Die Welt, die meine war. Ketil Bjornstad
Das Einzige, was ihm Sorge machte, war, dass es unten in der Schublade kein Tageslicht gab. Tageslicht war ein Menschen- und ein Mäuserecht. Aber es war ein Trost, dass sich wilde Mäuse oft in die Erde vergruben, wo sie in Höhlen hausten und sich nur nachts, wenn es dunkel war, wieder hervorwagten.
Also brauchten diese Tiere nicht in erster Linie Licht, sondern Geborgenheit und Fürsorge, und beides wollte er ihnen doch geben. Behutsam brachte er zusammen mit Sverre die exilierten Mäuse in ihrem neuen Heim in der Küchenschublade in Røa unter. Zur Feier des Tages war die Schublade gefüllt mit Sägespänen, Mäusefutter, Laufrädern, Mäusespiegeln und Mäuseknabbereien. Sogar zwei Salatblätter hatte er sich im Lebensmittelladen in Randklev erschmeicheln können. Alle Mäuse wirkten gesund und munter und überaus neugierig auf ihre neue Umgebung. Das war ein gutes Zeichen. Er schloss die Schublade vorsichtig wieder. Dann gingen er und Sverre hinaus auf die Straße, um Fuchsen zu üben.
Sverre wirkte geheimnisvoll. Das tat er immer, wenn er eine neue Idee hatte. Ich fragte ihn, woran er dachte.
»Dass wir uns an die russische Botschaft wenden sollten«, sagte er. »Die russische …?«
»Oder die amerikanische. Aber die Russen werden dieses Wettrennen gewinnen, und ich will auf der Gewinnerseite stehen. Du nicht auch?«
Ich zögerte ein bisschen, ehe ich antwortete. Vielleicht, weil ich Gewinner noch nie hatte leiden können. Ich mochte doch die Verlierer, konsequent und jederzeit. Ich mochte Nixon, ich mochte Shepard, der nach Gagarin hochgeschossen worden und der nicht einmal richtig im Weltraum gewesen war. Ich mochte den fetten Sänger, der sich in der Oper bei Mutter blamiert hatte, als er beim höchsten Ton gepatzt hatte und von allen ausgelacht worden war. Ich mochte mich selbst, wenn ich beim Völkerball ausscheiden musste. Gewinner waren anbiedernde und selbstsüchtige Fanatiker, die sich in den meisten Fällen ihren Sieg erschwindelt hatten. Kennedy, zum Beispiel. Mit der Familie stimmte doch etwas nicht. Sie waren zu schön, zu heldenhaft. Sie schwitzten nicht vor laufender Fernsehkamera. Aber jetzt begriff ich doch, dass Sverre Visionen hatte, und einen Menschen mit Visionen durfte man nicht aufhalten, ehe die Visionen sich der Wirklichkeit hatten stellen können.
Als ich nicht sofort antwortete, redete Sverre einfach weiter. »Diese Mäuse sind Raumfahrtmäuse, Ketil. Deshalb haben wir sie ja. Jetzt sitzen ziemlich viele von ihnen in einer dunklen Schublade. Sie bereiten sich auf die große Fahrt vor. Und sie werden diese Fahrt auch überleben. Sie werden nicht auf grausame Weise in den Tod geschickt werden. Ist Norwegen nicht Mitglied der NATO?«
»OTAN«, sage ich. »Auf Französisch heißt das OTAN.«
»Dann sagen wir OTAN-NATO«, entscheidet Sverre. Er hat keine Lust, sich von Spitzfindigkeiten aufhalten zu lassen. »OTAN-NATO klingt irgendwie wie ohne NATO«, sage ich.
»NATO-OTAN«, sagt Sverre, leicht genervt.
»Vater ist dagegen«, sage ich.
Sverre verschluckt sich fast. »Kann man gegen die NATO-OTAN sein?«
Ich zuckte mit den Schultern. Leicht verlegen. Genau wie damals, als ich mit dem Plakat der Freien Wählergruppen vor dem Wahllokal in Huseby stand und der konservative Politiker Stranger, mit dem ich später auf Lesereise gehen sollte, zu uns kam und zu Vater sagte: »Jetzt kommt es darauf an! Überlegen Sie es sich gut, ehe Sie Ihre Kinder zu derart mieser Propaganda missbrauchen!«
Stranger verlor die Wahl, aber die Freien Wählergruppen hatten auch nicht viel Glück. Ich fing an, Stranger zu mögen, weil er ebenfalls ein Verlierer war. Er wurde von dem Sozialdemokraten Brynjulf Bull geschlagen, der mit dem Slogan »Wachstum und Wohlstand in Straße und Dorf« in den Wahlkampf gezogen war. Aber da auch die Freien Wählergruppen verloren hatten, mochte ich Vater noch viel mehr.
