Gommer Sommer. Kaspar Wolfensberger
er erwachsen war, trug er ihn fast mit Stolz. Und weil ihn jeder als »Kauz« kannte, sah man ihm sein etwas eigenwilliges Sozialverhalten nach. Da das Symptom nicht sehr ausgeprägt war, hatte es bei der Rekrutierung keine Probleme gegeben. Und bei der Aufnahme in die Polizeischule auch nicht. Er war sogar ein ganz leidlicher Pistolenschütze. Aber wenn er seinem Gegenüber in die Augen sehen wollte, musste er ein klein wenig den Kopf heben, damit ihm seine Lider nicht in die Quere kamen. So machte er, wenn man ihn nicht kannte, ganz ungewollt einen hochnäsigen Eindruck.
Kauz fühlte sich wie von der Kommandantin geohrfeigt.
»Das kommt jetzt etwas unerwartet«, murmelte er, »nach dreiunddreißig Dienstjahren. Sie …« Er hatte nicht die Absicht, auf Mitleid zu machen. Vielmehr wollte er darauf anspielen, dass Frau van Hooch gerade mal ein einziges Dienstjahr vorzuweisen hatte. Nur fand er im Schock die Worte nicht.
»Werden Sie jetzt nicht pathetisch, Herr Walpen«, unterbrach ihn die Kommandantin.
»Geben Sie her«, sagte Kauz abrupt, obschon er wusste, dass er sich hatte provozieren lassen und jetzt möglicherweise den größten Fehler seines Lebens beging. Er streckte die Hand aus.
Frau van Hooch nahm Sulzer das Papier aus der Hand, das der von Anfang an für sie bereitgehalten hatte, und reichte es Kauz.
Kauz las die vorbereitete Vereinbarung durch. Nur kurz ging ihm der Gedanke durch den Kopf, dass er einen Rechtsanwalt nehmen und die aufgezwungene Entlassung anfechten müsste.
Dann unterschrieb er.
»Tut mir aufrichtig leid, Herr Walpen«, flüsterte Senn.
Frau van Hooch sah den Kripochef tadelnd an.
Feigling, dachte Kauz. Opportunist.
»Wenn Sie wünschen, können wir Ihnen ein Coaching vermitteln«, sülzte Sulzer.
»Wofür? Ich bin ja entlassen.«
»Nun, für die berufliche Neuorientierung. Sie sind siebenundfünfzig, da …«
»Das weiß ich selber«, fuhr Kauz ihn an.
Sulzer sah ihn bekümmert an. Dann gab er sich einen Ruck: »Sie machen aber keine Dummheiten, nicht wahr, Herr Walpen?«, hakte er nach.
Kauz warf ihm einen verächtlichen Blick zu.
»Ach ja, wenn wir gerade dabei sind«, sagte Frau van Hooch. »Herr Senn wird Sie jetzt an Ihren Arbeitsplatz begleiten. Dort nimmt er Ihnen den Badge und Ihre Dienstwaffe ab.« Mit einer hochgezogenen Augenbraue unterstrich sie den unausgesprochenen Auftrag an Senn, allfällige Dummheiten zu verhindern. »Bis neun Uhr müssen Sie Ihren Platz geräumt haben«, fuhr sie fort. »Danach erlischt Ihre Zugangsberechtigung zum Kommando. Das wars, Herr Walpen. Ich wünsche Ihnen alles Gute«, schloss sie, ohne eine Miene zu verziehen.
So viel Selbstbeherrschung brachte Kauz nicht auf.
»Wissen Sie was?«, fragte er, und jetzt versuchte er tatsächlich, ein bisschen herablassend zu klingen, »ich werde weder mich selbst noch sonst jemanden über den Haufen schießen. Nun, Frau van Hooch, Menschenkenntnis war noch nie Ihre Stärke. Sie sind eben kein Polizist. Nie gewesen. Und von der Polizeiarbeit haben Sie keine blasse Ahnung. Das weiß hier jeder! Vielleicht sogar Sie selber. Ich wünsche dem Polizeikorps alles Gute.«
Damit steckte er die Kopie des unterzeichneten Entlassungspapiers ein und ließ sie stehen.
Seine Mitarbeiter scharten sich um ihn, als er im Büro erschien und unter Senns Augen seinen Arbeitsplatz zu räumen begann. Sie verstanden die Welt nicht mehr.
»Lasst das bloß bleiben!«, raunzte er, als einzelne ankündigten, sie würden bei der Kommandantin vorsprechen und gegen seine Entlassung protestieren. Er fürchtete, es könnte ihnen sonst auch an den Kragen gehen.
Am Freitag, den dreißigsten Juni, Schlag neun Uhr morgens, stand Kauz auf der Straße. Seiner Funktion als Dienstchef Leib und Leben bei der der Zürcher Kriminalpolizei enthoben, per Ende Jahr entlassen und mit sofortiger Wirkung freigestellt.
