Ausblendung. Wege in die virtuelle Welt. Группа авторов

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Tagen heimlich mit Kameras überwacht, sodass nicht einmal eine Katze von einem Hof in den anderen schlüpfen konnte, ohne eine Datenflut auszulösen. Nun aber brannte es, genau in der vorhergesagten Zone – und erneut hatte niemand etwas gesehen oder gehört.

      Hatten sie nicht mit allem gerechnet? Zweihundert Meter, so hoch reichte die Sicht der zielsuchenden Kameras des LKA. Und nicht zu vergessen, all die mehr oder weniger legalen Überwachungsbemühungen, die sich die Bürger hatten einfallen lassen, seit über die Brandserie berichtet wurde. Solidarität gegen Brandstiftung, diesen trockenen Namen hatten sich die Nachbarschaftswächter gegeben. Sie hatten gebrauchte Kameradrohnen zur Überwachung all jener Grundstücke angeschafft, deren Besitzer ihr Einverständnis gegeben hatten. Mirko hatte sie bei der Auswahl der Maschinen und der Programmierung der Flugpläne beraten.

      Der gerettete Mann wurde von seiner Familie in die Arme geschlossen. Selbst der Labrador-Retriever freute sich über all den Trubel und sprang an ihm hoch.

      Mein erstes gerettetes Leben, dachte Mirko. Er empfand jedoch keine ungetrübte Freude und so reagierte er verhalten auf die Glückwünsche seiner Kollegen, die per Funk hereinkamen. Dass dieser Brand überhaupt hatte gelegt werden können, war eine mehr als peinliche Niederlage. Diese Erkenntnis arbeitete in seinem Kopf, während er den Löschangriff aus fünfzig Metern Höhe überwachte. Und das Bohren dieses Gedankens ließ auch nicht nach, als die Drohnen eine Stunde später auf dem Hof der Feuerwehrstation sicher auf ihren mobilen Plattformen landeten.

      Gleich darauf schwang Mirko sich aufs Fahrrad und fuhr rüber. Er traf Tim bei der Wartung der Einheiten im Hangar. Der Ingenieur ließ ein Diagnoseprogramm durchlaufen, um sicherzugehen, dass die Bordcomputer durch die Hitze nicht gelitten hatten. Mirko untersuchte die Rotoren mit der Ultraschallsonde, während seine Gedanken aus ihm heraussprudelten.

      „Wir kriegen ihn“, versprach Tim, nachdem er sich Mirkos Klagelied geduldig angehört hatte. „Unser Zur-Zeit-noch- Phantom hat es geschafft, durch die Überwachung zu schlüpfen, na gut. Aber wer immer es auch war – registriert wurde er auf jeden Fall. Ich kenne einen der LKA-Ingenieure aus dem Studium in Darmstadt. Lars ist noch vor seinem Abschluss zur Polizei gegangen, erst kriminaltechnischer Dienst, später LKA. Er vermutet, dass der Täter ein unauffälliges ferngesteuertes Gerät benutzt, um die Brände zu legen. Wahrscheinlich eine genehmigungsfreie Minidrohne mit einem Abfluggewicht unter fünfhundert Gramm. Deshalb haben sie zwei Funkmesswagen eingesetzt, um jede Art von Steuerbefehlen aufzuzeichnen und zum Ursprung zurückzuverfolgen. Viel Arbeit, bei all dem Datenfunk in der Großstadt heutzutage, aber ich wette mit dir, es dauert keine Woche, dann sehen wir das Gesicht des Burschen live auf Deine News Frankfurt, wenn sie ihn aus seiner Wohnung holen.“

      Mirko wollte das nur allzu gern glauben. Am Abend saß er mit einem Käsebrot und seinem Tab vor dem Küchenfenster, las die von Bürgern verfassten Nachrichten auf Deine News und zählte Drohnen. Eine war gerade dabei, die Solaranlage auf dem Nachbarhaus zu putzen. Doch insgesamt stellten Lieferdrohnen von Restaurants und Überwachungseinheiten der Polizei, des Ordnungsamtes und der Bürgerinitiative den Löwenanteil bei den größeren Modellen, die insbesondere die mittleren Höhen zwischen hundert und vierhundert Meter nutzten. Private Kleinstdrohnen blieben infolge der Vorschriften nahe am Boden. Die meisten folgten ihren Besitzern wie Hunde beim Gassigehen – vor allem Teenagern, die glaubten, ihre Leben seien so spannend, dass sie permanent dokumentiert werden müssten.

      Vielleicht hatten einige der jüngeren Kinder von ihren Eltern Drohnen-Bewährung bekommen, eine neue Form des mobilen Arrests, bei dem sich die Gelehrten noch über die Grenzen zwischen Erziehung und Menschenrechtsverletzung stritten. Und dann gab es da die privaten Sicherheitsdrohnen: radkappengroße, runde Scheiben, Dreiecke und Quadrate, die in unregelmäßigen Abständen aus Häusern aufstiegen, eine Runde durch die Gärten drehten und wieder verschwanden.

