Gommer Sommer. Kaspar Wolfensberger

Gommer Sommer - Kaspar Wolfensberger


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war er auf einer mehrtägigen Motorradreise in Münster gelandet, hatte den Speicher entdeckt, an dem »einf. kl. Ferienwhg. zu vermieten, ideal für 1–2 Pers.« stand, und hatte ihn spontan für zwei Wochen gemietet. Fürs folgende Jahr hatte er dann gleich Sommerferien im Goms geplant.

      Danach war es um ihn geschehen: Es zog ihn immer wieder in seine alte Heimat zurück. Genau genommen, in die Heimat seiner Vorfahren. Im Zürcher Stadtquartier Altstetten aufgewachsen, hatte er als Kind die meisten Sommerferien und manchmal die Winterferien bei den Großeltern in Reckingen oder bei Onkel und Tante in Ernen verbracht. Bis dann vor mehr als vierzig Jahren, er war gerade fünfzehn gewesen, alles mit einem Schlag zu Ende war. Danach hatte er nie mehr Sommerferien im Goms machen dürfen. Winterferien erst recht nicht. Überhaupt keine Ferien mehr im Goms. Mutter hatte es ihm strikt verboten. Dort hole man sich den Tod, hatte sie gesagt. Im Goms war eine gewaltige Lawine niedergegangen, viele Menschen, darunter einige seiner Verwandten, waren dabei ums Leben gekommen. Das Unglück hatte das ganze Land erschüttert.

      Als Mutters Bann Jahrzehnte später seine Kraft verloren hatte, plante Kauz wieder einen Besuch im Goms. Doch diesmal machte ihm seine Frau einen Strich durch die Rechnung. Chantal weigerte sich, je mit ihm in die Berge, geschweige denn ins Goms zu fahren. Sie mochte Strandferien in Italien oder der Türkei. Vier-, lieber Fünfsternehotels, all inclusive, versteht sich.

      Aber nun endlich konnte er tun und lassen, was er wollte. Im Wallis herrschte seit zwei Wochen prächtiges Sommerwetter, in Sitten wurden dreißig Grad gemessen, im Goms durfte man mit angenehmen vierundzwanzig Grad rechnen.

      Kauz ließ in seiner Wohnung alles liegen und stehen, schnallte die schon gepackten Satteltaschen und den Rucksack auf den Gepäckträger seiner alten BMW. Es hatte endlich aufgehört zu regnen. Er kickte die Maschine an und ließ Altstetten hinter sich.

      Wie jedes Mal, wenn das Wetter es erlaubte, nahm er sich für seine Reise viel Zeit. Er mied die Autobahnen. Die Fahrt ging durchs Sihltal, später über die Axenstrasse, dann immer auf der Kantonsstraße durchs Urnerland, die Schöllenen hinauf nach Andermatt. An der Baustelle des zukünftigen Golfplatzes und Luxusresorts vorbei nach Realp. Fast gemächlich tuckerte er über den Furkapass. Nach der Passhöhe hielt er am Straßenrand an und schaute lange ins Goms hinunter.

      Gletsch, im Talkessel zwischen dem Grimsel- und dem Furkapass, übte wie immer einen zwiespältigen Reiz auf ihn aus, halb einladend, halb abweisend. Erst jetzt ging es wirklich ins Goms hinunter. Es war mittlerweile vier Uhr nachmittags geworden. Beim Gasthaus im Rank hielt er an. Hier sollte das Ritual stattfinden, mit dem er sich jedes Jahr auf die Sommerferien einstimmte.

      Er stellte sein Motorrad neben das Haus, nahm den Helm ab und spazierte in den Wald hinein. Bedächtig sog er die Luft ein: Da war er, der Geruch, den er erwartet, ja erhofft, auf den er sich gefreut hatte. Der Wald stand an dieser Stelle lichter, der Boden war den ganzen Tag von der Sonne beschienen worden. Jetzt wurde der würzige Duft des Waldbodens durch die Wärme freigesetzt und schlug ihm voll entgegen. Warme Erde, Tannenzapfen, Lärchennadeln, Baumrinde, Harz, Kräuter und vielleicht Ameisensäure – ein Bouquet ohnegleichen. Er bückte sich, nahm eine Handvoll der mit Tannen- und Lärchennadeln vermischten Erde, zerrieb sie mit beiden Händen und roch dann an seinen Handflächen.

      Nach einer Weile stand er auf, klopfte sich die Hände ab und ging zum Gasthof im Rank zurück. Glücklich stieg er wieder auf seine Maschine und fuhr nach Oberwald hinunter.

      Um halb fünf Uhr nachmittags trudelte er in Münster ein. Jetzt überkam ihn endgültig das Gommer Feriengefühl: Er fühlte sich angekommen, ja fast ein wenig zu Hause. All die Zukunftsängste, die ihn am Mittag noch geplagt hatten, waren wie verflogen. Frau van Hooch mitsamt ihrer Führungsclique und der ganze verflixte Polizeikram konnten ihm gestohlen bleiben.