Es regnete in Strömen, wie schon seit Wochen. Vom Zürcher Regenwetter hatte Kauz die Nase nun so richtig voll. Er schlug den Mantelkragen hoch, packte seine pralle Aktenmappe, die Sport- und die Einkaufstasche, die ihm zwei Kolleginnen mit Tränen in den Augen geliehen hatten, um seine Siebensachen zu verstauen, und ging aufs Tram.
*
Der Einsatz war zu Ende, was jetzt folgte, war nur noch Bürokram. Auf dem Rückweg von Münster wies Polizeikorporal Ria Ritz den Aspiranten Benjamin Carlen an, den Streifenwagen vor der Bäckerei in Fiesch zu parken. Carlen blieb am Steuer sitzen. Ria Ritz, ihres Zeichens Postenchef in Fiesch – es wäre ihr nie eingefallen, sich als Postenchefin zu bezeichnen –, stieg aus. Sie holte drei frische Brötchen, zwei extra große für Carlen, dick mit Schinken bepackt, und eines mit Kräuterquark für sich selbst. Sie hatten beide noch nicht gefrühstückt. Es war mittlerweile halb zehn Uhr geworden, der Einsatz hatte alles in allem fast drei Stunden gedauert. Sie fuhren zum Polizeiposten, setzten sich an ihre Arbeitsplätze, machten Kaffee und bissen in ihre Brötchen.
Eigentlich wäre die mobile Patrouille für diesen Einsatz zuständig gewesen, aber die war zu einem schweren Carunfall im Pfynwald gerufen worden. Ria hatte Pikettdienst gehabt. Sie war um halb sieben schon auf gewesen, hatte Benjamin per Handy aus den Federn geholt, sich in die Uniform gestürzt und war in ihrem Familienauto zum Posten gefahren.
Benjamin Carlen saß schon im Streifenwagen, als sie dort ankam, stellte Blaulicht und Sirene an und fuhr los. Mitten in der Ausbildung zum Gendarmen – so lautete die offizielle Bezeichnung – absolvierte er ein Praktikum auf dem Posten Fiesch. Als sportlicher Autofahrer war er ganz erpicht auf solche Einsätze. Er liebe Action – Äggschn –, sagte er bei jeder Gelegenheit.
»Schwerverletzter in Münster, mitten im Dorf«, sagte Ria Ritz knapp. »Verkehrsunfall. Vom Unfallfahrzeug keine Spur. Fahrerflucht.«
»Okay, Chef, dann mal Äggschn«, meinte der junge Polizeiaspirant erfreut und fuhr rassig, aber kontrolliert die engen Kurven hinauf.
Korporal Ria Ritz überlegte: Mit Blaulicht dauerte die Fahrt von Fiesch nach Münster zwölf Minuten. Der Zeitpunkt des Unfalls lag bestimmt länger zurück. Wenn der Unfallfahrer talabwärts flüchtete, dann wäre er schon bei Fiesch vorbei, unterwegs Richtung Brig und Visp. Nahm er aber talaufwärts Reißaus, dann wäre er bald über alle Berge. Die dritte Möglichkeit war, dass der flüchtige Fahrer aus dem Goms stammte, sich jetzt irgendwo versteckte oder zu Hause ins Bett legte und seinen Rausch ausschlief. So oder so, sie konnte sich jetzt nicht um die Fahndung nach dem Fluchtwagen kümmern. Das musste sie der Zentrale überlassen. Aber sie hielt die Augen offen. Beni fuhr wie der Teufel, aber gekonnt.
Ria ging davon aus, dass die Rettungssanitäter, die in Münster auf Pikett standen, und auch der Dorfarzt längst auf der Unfallstelle waren.
Benjamin Carlen gab Gas. Er kannte das Goms wie seine Westentasche. Einmal an der Abzweigung Fürgangen vorbei, hatte er freie Fahrt. Die Strecke blieb kurvig, wies aber kaum noch Steigung auf. Niederwald, Beni drückte das Gaspedal durch. Blitzingen, volle Pulle, immer Richtung Galenstock. In Selkingen nahm er den Fuß vom Pedal, in Biel bremste er leicht ab. Ab Ritzingen gab er wieder Vollgas. Jetzt passierte er Gluringen, die reinste Rennstrecke. Reckingen, Endspurt. Erst eingangs Münster lockerte er in der Steigung sein rechtes Bein und schaltete herunter.
»Nicht schlecht«, nickte Ria Ritz anerkennend, als er schließlich mit quietschenden Reifen hielt.
Die Unfallstelle lag tatsächlich mitten im Dorf an einer etwas engen Stelle, gleich nach einer unübersichtlichen Kurve. Ria hatte hier schon mehr als einmal Unfallrapporte erstellen müssen, aber bis anhin war es bloß um Sachschäden gegangen. Die schwereren Unfälle, mit Toten und Verletzten, passierten sonst eher auf den Strecken zwischen den Dörfern, wenn Auto- und Motorradfahrer Überholverbot oder Tempolimite missachteten.
Korporal Ria Ritz erfasste die Situation mit einem Blick: ein Verletzter, bewegungslos neben einer Hausmauer auf der Straße liegend, den Kopf in einer Blutlache; Bremsspuren, Lack- und Glassplitter