Die Welt, die meine war. Ketil Bjornstad
zusammen. Vater und Mutter sind bei der Arbeit. Der Traum von Frogner. Tante Svanhild und ich könnten ein perfektes Paar sein. Wir sehen gern zusammen fern. Die vielen Nachrichten. Die nervöse Stimmung. Es ist so viel die Rede von UdSSR und USA.
»Warum nur diese Länder?«, frage ich. »Das sind die größten«, sagt sie.
»Was ist mit Afrika? Was ist mit China? Was ist mit Indien?«
Sie weiß keine Antwort. Aber ich sehe, dass sie überlegt. »Manchmal ist es einfach so«, sagt sie. »Die Sieger nehmen alles.« Aber sind sie Sieger?
Wir sehen eine Sendung über den sowjetischen Balletttänzer Rudolf Nurejew. Wir sehen uns sein Bild an. Er sieht russisch aus. Da ist irgendetwas mit seinem Aussehen. Er wird niemals amerikanische Steaks mit Ketchup essen oder Mitzi Gaynor in einer romantischen Musical-Szene küssen, denke ich. Die Zeiten sind nicht so. Obwohl Chruschtschow und Kennedy gelächelt hatten, bis sie fast einen Kieferkrampf bekamen, als sie sich in Wien trafen, kann ich an diese Jovialität nicht glauben. Das Fernsehen zeigt Bilder von einem Flugplatz. Der Kommentator erklärt, das sei Le Bourget bei Paris. Dort geschah das Drama. Der dünne Tatar, der in der Nähe von Irkutsk geboren worden war. Seine Kindheit in Armut, als das jüngste von vier Kindern, in der Stadt Ufa. Er musste ohne Schuhe zur Schule gehen, denn seine Eltern konnten ihm keine kaufen. Im Winter trug er die alte Jacke seiner großen Schwester. An dieser Stelle der Sendung fängt Tante Svanhild an zu weinen. »Armer Junge«, sagt sie wieder und wieder, während sie sich die Augen mit einem bestickten Taschentuch abtupft, das sie jedes Mal, wenn sie es benutzt hat, in eine Handtasche steckt. Ich bemerke, dass sie sich ein Glas Sherry extra einschenkt. Als ob dieser Nurejew in ihr einen Funken entzündet hätte. Als ob sie eigentlich gern etwas mit ihm hätte. Ein widerlicher Gedanke, aber er muss dennoch gedacht werden. Bilder von Nurejew, der in Paris französische Kollegen trifft. Danach wichtige Sowjetpolitiker in Hut und Mantel. Sie sehen besorgt aus. Das Kirow-Theater ist auf Tournee. Als Kennedy sagt, dass die Amerikaner den Wettlauf um das All gewinnen werden, müssen die Kommunisten im Osten mit dem antworten, was sie wirklich können: Ballett. Klassisches Ballett. Männer im Trikot, die Frauen mit bloßen Händen hochheben und herumwirbeln wie Pfannkuchen. Nurejew ist einer dieser Männer. Aber dort, auf dem Flugplatz, haben die Kommunisten Lunte gerochen. »Sie ahnten schon, dass Nurejew mit dem Gedanken spielte, abzuspringen«, sagt der Fernsehkommentator.
»Was bedeutet, abspringen?«, frage ich Tante Svanhild. Sie prustet los und läuft dann knallrot an. »Entschuldige«, sage ich.
»Nein, um Himmels willen«, sie lächelt. »Ich war nur mit meinen Gedanken woanders. Abspringen bedeutet einfach, dem furchtbaren kommunistischen Regime entkommen. Verstehst du das, mein Junge? Nur Steckrüben und gekochte Kartoffeln zum Essen. Hunde, die zu Tode gequält werden. Und das im Lande Tschaikowskis. Hast du dir das schon mal überlegt? Eugen Onegin. Bestimmt hat Alfhild dir diese Arie vorgesungen …«
Sie fängt an zu summen mit dieser seltsamen Stimme, die in einer Mansarde ganz oben in ihrem Kopf wohnt, und die ein Vibrato besitzt, das drei Etagen überspringt, und zwar mit einem wahnsinnigen Satz. Als spiele Onkel Bjørn mit seinem Lachen auf der Säge.
»Ja, die kenne ich«, sage ich leise und versuche gleichzeitig, mitzubekommen, was im Fernsehen passiert.
»Ja«, sagt Tante Svanhild triumphierend. »Da tanzt er doch den Schwanensee. Wieder Tschaikowski.« Sie summt weiter. Aber plötzlich sind wir wieder auf dem Flugplatz Le Bourget. Wir sehen ein sowjetisches Flugzeug mit Soldaten und anderen Wachen. Nurejew soll eigentlich mit dem Kirow-Ballett weiter nach London, um neue Triumphe zu feiern. Aber jetzt lächelt Chruschtschow nicht mehr. Nurejew soll zurück nach Moskau und damit basta. Die ganze Ballett-Truppe wird nach Hause befohlen.
Nurejew, umringt von sowjetischem Botschaftspersonal und Sicherheitswachen. Nun rennt er plötzlich auf eine Gruppe von französischen Polizisten zu und ruft: »Helft mir! Ich will frei sein!«
Nurejew ist in den Westen abgesprungen. In die große Enklave der Freiheit, zwischen Diktatoren, Folterknechte und Hundemörder. Ich sehe, dass Tante Svanhild bewegt ist, während Nurejew im Schutz von einem Dutzend französischer Gendarmen dasteht und winkt. Kusshände wirft. Er weiß nur zu gut, wie schön er ist, denke ich.