      Ausspannen würde er. Abends oder bei schlechtem Wetter würde er lesen; er hatte ein paar Bücher eingepackt. Fotografieren vielleicht, auf alle Fälle hatte er seine Spiegelreflexkamera mitgenommen. Zwei-, dreimal würde er mit Wendel zu Abend essen. Oder sich wenigstens ein Feierabendbier genehmigen, vor dem Speicher oder in einer Dorfbeiz. Bergwandern, aber schön gemächlich. Den Rotten- und den ganzen Höhenweg hatte er sich vorgenommen. Eine Wanderung nach Ernen vielleicht. Oder ins Binntal. Höhenwege und Pässe lagen drin, Gratwanderungen und Berggipfel nicht. Er war weder besonders trittsicher noch schwindelfrei. Und mit seiner körperlichen Fitness stand es auch nicht zum Besten.

      Er ließ seine alte BMW ausrollen, deponierte Satteltaschen und Rucksack auf dem Boden, nahm den Helm ab und fuhr mit den Fingern durch sein vom Helmtragen verklebtes Haar. Ein paar Schritte zurücktretend betrachtete er den Speicher.

      Ein Prachtstück!, stellte er wieder einmal fest.

      Wendel Imfangs Speicher war einer der kleinsten und einer der schönsten im ganzen Dorf, über dreihundert Jahre alt. Der Unterbau war im unteren Drittel gemauert, darüber war mit Holz gebaut. Eine einfache Küche – Schüttstein, Kaltwasserhahn, Campinggasherd mit zwei Flammen, Holztisch und zwei Stühle – war darin eingerichtet. Der Oberbau, der eigentliche Schpiichär, war ein wunderschön gezimmerter, von einem Schindeldach bedeckter Lärchenholzbau. Dieser ruhte, einen guten halben Meter über dem Unterbau, auf acht Steinplatten, die auf hölzernen Stadelbeinen auf dem Unterbau standen. Zwischen Unter- und Oberbau blieb so ein freier Raum. Auf diese Weise waren die Vorräte, die früher im Speicher gelagert wurden, vor den Mäusen sicher gewesen. Durch den Zwischenraum hindurch sah Kauz, auf der Gasse stehend, direkt aufs Weisshorn, das im kräftigen Nachmittagslicht leuchtete. Früher war man über eine Leiter in den Oberbau gelangt. Jetzt waren Unter- und Oberbau mit einer am Blockbau anliegenden, schmalen hölzernen Außentreppe verbunden.

      Wendel Imfangs kleiner Speicher, der Ziegenstall und der Stadel vis-à-vis, die beide auch ihm gehörten, und die übrigen an der Langen Gasse liegenden Holzbauten bildeten eine schöne Einheit. Lauter Nutzbauten aus Lärchenholz, von der Sonne über die Jahrhunderte schwarz gebrannt. Die stattlichen Wohnhäuser, ebenfalls Lärchenholzbauten, standen an der Langen Gasse etwas weiter weg. Als Städter hatte er sich an den Ausdruck »Gasse« für diese lichte, von Holzbauten gesäumte Dorfstraße gewöhnen müssen.

      Kauz ging zu Wendels Ziegenstall auf der andern Seite. Der Stall war leer und sauber ausgemistet, die Ziegen waren offenbar schon auf der Alp. Er hatte gehört, dass der Sommer heuer drei Wochen früher gekommen war als in anderen Jahren. Kauz griff an der gewohnten Stelle nach dem Speicherschlüssel. Doch der Schlüssel lag nicht auf dem inneren Fensterbrett.

      Merkwürdig, dachte er.

      Er umrundete den Speicher und blieb vor dem Küchenfenster stehen. Hände und Stirn ans Fensterglas gepresst, versuchte er etwas zu erkennen: Schüttstein, Tisch und ein Stuhl. Wieso stand nur ein einziger Stuhl vor dem Tisch?! Kauz hatte augenblicklich ein mulmiges Gefühl. Weiter im Kücheninneren nahm er einen undeutlichen Schatten wahr. Seine Alarmglocken läuteten. Er ging zur Tür und drückte kräftig auf die angerostete, handgeschmiedete Türklinke. Sie ließ sich ohne Weiteres herunterdrücken.

      Er stieß die Tür auf.

      Etwas Unheimliches wehte ihm entgegen. Wie ein kalter Hauch. Trotz der Hitze des Tages. Etwas hielt ihn zurück. Doch er wusste, dass er hineingehen musste. Mit einem Mal war er ganz Polizist. Er trat in die Küche. Er schaute nach rechts: Schüttstein, Tisch und Stuhl. Er schaute nach links – da sah er, was er befürchtet hatte. Dutzende Male hatte er das schon gesehen. Aber der Anblick hatte nichts von seinem Grauen verloren: Ein Mensch hing, mit dem Rücken zu ihm, vom Deckenbalken, die Füße baumelten nur wenige Fingerbreit über dem Fußboden.

      Kälberstrick, dachte er sofort.

      Auf dem Boden lag umgekippt der zweite Stuhl. Daneben eine blaue Schirmmütze, die ihm bekannt vorkam. Kauz ging um den Toten herum und schaute von der andern Seite in das blaue, aufgedunsene Gesicht. Kein Zweifel: Da hing Wendel Imfang.

      *

      Bald Feierabend, dachte Ria Ritz. Kurz bei Papa reinschauen, Emma in die Arme nehmen, das Nachtessen fertig kochen, das Mama vorbereitet hat, dann Fernsehabend mit Tomi.

      Es war ein voller Tag gewesen. Wann immer ihr neben der eigentlichen Polizeiarbeit noch Zeit blieb, musste sie sich um den Führungskram


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