Die Welt, die meine war. Ketil Bjornstad
eine Rohaufnahme von zehn Stücken. Die Jungs fahren nach Liverpool zurück und Smith setzt sich mit seinem neuen Chef, Dick Rowe, und Ex-Shadow Tony Meehan hin, um sich alles anzuhören.
Einige Tage später trifft bei den Beatles die Absage ein. Decca ist zu dem Schluss gekommen, dass die Gruppe in der Popwelt keine Chance hat. Decca kennt den Markt besser als alle anderen. »Guitar groups are on the way out.« Es wird zudem erklärt, dass die Beatles mit diesem Sound als Gitarrengruppe keine Chance haben. Decca nimmt deshalb Brian Poole und die Tremeloes unter Vertrag.
Brian Epstein beschließt, auf eigene Faust ein Album zu produzieren. Später kann er dann bei EMI und Parlophone einen Vertrag abschließen.
Es ist der Winter 1962. Leonard Bernstein veröffentlicht mit den New Yorker Philharmonikern bei der CBS seine erste Einspielung von Mahlers Dritter Symphonie.
Zu Hause im Melumvei starre ich die Schallplatten an. Vater kann sich weder Fernseher noch Waschmaschine oder Auto leisten, und auch der Kühlschrank war fast schon zu teuer. Aber links vom großen Wohnzimmerfenster stehen ein großes Radio, ein kleiner Plattenspieler und ein braunes Tonbandgerät Marke Tandberg. Es ärgert mich, dass wir nicht Grynet Molvigs Version von Ninon Ninette haben, die ich im Vorjahr bei Tante Svanhild in der Schlagerparade gehört habe. Aber es steht nicht einmal fest, dass es davon eine Schallplattenaufnahme gibt. Außerdem lehnt Mutter Popmusik ab. Sie sieht im Auftreten der 19-Jährigen nicht dieselben Qualitäten wie Tante Svanhild und ich. Wir haben noch immer einen geheimen Bund. Sie kennt die Sängerin Nora Brockstedt, die mit samischer Mütze beim Grand Prix das Lied Voi Voi sang und dabei mit den Händen fuchtelte, als das NRK-Fernsehen noch jung und frisch war. Wir mögen hübsche Mädchen. Hübsche Frauen. Für Tante Svanhild war Farah Dibas Besuch in Norwegen ein Höhepunkt. Das ist fast ein Jahr her, aber noch immer redet sie darüber, als sei es gestern gewesen. Die Fahrt nach Westnorwegen musste abgesagt werden, denn Farah Diba hatte Angst, der viele Regen könnte ihr die Frisur ruinieren. Jetzt stecken sich Mutters bildschöne Kusinen, die alle jünger sind als sie, Weißbrote in die Haare. Ich habe es selbst nicht gesehen, aber Tante Svanhild hat es mir mit geheimnisvollem Lächeln erzählt.
»Die haben wirklich ein Weißbrot in den Haaren, Ketil.«
»Ganz bestimmt?«
Sie zögert. »Naja, ein halbes.«
»Hast du auch Weißbrot in den Haaren?«
»Nein, meine Haare sind nicht lang genug. Und auch nicht füllig genug.« Sie sieht traurig aus. Zugleich ist sie so hübsch mit ihren Löckchen. Ich drücke ihre Hand. Wenn sie zurückdrückt, bekomme ich eine Gänsehaut.
Von jetzt an sehe ich Frauen auf eine andere Weise. Spüre sie auch auf eine andere Weise. Vor allem sehe und spüre ich die mit dem Weißbrot in den Haaren. Die Frisur wird davon so hoch, so ägyptisch, wie Sam Ledsaak sagen würde. Wir zeichnen Pyramiden und Pharaonen in unsere Arbeitshefte. Wir haben die schönen Derwent-Farben, die für strahlende Sonnen, dunkelblauen Himmel und insgeheim für die schönsten Frauen geeignet sind.
Aber was machen sie danach mit dem Weißbrot? Essen sie es auf? Nichts schmeckt leckerer als Weißbrot, das man mit den Händen aus der Kruste puhlt. Aber das Weißbrot muss frisch sein. Man muss die Wärme des weißen Brotes spüren, eine letzte Erinnerung an die gute, warme Geborgenheit im Ofen, als alles aufquoll und seine Form fand. Ich quelle ebenfalls auf, habe aber deshalb nicht das Gefühl, meine Form gefunden zu haben.
