Ausblendung. Wege in die virtuelle Welt. Группа авторов

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der Suche nach Möglichkeiten, den Zugang der neuen Empfänger meines Signals einzuschränken, klicke ich mich durch all die kryptisch benannten Dateien der App, überfliege den Quellcode und entdecke Ansatzpunkte für Funktionen, die Cottingley Games in Zukunft integrieren will. Farbige Hologramme anstelle der weißen Lichtgestalten. Die Möglichkeit, Kreaturen gezielt anzulocken. Und eine Schnittstelle zur Kamerafunktion aller Handys, auf denen die App benutzt wird – nur dass diese Funktion offenbar schon jetzt vollständig im installierten Paket enthalten, wenn auch noch inaktiv ist.

      Ich brauche zwei weitere Nächte, um eine Anwendung dafür zu schreiben, dann zeigen mir alle Bildschirme, was ich bereits befürchtet habe. In Hunderten kleinen Fenstern sehe ich, was die Kameras der Spieler gerade einfangen. Auf der Suche nach Sprites schwenken sie ihre Smartphones hin und her, filmen die Welt um sich herum, ihre Schlaf- und Badezimmer, ihre Mitmenschen, jeden Winkel ihres Alltags. Und das sind nur die Spieler, deren App mit meinem Server verknüpft ist.

      Sprachlos starre ich all die Fenster an. Die meisten Spieler sind in den Städten unterwegs, riesige Werbetafeln bilden den Hintergrund jeder Sprite-Begegnung. Andere Fenster zeigen das Innere von Einkaufszentren und Shopping-Passagen. Offenbar tauchen in den Kleinstädten und Dörfern die wenigsten Kreaturen auf, direkt in Privathäusern noch weniger. Eines der Fenster präsentiert mir eine vertraute Umgebung. Der dazugehörige Spieler schwenkt sein Handy in meinem Wohnzimmer umher, dann in meinem Flur. Er bewegt sich auf mein Büro zu. Da klopft es auch schon.

      „Mama!“, ruft Dimitri durch die Tür. „Darf ich kurz in den Garten? Da ist ein Imp! Danach geh ich auch gleich schlafen. Zähne geputzt hab ich schon!“

      „Aber nur ganz kurz“, rufe ich zurück und lausche, wie seine Schritte in Richtung Haustür verschwinden.

      Ich lasse mir nur die Live-Feeds aus der unmittelbaren Umgebung anzeigen und bekomme den Weg aus unserem Haus präsentiert, dann einen Rundumschwenk im Vorgarten, bis Dimis Holobeamer den Imp erscheinen lässt.

      Natürlich steht davon nichts in den Geschäftsbedingungen des Spielherstellers. Cottingley Games hat die Möglichkeit, Millionen Spieler auszuspionieren, ohne dass irgendwer es bemerkt. Aber wozu?

      Um das herauszufinden, konzentriere ich mich ganz auf die Bewegungen der Spieler. Ich starre meine Monitore an, wühle weiter im Quellcode, erweitere meinen Server, damit er der höheren Belastung standhält, und nutze jede freie Minute, um nach Neuigkeiten zu recherchieren. Die App nimmt derweil noch an Beliebtheit zu. Immer mehr Kinder installieren das Spiel, immer mehr Firmen investieren in den Sensationserfolg. Hersteller von Autos und Limonade ebenso wie Filmstudios und Modemarken.

      Erst Tage später, als Dimi von einem Ausflug mit Freunden mit einer kostenlosen Brezel zurückkehrt, macht es „klick“ bei mir. Er hat das Gratisgebäck bekommen, weil er in einer Bäckerei ein Selfie mit einem Sprite gemacht hat.

      Ein Blick auf die Live-Feeds in meinem Home-Office bestätigt meinen Verdacht. Wenn die Kinder ihre Handys schwenken, um Dryaden und Elementargeister zu finden, haben sie fast ununterbrochen Werbung vor Augen. In den kleinen Fenstern sehe ich Plakate und Schilder all der Investoren, vor deren Reklametafeln die begehrtesten Sprites auftauchen – ihre Logos und Produkte immer im Sichtfeld unwissender Kinder, damit diese das Erfolgserlebnis beim Spielen schon bald mit Dingen assoziieren, die sie gar nicht brauchen.

      Zum ersten Mal begrüße ich es, dass meine Version der App sich so weit verbreitet hat. Die Funktion, Sprites gezielt an bestimmten Orten auftauchen zu lassen – innerhalb weniger Tage kann ich die Befehlszeilen modifizieren, um die Entwickler mit ihren eigenen Waffen zu schlagen. Jedes Mal, wenn die Kinder in Richtung einer Reklametafel gelockt werden, sorgt das Signal von meinem Server dafür, dass sie gleichzeitig in die entgegengesetzte Richtung gerufen werden.

      Inzwischen sind es Zehntausende, die ich so lenken kann. Verführerische Nymphen locken sie in kleine Parks. Scharenweise folgen sie Trollen unter die Brücken der Stadt, wandern hinter Irrwischen her, bis weit und breit keine Werbung mehr in Sichtweite ist. Das „GO“ aus dem Spieltitel klingt mehr denn je wie ein Befehl. Und die Kinder folgen gehorsam. Ich bin so vertieft in das Treiben auf meinen Bildschirmen, ich höre Dimi erst, als er direkt im Türrahmen steht. Er zittert. Wasser rinnt an ihm hinab und tropft auf den Boden.