      Was Mirko erstaunte, war die hohe Zahl gewerblicher Drohnen, bei denen er keine Vorstellung hatte, zu wem sie gehörten und warum sie in seiner Nachbarschaft unterwegs waren. Ein paar davon zählten vielleicht Grünpflanzen und Singvögel in den Vorgärten. Andere waren offensichtlich hinter sensibleren Informationen her, wie den Nummernschildern der Autos, die vor den Häusern parkten, sowie Wärmebildern von Dächern. Information war Macht in den Händen von Staat, Wirtschaft und Interessenverbänden. Je aktueller und umfassender die Information, desto mächtiger war sie. Drohnen boten hier das beste Kosten-Nutzen-Verhältnis.

      Durch programmierte Flugpläne konnte eine einzige Person mit der erforderlichen Lizenz eine ganze Flotte kontrollieren. Zum Beispiel, um Solarzellen zu reinigen und zugleich fremde Hausgrundstücke nach leicht brennbaren Dingen abzusuchen, dachte Mirko und biss von seinem Brot ab.

      Der Brandbeschleuniger war immer schon am Tatort gewesen: ein halbvoller Benzinkanister neben der Garage, ein Brennholzstapel mit Fichtenreisig unter einer Wetterschutzplane, ein Eimer Lack, der offen am Fenster stand, ein Lager voll mit alten Kartonagen. Alles war gezündet worden, ohne dass jemand es zuvor bewegt hätte. Ob der Kerl bei den Bränden zugesehen hatte? Vielleicht, aber dafür musste er nicht einmal in der Nähe gewesen sein. Auch zu dem neuesten Brand gab es reichlich Videomaterial – live eingespeist von Nachbarn und Schaulustigen, die keinen Unterschied zwischen Information und Sensation machten. Es war noch nicht einmal unbemerkt geblieben, dass einer der Funkmesswagen zum Einsatz gekommen war.

      „Wer immer es auch war – registriert wurde er auf jeden Fall“, hatte Tim behauptet, und die meisten Kommentarschreiber waren der gleichen Meinung. Mirko hoffte, dass die Leute recht behielten. Hoffentlich spürte das Phantom den Druck der näher rückenden Enttarnung und hatte keine ruhige Minute mehr.

      Das Nachtdisplay des Schlafzimmer-Netzwürfels zeigte 5:37 Uhr am 12. März 2033. Der Alarmgong erklang, gefolgt von der Stimme des automatischen Einsatzleitsystems: „Brandmeldung, Sektor B7, Einsatz für den Luftlöschtrupp.“

      Das ist kein Traum, dachte Mirko, während die Meldung erneut abgespielt wurde, und fühlte zugleich den Adrenalinstoß, der ihn erwachen ließ. Er schlug die Bettdecke zurück und stand auf. Noch etwas wacklig auf den Beinen hastete er in sein Arbeitszimmer. Dort erwartete ihn bereits die Computer-Bedienoberfläche, die über dem Schreibtisch zu schweben schien. Er nahm den Helm der Drohnensteuerung von dem gesichtslosen Glaskopf und setzte ihn auf. Die Vision richtete sich summend im optimalen Abstand zu seinen Augen ein, während im Hangar die beiden Seeschwalben automatisch von ihren Plattformen abhoben.

      Nachdem die Drohnen die hell erleuchtete Halle hinter sich gelassen hatten, stiegen sie in den wolkendurchzogenen Nachthimmel. Unter ihnen erstreckte sich die Stadt mit ihrem ewigen Lichtvorhang.

      Mirko musterte die Karte. Der Brand leuchtete als roter Punkt am Rand des Industrieparks Höchst nahe dem Stadtwald. Er kannte das Areal.

      Ein städtischer Wertstoffhof, dachte er. Um diese Zeit ist da niemand.

      Seine Kollegen Nils und Tim stießen mit ihren vier Hummel-Drohnen hinzu: Der Erste Luftlöschtrupp Frankfurt-Süd zog in enger Flugformation in den Einsatz.

      „Moin“, sagte Tim verschlafen.

      Mirko drehte das Mikro weg und gähnte herzhaft, dann zog er es wieder in Position. „Guten Morgen, Jungs. Alle wach und einsatzbereit?“

      „Yup“, sagte Nils. „Ein Fahrzeugbrand. Sieht zur Abwechslung mal nach einer einfachen Sache aus.“

      Tim brummte zustimmend.

      Mirko zog eine Linie auf der elektronischen Karte und ließ seine Seeschwalben für den ersten Angriff vorausschießen.

      Schon von Weitem war das Feuer auszumachen: Zwei Sattelanhänger, eine Zugmaschine, drei offene Wertstoffcontainer und ein riesiger Haufen Grünabfall standen in Flammen. Schwarze und graue Rauchkamine verbanden sich und stiegen dann fast schnurgerade in den Himmel. Die Seeschwalben scannten die Dachmarkierungen der Anhänger. Deren Codes standen für Altpapier und leicht entzündliches Verpackungsmaterial.


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