Ausblendung. Wege in die virtuelle Welt. Группа авторов

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Bildschirme und Rechner werden zertrampelt. Und während der Raum sich mit aufgeregt kreischenden Kindern füllt, die meine Technik zerstören, kopiere ich die letzten Videodateien in den Mail-Anhang.

      Die Kinder schubsen und treten sich, steigen aufeinander, drohen einander zu erdrücken, japsen nach Luft. Aus dem Augenwinkel sehe ich blutverschmierte Hände und Gesichter. Von irgendwo ertönt die Stimme von Dimitri.

      „Ich hab ihn“, ruft er.

      Ein kurzes Flackern, dann wird die Masse von einem riesigen Hologramm überragt. Ein gehörnter Mann mit Ziegenbeinen und Spitzbart, eine muskulöse, weiße Lichtgestalt, die bis an die Decke reicht und alle Anwesenden ehrfürchtig erstarren lässt: der Große Pan. Statt Panik zu verbreiten, sorgt er für absolute Stille. Und durch die Handys, die von der anderen Zimmerseite auf ihn gerichtet sind, sieht Cottingley Games mich und das geöffnete Mail-Programm. Den Finger auf der Maus, den Cursor über „Senden“. Natürlich wissen sie, was ich vorhabe. Sie haben Kameras auf der ganzen Welt.

      Wir wissen, was du tust, teilen sie mir mit. Wir können dich finden, wo auch immer du bist.

      Sie sorgen dafür, dass Pan den Kopf dreht. Sein Blick schweift über all die Kinder, die jederzeit wieder mein Haus verwüsten könnten. Er sieht mich direkt an. Ein vergeblicher Einschüchterungsversuch. Die zertrampelten Geräte können alle ersetzt werden.

      Dann blickt Pan in Richtung meines Sohnes. An Dimitris Stirn klebt Blut.

      Und es macht „klick“.

      Peter Schattschneider

       Tiefschlaf

      Wir beginnen die Mechanismen zu erkennen, auf denen der neurale Code beruht, und sie programmierbar zu machen. Es versetzt uns in die Lage, uns und unser Leben auf eine Weise selbst hervorzubringen, die bislang unvorstellbar war.

       (Bryan Johnson, Gründer und CEO des Neural-Interface-Entwicklungsunternehmens Kernel, 2017)

      Und wieder der Alptraum: laute Stimmen, Schreie, Motorengeräusch. Im Umdrehen sah er Menschen am Boden liegen, manche leblos, andere bewegten sich noch. Und er sah den Pick-up näherkommen. Die Augen des Fahrers, wasserhelle Augen, fixierten ihn. Bill stieß Ann zur Seite, automatisch wie in der Ausbildung zog er die Waffe – anlegen, zielen, Schuss auf Schuss, bis das Magazin leer war, dann hechtete er zur Seite, weg von der Fahrspur des Angreifers. Der Pick-up schlingerte, verfehlte ihn um Zentimeter, drehte nach links, krachte in die Mauer der Uferpromenade, keine zehn Meter entfernt. Der Motor heulte auf, der Wagen kippte, kippte wie in Zeitlupe, hing in der Mauer. Die Tür sprang auf. Der Fahrer drehte den Kopf zu Bill, lächelte, es war ein freudiges, erlöstes Lächeln. Er griff nach dem Amulett, das an einer Halskette hing. Es sah aus wie ein Kreuz, rot vom Blut, das stoßweise aus einer Schusswunde am Hals quoll. Dann tastete er nach etwas in seinem dicken Mantel, der kein Mantel war.

      Und dann verschwand die Welt in Feuer und Schmerz. Die Traumreste waren gestochen scharf, wie es manchmal geschieht, wenn man aus dem Schlaf gerissen wird. Bill schielte nach der Uhr am Nachttisch, aber da war keine Uhr. Und da war kein Nachttisch.

      Er war nicht zu Hause. Ein fremdes Bett, gedämpfte Beleuchtung, an der Wand ein toter Fernsehbildschirm, ein schlichter Tisch. Links ein Monitor, eine grüne Linie lief über den Schirm. „Bip – bip“ tönte es im Rhythmus seines Pulses. Er stand vorsichtig auf, blieb auf der Bettkante sitzen. Der Bildschirm erwachte.

      „Hallo, Bill!“ Eine Krankenschwester lächelte ihm zu.

      „Hallo“, krächzte er zurück. „Wo bin ich?“ Seine Stimme klang beschädigt.