Ich schaue vorsichtig zu Tante Svanhild hoch. Warum ist sie so hingerissen? Hat sie noch nicht gesehen, dass Chruschtschow Ähnlichkeit mit Onkel Birger hat? Und jetzt ist Chruschtschow traurig.
29
Aber es kommt ein Tag. Es kommt immer ein Tag, aber dieser Tag ist doch anders als andere Tage, nach denen ein Tag kommt. Vater kommt früh von der Arbeit nach Hause. Er hat Dagbladet unter dem Arm, wie immer, aber er hat vergessen, Brot zu kaufen, er ist starr im Gesicht. Wütend, auf eine Weise, die er sich sonst nicht gestattet, nicht einmal, wenn er sich mit Mutter streitet. Es ist nicht die normale Wut. Er ist persönlich verletzt. Etwas, das er nicht für möglich gehalten hat, ist passiert.
Mutter ist zu Hause. An diesem Abend muss sie in der Fledermaus soufflieren. Als sie das Gesicht ihres Mannes sieht, begreifen Tormod und ich, dass die Lage ernst ist, auf eine ganze andere Weise als jemals zuvor.
»Kommt der Weltkrieg?«, frage ich. »Vielleicht«, sagt Vater.
Und dennoch weint er nicht. Der, der diese Geschichte schreibt, hat seinen Vater nur zweimal weinen sehen. Das eine Mal bei Hallingskarvet, als Vater mit Mutter gestritten hatte. Sie lief weit vor ihm her und war außer sich vor Zorn. Aus irgendeinem Grund ging damals Tormod neben Mutter. Sie gingen 200 Meter vor uns anderen. Er selbst blieb beim Vater, der einen schweren grauen Rucksack trug und schweißnass war. Sie waren unterwegs zu einer Hütte weit oben im Gebirge. Es gab dort keinen Strom, und Wasser musste aus einem See geholt werden. All diese armseligen Hütten in seiner Kindheit, auf die der Vater doch so stolz war, auch wenn er Kacke aus dem Plumpsklo schaufeln musste. Weshalb hatten sie sich diesmal gestritten? Jedenfalls nicht um ein Ingenieursessen, zu dem die Mutter nicht gehen wollte. Er ahnte, dass es um Wichtigeres ging. Gefährlicheres. Wo man wohnen sollte. Worauf man im Leben setzen sollte. Der Vater sprach oft davon, umzuziehen. »Aber wie sollen wir uns das leisten können?«, fragt die Mutter.
Die lange Wanderung durch das Gebirge. Der Vater, der nichts sagte, sondern weinte, bis er schluchzte. Weinte und weinte. Als sei sein Kummer bodenlos.
Das zweite Mal sah er seinen Vater weinen, als der, nachdem er aus China zurückgekommen war, erzählte, wie die Mutter gestorben war. Der Vater saß im vierten Stock im Pflegeheim. Die Mutter lag eiskalt unten in der Kapelle. Als er zum Vater nach oben kam, nachdem er sich von der Mutter verabschiedet hatte, setzte er sich zu ihm und sagte, die Mutter habe ausgesehen, als ob sie ihm zulächelte, obwohl sie doch tot war.
»Aber wie ist sie gestorben?«, fragte er. Da weinte der Vater zum zweiten Mal.
Alle sind schrecklich aufgeregt. Das weiß er schon lange. Er hat versucht, die Miene des Vaters zu deuten. Schon, als sie aus Sandefjord nach Oslo zurückkamen, stimmte etwas nicht. Die Leichtathletikkämpfe zwischen USA und UdSSR. Der Vater hatte den Kopf geschüttelt. Und der Sohn hatte gefragt: »Was ist denn los, Vater?«
»Dass sie sich auf diese Weise gegenseitig aufstacheln. Nicht nur Raumfahrt und große Politik. Auch Sport. Wo soll das denn noch enden?«
Leichtathletik. Auf viermal hundert Metern stellt die Mannschaft der USA einen Weltrekord von 39,1 auf. Danach kommt der schwarze Weitspringer Ralph Boston und springt 8,28. Gott sei Dank setzt Valeri Brumel mit 2,24 einen neuen Rekord im Hochsprung für Herren und Jolanda Balas, die eigentlich aus Rumänien stammt, springt 1,90 für die Sowjetunion.
Vater liebt Leichtathletik. Er liebt Schlittschuhlauf. Er liebt den Sport, in dem einfache Arbeiter nach oben kommen und Ruhm und Ehre ernten können. Aber was hier vor sich geht, ist keine Leichtathletik. Schon seit Längerem kommen jeden Tag über tausend Flüchtlinge aus der DDR und anderen von der UdSSR kontrollierten Gebieten in die Durchgangslager in Westberlin. An einem einzigen Tag, dem 1. August, werden 1322 Flüchtlinge registriert. Etwas über eine Woche darauf sind es 1926 Personen. Die 53 000 Pendler, die jeden Tag von Ost- nach Westberlin strömen, werden strengen Kontrollen unterzogen und in vieler Weise behindert.