Sverre hat derweil den Blick zur internationalen Großpolitik gehoben. »Ist doch egal, was dein Vater meint«, sagt er fast wütend. »Hier geht es darum, norwegische weiße Mäuse in den Weltraum zu schicken. Verstehst du? Begreifst du überhaupt, wie wichtig es für Oslo vor neun Jahren war, die Olympischen Winterspiele auszurichten? Dann kannst du dir auch vorstellen, welche Wirkung es haben muss, wenn die Russen diese weißen Mäuse aus dem freundlich gesinnten kleinen Nachbarland Norwegen in den Weltraum schießen und dann unversehrt zurück auf die Erde holen?«
Ich nicke. Er hat ja nicht unrecht.
»Jetzt lass uns mal klaren Kopf behalten, Ketil. Wenn du gut auf die Mäuse in der Schublade aufpasst, haben wir einen Stamm von kleinen potenziellen Raumfahrern, die Eindruck auf die Russen machen werden. Gib der Sache eine Woche, dann haben viele sich wieder vermehrt. Dann ist die Zeit reif für einen Ausflug in den Drammensvei.«
»Was passiert im Drammensvei?«
»Da ist doch die russische Botschaft. Hast du denn überhaupt keine Ahnung?«
Ich nicke wieder. Sverre hat diese Fähigkeit, auf lange Sicht zu denken. Während ich hier mit ihm rede, merke ich, dass der Erwartungsdruck zu groß für mich wird. Mir muss etwas gelingen. Aber ich will nicht, dass mir etwas gelingt! Ich will im Verborgenen leben. Ich will vom Lehrer übersehen werden, von Fräulein Ätschbätsch, von Tormod, wenn er anstrengende Sportspiele mit mir betreiben will, von Vater, wenn er mit uns in die Hütte oben in Vestmarka gehen will. In Aftenposten habe ich gerade erst gelesen, dass es im Herzen des Hurrikans vollkommen windstill ist. Da will ich sein! Das Leben an sich ist der Hurrikan. Alle Menschen, die jeden Morgen zur Straßenbahn losstürzen. Mutter und Vater, die einander missverstehen und sich streiten. Der Krach in der Klasse. Die Lehrer, die mit der Hand aufs Pult schlagen, sodass ihre Handknochen Risse werfen. Fräulein Ätschbätsch, die mir ihre Rechtehand-Monotonie einhämmert. Ich will nicht monoton sein! Ich will kein Hurrikan sein! Ich will ganz still in der Mitte sitzen und zusehen, wie die anderen durch ihre Tage und Nächte schwirren.
»Abgemacht?«, fragt Sverre und streckt die Hand aus.
»Abgemacht«, antworte ich und versuche zu lächeln. Mit mir hat die Feigheit ein Gesicht bekommen. Ich werde ein wenig rot.
Als Mutter und Vater nach Hause kommen und auch Tormod wieder da ist, schleiche ich durch das Haus und registriere jedes einzelne Detail. Im Hauptkäfig im Wohnzimmer lebt die erste Mäusegeneration ihr normales Leben, unabhängig davon, was mit der Nachkommenschaft in der Küche passiert. Ich setze mich vor den Käfig und lasse mir nichts anmerken.
»Alles in Ordnung mit dir?«, fragt Mutter besorgt. Sie kennt mich besser als jeder andere.
»Sicher. Warum fragst du?«, antworte ich. »Wollte ich nur wissen.«
Ich sehe, dass sie heute gut gelaunt ist. Manchmal kommt sie aus der Stadt und ist nur wütend. Dann wieder ist sie butterweich und liebevoll wie die Katzen hinten am Grinidam.
»Vielleicht kann ich heute Abend Brot backen«, sagt sie.
Dieses eine Mal bin ich froh über meinen Haarschnitt, denn meine Haare haben sich sofort gesträubt.
Wie soll ich verhindern, dass sie die Brotschublade aufzieht? Die Brotformen habe ich unter meinem Bett versteckt. Ich nehme doch an, dass sie so schnell nicht putzen will.
»Ach, können wir nicht lieber Musik hören?«, frage ich. Sie freut sich immer, wenn ich darum bitte.
»Möchtest du das?«, entgegnet sie überrascht. »Vielleicht auch ein bisschen Klavier spielen?«
»Egal«, sage ich.
»Das hört sich gut an«, sagt sie und lächelt.
Sie weiß nicht, dass sie in ihrer Küchenschublade eine ungeheure Anzahl an weißen Mäusen beherbergt. Worauf um alles in der Welt habe ich mich da eingelassen? Ich sitze neben ihr, als sie Christian Sindings Frühlingsrauschen spielt. Das geht so schnell. Ihre leichten, geschmeidigen Finger auf den Tasten. So ist es richtig! Niemand spielt besser Klavier als Mutter, obwohl sie nie übt.
»Bravo«, sage ich.
»Versuch es auch mal«, sagt sie.
»Du machst Witze«, sage ich. Aber ich versuche es. Es klingt nicht gut.
Immerhin ist der