltern nicht kannten. Dann war es weniger wahrscheinlich, dass die Eltern dort anriefen und nachfragten. Und warum sollten sie auch? Sverre hatte die Mäuse ja weit weg gebracht. Am selben Nachmittag, lange bevor die Eltern aus der Stadt zurückkommen würden, fuhr Sverre mit der Straßenbahn von Eiksmarka nach Røa und hatte eine gewisse Anzahl Mäuse in einem Schuhkarton. Der Freund hatte Löcher in den Karton gebohrt, die gerade so groß waren, dass keine der Mäuse, weder die Neugeborenen noch die Eltern, die Onkel oder Tanten, entkommen könnten. Zu allem Glück war auch Tormod nicht zu Hause. Dieses Geheimnis musste er für sich behalten. Es war das erste große Geheimnis in seinem Leben. Bei allen anderen war er zu schwach gewesen, sie zu bewahren.
Und plötzlich war das große Geheimnis im Melumvei untergebracht.
Viele Jahre später fragte er sich: Habe ich damals wirklich geglaubt, dass das gutgehen könnte? Dass Tag für Tag geheimzuhalten war, dass es ein Gewimmel aus weißen Mäusen in der Küchenschublade gab? Ja, er besaß diesen Übermut, den er auch nicht abschütteln konnte und der ihn noch oft in unhaltbare Situationen bringen würde. Schon