Ausblendung. Wege in die virtuelle Welt. Группа авторов

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Aufforderung widerwillig und machte steuernde Handbewegungen.

      „Wo sind sie jetzt?“

      „Genau auf meinen – äh – zwischen den Beinen.“

      „Etwas höher. Das Interface muss genau wissen, wo es zuschlägt.“

      Kevins Finger steuerten das Zielobjekt vorsichtig an.

      „Ist sie am Ziel?“

      „Ich – ich glaube schon.“

      „Na dann weg mit ihr. Oder brauchen Sie eine Fliegenklatsche?“

      Mit Todesverachtung griff Kevin nach der an delikater Stelle sitzenden Fliege. Aus der Klasse kam prustendes Lachen.

      Die Schrift blinkte zufrieden:

      Cortex triangulation finished

      „Das hätten wir. Das Interface kann jetzt präzise mit Ihrer Feinmotorik kommunizieren. Viel Glück, Kadett!“

      Damit verschwand der Trainer wie eine Fata Morgana. Gleich darauf reckte sich ein zartes Pflänzlein aus dem Wüstensand. Innerhalb von Sekunden spross es zu einer mächtigen Schirmföhre.

      Kevin duckte sich, suchte Schutz am Stamm. Der Angreifer kam von oben aus den Ästen, federte leicht beim Sprung ab, in der Rechten einen Dolch. Kevin ging sofort in Verteidigungsstellung. Der Angreifer war klein. Er stürzte sich mit erhobenem Messer auf seinen Gegner. Kevin wich seitlich aus und kickte einen Yop-Chagi gegen das Knie des Angreifers. Der knickte ein, das Messer landete im Sand, beide Kämpfer hechteten danach. Ein Ringkampf entspann sich, die Männer wälzten sich am Boden und nach kurzer Zeit hatte Kevin die Oberhand. Er griff nach dem Messer, aber da ruckelte das Bild. Er griff daneben. Der Terrorist nutzte den Blackout und fasste das Messer mit beiden Händen. Mit einer geschickten Rolle befreite er sich aus dem Klammergriff und stieß Kevin die Klinge von unten in den Hals. Blut quoll in Stößen in den Sand, der Körper des Kadetten bäumte sich auf, dann war der Kampf vorbei.

      Der echte Kevin gab grässliche erstickte Laute von sich, während er sich wiederholt zusammenkrümmte. Bill trat an das Pult des Prüflings heran, fixierte dessen sich windenden Oberkörper, griff seitlich an den Helm und drückte den roten Knopf für die Lipropanol-Injektion fest gegen den Hals des Kadetten. Der wurde bald ruhig, seine Schultern entkrampften sich. Nach kaum einer Minute streckte er sich und setzte die Mirage ab. Erstaunt rieb er sich die Augen.

      „Gut gemacht, Kevin. Hatten Sie genug Bewegung?“ Kevin nickte benommen, noch halb im Kampfgeschehen.

      „Berichten Sie.“

      „Nun, ich habe mit dem Angreifer gekämpft. Ich habe ihm das Messer abgenommen.“

      „Sehr gut. Und dann?“

      „Äh, dann … – wir sind zu Boden gegangen, es war ziemlich wild.“

      „Wer hat gewonnen?“

      Kevin zögerte. „Ich – ich weiß nicht genau. Ich denke, das war ich?“

      „Nun, Sie hätten gewonnen, wenn die Software nicht einen Sekundenbruchteil aus dem Takt geraten wäre. Das hat Sie abgelenkt. Das ist ein echtes Problem, es bringt den Trainingsplan durcheinander. Die verbesserte Version wird demnächst ausgeliefert.“

      Kevin wartete auf eine Antwort. Bill wandte sich an die Klasse. „Sie sehen, das Lipropanol wirkt augenblicklich. Keine Erinnerung, keine posttraumatische Störung.“

      „Sir?“ fragte Kevin etwas verstört.

      „Sagen Sie’s ihm“, forderte Bill die Kadetten auf.

      Die Klasse schwieg.

      „Nur zu, es tut nicht mehr weh.“

      „Du hast verloren“, murmelte schließlich einer. „Er hat dir den Hals aufgeschlitzt.“

      „Du warst tot.“

      Bill wartete, bis die Klasse das verarbeitet hatte.

      „Die Immersion ist vollständig“, fuhr er fort. „Die Helmsensoren nehmen die Aktionspotentiale der motorischen Nerven ab, um die Simulation realitätsecht abzuwickeln. Dadurch kommt nur ein schwaches Restsignal in die efferenten Nervenbahnen. Das führt zu ineffektiven Muskelkontraktionen. Sie haben gezuckt wie eine schlafende Katze.“ Das sagte er zu Kevin, der rot anlief. Unterdrücktes Lachen kam aus den hinteren Reihen. Jetzt hatte Bill die Klasse auf seiner Seite. Danach war es leichter, sie zum Training zu motivieren. Er vergewisserte sich, dass alle Helm und Brille korrekt angelegt hatten, tat desgleichen und aktivierte den Passivmodus.

