Die Welt, die meine war. Ketil Bjornstad

Die Welt, die meine war - Ketil Bjornstad


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tanzen soll. Unten in der Oper hat sich die Mutter mit der Star-Ballerina Jorun K. angefreundet, einer schönen jungen Frau, deren Bild er gern zu Hause in seinem Zimmer hätte. Aber er traut sich nicht, weil ihr Sohn in dieselbe Klasse geht wie sein Bruder. Er tanzt auch. Alle tanzen. Auch der Gatte ist Tänzer. Even. Er hat einen so geraden Rücken, dass es aussieht, als lehne er sich rückwärts gegen eine Wand, obwohl gar keine Wand vorhanden ist. Er steht am Eingang und raucht eine nach der anderen, während er auf sie wartet, auf einen nach dem anderen, in dem großen gelben Haus bei Sørbyhaugen. So viel gelb damals. Die sechziger Jahre sind einfach gelb. Das muss er denken, viele Jahre später, als er dieses Buch schreibt. Die siebziger Jahre sind blaugrau. Die achtziger Jahre sind braun. Die neunziger Jahre sind fast weiß. Und die nuller Jahre sind wieder blaugrau, genau wie die siebziger Jahre. Aber das hier sind die sechziger Jahre. Das gelbe Buch. Das gelbe Haus im Melumvei und das gelbe Haus bei Sørbyhaugen, das eigentlich blau ist. Tante Svanhild ist begeistert von der Vorstellung, dass ihre beiden Neffen, die Goldjungs, Ballett tanzen. Außerdem hat die Ballerina eine Woche später einen Termin mit dem Fernsehen. Dort sollen die Jungs in einer Direktübertragung auftreten.

      »Kannst du uns nicht einen Fernseher kaufen, Vater«, quengelt er. »Das können wir uns nicht leisten.«

      »Auch nicht, wenn Tormod und ich im Fernsehen kommen?«

      »Auch dann nicht.«

      »Vater, du bist grausam«, sagt er.

      »Er kann sich das nicht leisten«, sagt die Mutter. »Wir können es bei Tante Svanhild sehen.«

      »Kommt ihr nicht mit ins Studio?«

      »Das dürfen wir nicht«, sagt die Mutter und drückt ihn beschützend an sich.

      Er ist so abhängig von ihr. Auch wenn sie den ganzen Tag lang weg ist, und oft auch abends, wenn sie in der kleinen Kiste in der Oper sitzen und den großen fetten Sängern (die ihren Text vergessen haben, weil sie zu viel trinken, da ist er sicher) ihre Repliken zurufen muss, spürt er, dass sie eine Verbindung haben, sie zwei, dass es zwischen ihnen eine Funkfrequenz gibt, so, wie es gewesen sein muss, als Gagarin im Weltall war und als die, die von der Erde aus seinen Flug lenkten, seine Stimme hören konnten, selbst dann, wenn er sich nicht unmittelbar über ihnen am Himmel befand. Die Mutter ist jedesmal, wenn sie mit der Røa-Bahn in die Stadt fährt, draußen im All, und was sie dort eigentlich macht, weiß er so wenig wie der Vater. Und über den Vater weiß er auch nicht viel, nur dass der Vater offenbar bald ein eigenes Büro im sechsten Stock des Ingenieurshauses bekommt, mit Blick auf den Fjord. Sie müssen oft allein zurechtkommen, er und der Bruder. Und am meisten fühlt er sich allein, wenn er wie ein Weihnachtsschwein in dem Saal von Jorun K. bei Sørbyhaugen steht, in blauem Trikot, das deutlich zeigt, wie viele Speckwülste er inzwischen hat. Es ist unmöglich, die Diät der Penner in Mærradalen zu essen, Knäckebrot mit Ziegenkäse und ganz dick Butter, ohne irgendwann zuzunehmen. Das Schlimmste ist das Fett auf der Innenseite der Oberschenkel. Man könnte aus ihm einen Sonntagsbraten machen. Aber wie würde das schmecken? Wenn er sich in dem riesigen Spiegel sieht, wo er, zusammen mit Tormod und dem Sohn des Balletthauses, der immer freundliche und lustige Jo, versucht, alle Bewegungen so zu koordinieren, dass ein Rhythmus daraus entsteht, wie die Primadonna sagt, fühlt er sich ganz besonders hilflos.

      Die Stadt Kardemomme. Kasper und Jesper und Jonatan. Letzeren sollte er selbst gestalten, wie es in der Waldorfsprache heißt. Tormod sollte Kasper sein, und der Sohn der Primadonna Jesper. Auf seinem Bruder ruhte eine große Verantwortung, denn er hatte die erste Replik allein, nämlich: »Sowohl Kasper.« Die nächste Replik fiel Jesper zu und lautete: »Als auch Jesper.« Während er selbst die allerschönste Replik hatte, da sein Name der längste war: »Und Jonatan.« Am Ende sollten sie sich auf den Boden legen, laut seufzen, als ob sie müde wären, und sagen: »Ja, das tun wir dann.« Aber lange, ehe sie bei dieser Abschlussübung ankamen, die physisch und psychisch viel von ihnen allen verlangte, sollten sie in ihren Ballett-Trikots umhertrotten, jeder mit Stock und Bündel über der Schulter. Das erinnert ihn an die Stöcke, die früher im Kindergarten verteilt wurden, wenn sie dann auf einem Lastwagen zusammengepfercht wurden und wie Bettler durch die Straßen von Oslo gefahren wurden. Sie sollten Geld für irgendeinen unbekannten Zweck einsammeln, den die Erwachsenen als wichtig bezeichneten. Jetzt war ihnen die Rolle der Räuber zugewiesen worden. Die der verdreckten Dussel, die allein wohnten und so dumm waren, dass sie die schnarchende Tante Sofie aus ihrem Haus in der sowieso idiotisch kindischen Stadt stahlen, wo alle tun konnten, was sie wollten, wenn sie nur lieb und freundlich waren.