Wird die Unruhe von Dauer sein? Ohne es selbst begriffen zu haben, fühlt er sich zu Menschen hingezogen, die älter sind als er. Wie durch ein Wunder wird er bei der Blaskapelle aufgenommen. Die nennt sich Gjallarhorn. Es gibt dort fast keine Mädchen, und das bedauert er. Die anderen in der Kapelle gehen in die fünfte und die siebte Klasse. Es ist umwerfend, dass er mit ihnen zusammensein kann, wo er doch nur in die dritte geht. Er ist stolz, aber auch ein wenig verwirrt. Liegt es nur daran, dass er der Bruder von Tormod ist, dass er neben Bjørn sitzen und Tenorhorn spielen darf? Bjørns Vater ist der Direktor von Det Norske Teatret. Später wird der junge Bjørnstad Theaterrepliken von sich geben. Aber vorläufig schweigt er und sieht zu, wie sein neuer Freund mit grünem Rotz in der Nase spielt. Solche kleinen Popeldinger gibt es auch in manchem Backwerk. Ist es nicht schwer, damit Luft zu holen, denkt er und presst die Lippen gegen das Mundstück. Aber Bjørn ist ein Held. Ein Damenheld mit schmutzigen Fingern, der ganz bestimmt bei Frauen mit Weißbrot in den Haaren Erfolg haben könnte. Er sieht immer aus, als käme er direkt aus dem Dschungel, ein Tarzan, der sich mithilfe von Lianen durch das Unterholz schwingt. Neben ihm zu sitzen ist fast, wie bereits in die sechste Klasse zu gehen. Sie sind dreiundzwanzig Jungen, und das Letzte, was sie in den alten Deutschenbaracken tun, ist, ein Konzert in tiefer Finsternis zu geben. Sie haben keinen Strom mehr, aber im Eurythmiesaal flackern die Kerzen in den viel zu großen Haltern. Ihr Dirigent heißt Anton. Allein dieser Name. Tante Svanhild würde von »volkstümlich« reden. Wenn er die Hände hebt, sollen wir Die Jungen kommen von William Farre spielen. Der Theaterdirektor hat ein feierliches Gedicht geschrieben: »Seht die Jungen kommen, in ihrer fröhlichen Uniform. Sie heben die Instrumente. Oh hört, bald bläst der Sturm …« Er fühlt sich unbehaglich mit der schwarzen Baskenmütze, dem weißen Hemd, der roten Fliege und der ebenso roten Schärpe, der grauen Hose und den blankgeputzten schwarzen Schuhen. Er kommt sich vor wie ein Angehöriger einer vergessenen Volksgruppe, die soeben irgendwo oben im Kaukasus entdeckt worden ist und die vielleicht einen drei Minuten langen Bericht in der Wochenschau verdient hat. Aber Anton, der selbst noch ein Teenager ist, kann die Gesangsstimme aus ihm vertreiben, und übrig bleibt dann nur ein seltsamer Furz, der innerhalb weniger Unterrichtsminuten zu einem mächtigen Ton wächst, zum Tenorhornton. Nicht mehr die traurigen Geräusche, die neue Abgase ankündigen. Sondern eine tiefe, füllige, sonore Stimme.
Klinge ich denn wirklich so?, überlegt er.
Plötzlich kann er seinen Körper ein bisschen besser leiden.
33
Die Schule wird nun also umziehen. Er ist mit dem Rad zu dem neuen Gebäude gefahren, das im Gebüsch oben bei Hovseter liegt, und hat versucht, die Gründe für alle Veränderungen im Leben zu verstehen. Warum suchen wir sie, und was wollen wir damit? Auch Mads ist unsicher. Der Freund ist ein ebenso großer Zweifler wie sein Vater. Weil er Fragen stellt, untergräbt er das Bestehende. Er kann sich nicht am allgemeinen Jubel darüber beteiligen, dass Oberstleutnant John H. Glenn dreimal den Erdball umrundet und eine Höhe von 260 Kilometern über der Erdoberfläche erreicht hat. Wieso denn jubeln? German Titow ist das doch schon siebzehn Mal gelungen. Aber die Amerikaner schaffen es, aus Glenns Raumfahrt ein Ereignis zu machen, einfach weil er Amerikaner ist. In den Nachrichten ist es eine größere Sensation, dass ein Amerikaner es dreimal um die Erde schafft, als dass ein Russe viele Monate vorher siebzehn Mal um denselben Planeten geflogen ist.
»Wir müssen die USA weiterhin kritisch sehen«, sagt Mads, als wir das letzte Mal an der Straßenbahnhaltestelle Smestad stehen, ehe die Schule nach Hovseter verlegt wird und wir widerwillig unsere Arena für die Diskussionen weltpolitischer Gegebenheiten verlegen müssen.
»Warum?«, frage ich, während ich meinen Teil des frischgekauften Weißbrotes auskratze, ehe ich endlich in der Straßenbahn nach Hause die Zähne in die knusprige braune Kruste schlage.
»Die belügen uns«, sagt Mads. »Bei Laika hat Chruschtschow uns die Wahrheit gesagt. Wir haben erfahren, wie schrecklich das alles war. Sie werden für sie ein Denkmal aufstellen. Aber was haben die Amerikaner mit Enos und Ham gemacht? So getan, als wären das hochqualifizierte Generäle?«
Die Melancholie steigt langsam in ihm auf. Beim bloßen Gedanken an den Schimpansen Ham, das erste menschenähnliche Wesen, das ein Jahr zuvor ins All geschossen wurde. Bilder von Ham, wie er mit dem NASA-Helm auf dem Kopf auf dem kleinen Schleudersitz hockt. Die vielen Schläuche, die in seinen Körper hinein- und aus seinem Körper herausführen. Die Leitungen. Die Riemen. Vater war außer sich gewesen, Mutter noch mehr, als sie las, wie das kleine Tier abgerichtet worden war, um auf einfache Herausforderungen zu reagieren. Wenn Ham die Wünsche der Menschen erfüllte, bekam er Bananenpellets. Wenn er versagte, bekamen seine Füße kleine Elektroschocks verpasst. Monatelang waren sechs Schimpansen abgerichtet worden, um