      „Ich bin in den Bach gefallen“, sagt er.

      Sofort stürme ich ihm entgegen, helfe ihm aus der nassen Kleidung, wickle ihn in dicke Decken, verabreiche ihm eine Tasse Kakao und stecke ihn ins Bett. Während ich dafür sorge, dass ihm wieder warm wird, erzählt er, dass er mit Freunden ein Sprite finden wollte, das ihm angezeigt wurde. Nur vom spärlichen Licht ihrer Handydisplays unterstützt, sind Dutzende Kinder im Dunkeln durch die Büsche und Sträucher des Stadtparks gestolpert, dann hat eine unerwartete Senke sie stolpern lassen. Die meisten von ihnen sind ins Wasser gepurzelt, einer von Dimis Freunden hat sich den Knöchel verstaucht. Vom digitalen Irrlicht ins Verderben gelockt.

      In dieser Nacht führe ich niemanden auf unbekannte Pfade. Die Entwickler schicken ihre Spieler indessen weiter zu Reklametafeln in allen Winkeln der Welt.

      Als Dimitri schläft, versuche ich, fernzusehen, um mich abzulenken, doch jede Menschenmenge, die ich sehe, erinnert mich an das Spiel. Die Nachrichten zeigen Truppenbewegungen in den Kriegsgebieten der Welt, und ich bilde mir ein, dass alle Soldaten ein Smartphone in der Hand halten und in Richtung seltener Waldgeister marschieren, deren Staub ihnen noch fehlt. Und niemand hält die Entwickler davon ab, tatsächlich Sprites auf Minenfeldern und hinter feindlichen Linien erscheinen zu lassen.

      Ein Investor mit finsteren Absichten genügt und Massen von Kindern könnten an einen Ort gelockt werden, an dem jemand nur darauf wartet, das Feuer zu eröffnen. Opfer für einen Amoklauf zu finden war nie einfacher! Dass es für erfahrene Programmierer kein Problem ist, das Spiel für alle möglichen Zwecke zu missbrauchen, habe ich selbst mehr als deutlich bewiesen.

      Dimi sucht schon bald weiter nach digitalen Heinzelmännern und Nixen, ich suche derweil all die Beweise zusammen, die verhindern können, dass die App jemals Werkzeug von Terroristen werden kann. Der Mail-Entwurf, in dem ich alles so erkläre, dass die Medien auch etwas damit anfangen können, hat die Adressen aller namhaften Zeitungen und Nachrichtensender in der Empfängerzeile. Im Anhang häufen sich meine Quellcode-Funde, Listen der Investoren und Screenshots ihrer Werbung neben den Hologrammen. Das Einzige, was ich noch brauche, sind Aufnahmen davon, wie Spieler an gefährliche Orte gelockt werden, während Cottingley Games durch illegale Kameras tatenlos zusieht. Mein Bildschirmrekorder läuft nonstop.

      Ich bin zuversichtlich: Schon bald wird sich niemand mehr im Supermarkt vordrängeln, um einen Waldschrat an der Käsetheke zu erreichen. Die Gruppen von Kindern, die jetzt an roten Ampeln auf Autos klettern, um Feen mit leuchtendem Pixelschweif in die Luft zu projizieren, werden sich in ein paar Tagen wieder andere Beschäftigungen suchen.

      Im Radio heißt es, neue Investoren hätten Interesse an der App bekundet. Tabakkonzerne und Brauereien. Es wird höchste Zeit, dass ich die Medien informiere. Zurück in meinem Büro beende ich mein Aufnahmeprogramm. Zum Schneiden bleibt keine Zeit, ich packe das gesammelte Filmmaterial unbearbeitet in den Mail-Anhang.

      „Pan!“, ertönt plötzlich ein Schrei vom Flur her. Mit funkelnden Augen erscheint Dimi im Türrahmen. „Mama! In deinem Zimmer ist der Große Pan!“

      Ich brauche einen Moment, um zu begreifen, was er sagt. Das seltenste Sprite des Spiels – in meinem Büro. Das Signal kommt nicht von meinem Server.

      Und schon klingelt es an der Tür. Die Live-Feeds auf den Monitoren zeigen, wie aus der ganzen Nachbarschaft Kinder zu unserem Haus pilgern. Wenn Pan ruft – der Hirtengott, der Ursprung des Begriffs „Panik“ –, dann kann kein Spieler weghören.

      Das Klingeln wird stürmischer, schnell hämmern sie auch an der Tür. Ich höre Geschrei im Garten. Dann geht das erste Fenster zu Bruch. Auf den vielen kleinen Fenstern auf dem Bildschirm sehe ich, wie sie den Flur entlanglaufen. Wie sie durch das Küchenfenster krabbeln und auf Mülltonnen steigen, um über das Garagendach mein Büro zu erreichen. Kinder pressen sich gegen die Bürofenster,


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