      Das Grau der Datenbrille flimmerte und dann begann die Immersion: Die Burj Khalifa erschien wie aus lichtem Nebel in hyperrealistischer Schärfe. Davor hingen greifbar nah die Worte:

      TerrorAnschlag Burj Khalifa

      VR PassivModus

      Immersion startet …

      Bills Trainingshelm begann zu pulsieren. In weichen, massierenden Bewegungen schmiegte das integrierte Neuro-Interface sich seinem Gehirn an. Ein verwischter Lufthauch im Gesicht. Ameisen trabten seine Arme entlang bis zu den Fingerspitzen. Ein zartes Kribbeln in der Wirbelsäule. Der Helm vibrierte jetzt stärker – eine heiße Welle wie nach einem Adrenalinstoß überrollte Bill. Er hatte das Gefühl, sachte vor der riesigen Burj Khalifa zu landen, dem Schauplatz der Simulation. Gleichzeitig wusste er, dass er in Phantom City als Ausbilder vor seinen Kadetten saß und sich nicht rührte.

      Er war im Spiel, beobachtete alles, aber für sie existierte er nicht. Er brauchte auch nicht auf Distanz zu achten – sie liefen einfach durch ihn hindurch. Die Gruppe war gut organisiert. Die Kadetten holten sich die Konstruktionspläne aus der Cloud, ließen eine Finite-Elemente-App laufen, die potenzielle Statikschwachstellen anzeigte, orderten in der Zentrale einen Drohnenschwarm, mit dem sie die Außenhülle entlang der tragenden Stützen von unten nach oben abscannten. Die hochempfindlichen Sprengstoffdetektoren fanden die Bomben in drei übereinanderliegenden Stockwerken. Expertensoftware analysierte den Zündmechanismus. Bill hatte, um den Stress zu erhöhen, einen Zeitzünder eingebaut, der ihnen nach der Entdeckung der Bomben nur gerade eben genug Zeit ließ, um das Gebäude zu räumen, wenn sie es effektiv machten. Sie verschwendeten wertvolle Zeit mit dem vergeblichen Versuch, die Bomben zu entschärfen. Alle Mechanismen waren individuell SSL-kodiert.

      Sie arbeiteten an der ersten Entschlüsselung, bis nach wenigen Minuten einer von ihnen feststellte: Wir brauchen mindestens zehn Minuten für jede, das macht … – fast zwei Stunden! Zu lang. Wir müssen evakuieren!“

      Und das taten sie. Die Kapazität der Expressaufzüge wurde berechnet und voll ausgelastet; die Personen aus den oberen Stockwerken wurden per Helikopter von der Plattform in der 148. Etage geborgen. Bill zoomte sich als Beobachter in den letzten Heli; es war Zero minus eine Minute. Er saß auf dem Kranausleger des Boeing Defiant und sah zu, wie zwei seiner Kadetten die Leute anwiesen. Die Evakuierten waren verwirrt, langsam und nicht sehr kooperativ; realitätsnah eben. Bei Zero minus 10 Sekunden waren alle drin, ein Kadett gab dem Piloten Zeichen. Die Rotoren liefen donnernd an, während der andere Kadett hoch hechtete und Bills virtuellen Platz auf dem Ausleger einnahm. Wie ein Schoßkind saß er auf Bill, ohne es zu merken. Der Rumpf des Defiant schwankte. Aber es waren nicht die mächtigen Doppelrotoren, die ihn zittern ließen – es war die Burj Khalifa, die wie in Zeitlupe einzustürzen begann. Der zweite Kadett lief auf den Helikopter zu, auf einer Plattform, die sich wie das Deck eines Ozeanriesen in schwerer See senkte. Der Defiant hob aus der Sinkbewegung ab, schwebte einige Zentimeter über dem Landeplatz, um den Heranlaufenden aufzunehmen, aber je näher der kam, desto weiter fiel er auf der stürzenden Plattform zurück. Bill unterdrückte den Impuls, die Hand nach ihm auszustrecken. Er konnte nicht eingreifen und es war sowieso zu spät. Sekunden noch schwebte der Defiant gleichsam zögernd über dem rasch unter ihnen schrumpfenden Landeplatz, während seitlich von ihm die höheren Etagen majestätisch erdwärts strebten. Staubfontänen und glitzernde Glassplitter


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