      „Sie sind im Krankenhaus von Phantom City. Sie waren verletzt. Wir haben Sie in Tiefschlaf versetzt und das genetische Rekonstruktionsprogramm aktiviert. So, wie es aussieht, sind Sie wiederhergestellt. Willkommen im Leben!“

      „Dann war das kein Alptraum.“

      „Erinnern Sie sich an etwas?“

      Er schloss die Augen. Die Alptraumbilder explodierten wieder gestochen scharf in seinem Kopf.

      „Ein Terroranschlag. Der Pick-up, … die Uferpromenade. Die Explosion.“

      „Sie waren keine zehn Meter entfernt. Es war mühsam, Sie wieder zusammenzuflicken.“

      Er bewegte die Arme, betrachtete seine Hände, tastete über Hals, Brust und Schenkel. Er spürte sich, aber er war sich fremd. Als liefen Ameisen über die Stellen, die er berührte. Die Haut auf seinen Händen war merkwürdig glatt wie Plastik; das Muttermal am rechten Unterarm fehlte.

      „Die Explosion hat Sie voll erwischt“, erklärte die Schwester. „Wir mussten Ihre Extremitäten rekonstruieren, Ihre Haut war fast vollständig verbrannt.“

      Er bewegte verunsichert die Finger. „Sind das – Prothesen?“

      „Keineswegs. Das Rekonstruktionsprogramm hat Ihr Stammzelldepot genutzt, um die beschädigten Organe wiederherzustellen. Die Haut wird Ihnen fremd vorkommen, sie ist ja frisch wie bei einem Baby. Und die Nervenleitung ist gestört, aber das gibt sich.“

      Er schüttelte ungläubig den Kopf. Er hatte die Explosion fast unbeschädigt überlebt …

      Dann fiel ihm Ann ein. Er sprang auf. „Meine Frau! Ist sie …?“

      „Ihre Frau lebt. Sie war schwer verletzt; sie schläft noch. Sie wird wieder gesund.“

      „Kann ich sie sehen?“

      „Morgen. Sie brauchen jetzt viel Ruhe.“

      Sie drehten ihn durch die medizinische Mangel. Röntgen, MR, EKG, EEG, Blutwerte, Nervenleitung, Motorik, Sensorik, audiovisuelle Wahrnehmung, Gleichgewicht, Kraft, Reaktionsvermögen …

      Er hatte vier Wochen im Tiefschlaf gelegen, während die lasergesteuerten Biobots das zerstörte Gewebe im 3D-Druckverfahren mithilfe fleißiger Stammzellen wieder aufbauten. Es war ein Terroranschlag nach Vorbild des Attentats in Nizza aus dem Jahr 2016 gewesen. Bills Eingreifen hatte viele Menschen gerettet.

      Vor seiner Entlassung durfte er Ann sehen. Sie lag in der Rekonstruktionsbox. Wie Dornröschen schlief sie in einem gläsernen Sarg; ihr Gesicht war friedlich-entspannt, sie schien unversehrt bis auf den fehlenden linken Unterschenkel. Laserscanner huschten über den Stumpf, an dem die Biobots hurtig arbeiteten.

      Phantom City, der Sitz der Firma. Sie hatten bei der Stadtgründung keine Kosten gescheut, eine perfekte Infrastruktur zu schaffen, um die besten Mitarbeiter zu gewinnen. Die besten Ärzte, die besten Neurochirurgen hatten sich um ihn gekümmert und würden sich um Ann kümmern.

      Das Forschungszentrum war nur Minuten vom Krankenhaus entfernt. Kollegen gratulierten ihm, erkundigten sich nach Ann, sprachen ihm Mut zu, fragten vorsichtig, wann er denn wieder die Software-Entwicklung übernehmen würde. Es war ein gutes Gefühl, gebraucht zu werden. Ohne ihn lief nichts in der Firma, das war allen klar.

      Bryan, der allmächtige Boss, klopfte ihm auf die Schulter, was er noch nie getan hatte. Er hielt eine verkürzte Standardansprache: Die Gründung des Sicherheitsdienstleisters Phantom als Spin-off jenes Neurotechnik-Unternehmens, das einen Paradigmenwechsel im Bereich elektronischer Augmentierung ausgelöst hatte. Der entscheidende Durchbruch mit den Terrahertz-Lasern. Der Fast-Bankrott nach dem Rückgang des islamistischen Terrors. Konsolidierung und Aufschwung. Die harte Konkurrenz und das erklärte Ziel, Marktführer zu bleiben. Seit militante Sekten den Islamisten im weltweiten Terror den Rang abgelaufen hatten, boomte der Security- und Antiterrormarkt wieder. Viele Newcomer nutzten Virtual-Reality-Technik, um ihre Sicherheitsleute und Eingreiftruppen zu schulen. Die Firma musste aggressiv akquirieren, um zu überleben.

      Natürlich


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