      In unserem Räuberlied behaupteten wir, auf Zehenspitzen auf Raub auszuschleichen, aber Jorun K. ließ uns wie Krebse oder wie ganz besonders behinderte Kinder aussehen. Selbst mein Fett zitterte vor Empörung. Reichte denn nicht Fräulein Ätschbätsch? Sollte ich jetzt jeden Tag an meine körperliche Unzulänglichkeit erinnert werden? Das einzige Selbstvertrauen, das ich in fast neun Jahren auf diesem herzlosen Planeten erlangt hatte, war, dass ich auf sechzig Metern nicht der Langsamste in der Klasse war und dass ich eine erstaunliche Begabung für Eisschnelllauf besaß. Das hatte Bryn entdeckt, der Reichste und Freundlichste aus der Klasse, als wir einmal in der Wintersaison zum Bislett-Stadion hinuntergegangen waren. Dort hatten Hjallis und Kupper’n ihre Lorbeerkränze entgegengenommen. Bryn erinnerte mich daran, dass diese alte Betonkonstruktion bei den Winterspielen 1952 sogar als Olympiastadion gedient hatte. Hier war Hjallis beim Zehntausendmeterlauf gestürzt, weil ein Schafskopf von Fotograf Blitzlicht benutzt und ihn mitten in der Nordkurve geblendet hatte. Oder war es die Südkurve gewesen? Jedenfalls hatte mein Fett auf dem glatten Eis Tempo gewonnen. Es sollte nicht mehr viele Jahre dauern, bis ich fünfzehnhundert Meter in 3.40.6 schaffte, fast so schnell wie der norwegische Leichtathletikstar Arne Kvalheim diese Strecke lief. Gerade solche Aufmunterungen brauchte ich, statt mich wie ein Krebs bewegen zu müssen, während ich über Pökelfleisch und Geld und Gold sang. Aber das musste ich nun mal. Bei den Proben stand die schöne Primadonna gebückt da und starrte mir mitten in den Schritt, um zu sehen, ob ich meine bleischweren Oberschenkel hoch genug heben könnte. »Gut, Ketil, gut!«, rief sie, als ob ich zu den Allerschwächsten gehörte, den Allerhilfsbedürftigsten. Es war eine anstrengende Szene, die nicht weniger als drei Minuten dauerte, und eine Woche, nachdem ich auf Ulfs Dachboden gesessen und mich vor einer der letzten Ballettproben gegruselt hatte, standen wir in dem großen Aufnahmestudio des Rundfunkgebäudes, das damals benutzt wurde, weil das NRK-Fernsehen noch kein eigenes Haus hatte. Wir waren ein Programmpunkt in der Sendung Im Blickpunkt, die von Lauritz Johnson, aber auch von dem jungen und vitalen Odd Grythe moderiert wurde, der mit der freundlichsten Stimme sprach, die ich je gehört hatte, und der aussah wie einer der neuen Minister in Präsident Kennedys Regierung. Das Schöne an den Räubern und der Geschichte von Tante Sofie war, dass die Räuber, als sie bereuten, dieses Ungeheuer von Frau geraubt zu haben, damit jemand ihnen das Haus putzte und für sie kochte, auf die Idee kamen, sie einfach »zurückzurauben«, also die schnarchende Tante wieder nach Hause zu schaffen. Aber nicht diese Szene sollten wir gestalten. Wir sollten uns nur wie Krebse oder »disabled«, wie Mads sagte, verhalten, und das Räuberlied singen, das nach allen Proben mit den extremen körperlichen Schwierigkeiten einfach nur noch lächerlich wirkte.

      Die Minuten vor der Sendung. Das Einzige, woran er denkt, ist, dass Tante Svanhild gleich mit übereinandergeschlagenen Beinen in ihrer Wohnung in der Gabelsgate sitzen und ihm zusehen wird. Dass seine Eltern auch dort sitzen werden, ist ein Bonus, wie man fünfzig Jahre später sagt. Es sind doch Menschen, die er gut kennt, besser als die meisten anderen, wie er zugeben muss, wenn er sich die Sache überlegt. In der Regel sind sie auf seiner Seite. Gerade deshalb hat er solche Angst davor, sie zu enttäuschen. Was, wenn er aussieht wie ein Strauß, statt wie ein Krebs? Was, wenn er nicht sagt »und Jonatan«, sondern »und Ketil«. Das wäre doch peinlich! »Kasper und Jesper und Ketil.« Er wird schon bei der bloßen Vorstellung rot, er weiß noch nicht, dass das ein Muster in seinem Leben werden wird, seine Fähigkeit, an alles zu denken, was schiefgehen kann, sich unnötig vor Dingen zu grausen, die wahrscheinlich niemals passieren werden. Er ist ganz einfach unbeschreiblich nervös, als das rote Lämpchen über der großen Studiotür aufleuchtet, und selbst die krass geschminkten Moderatoren, die doch an solche Situationen gewöhnt sein müssten, sehen ziemlich steif und elend aus. Er schaut zu Tormod und Jo hinüber. Keiner von beiden zeigt irgendwelche Anzeichen von Aufregung. Sie müssen aber auch keinen dreisilbigen


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