Gommer Sommer. Kaspar Wolfensberger

Gommer Sommer - Kaspar Wolfensberger


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Blaulicht kreiste. Ritz gab dem Aspiranten Carlen Anweisung, die Unfallstelle comme il faut zu sichern, um Folgeunfällen vorzubeugen. Sie selber ging zum Dorfarzt und den Rettungssanitätern, die sich um den Verletzten kümmerten. Eben wurde entschieden, er müsse per Helikopter ins Spital Visp geflogen werden. Ritz meldete der Zentrale per Funk den Sachverhalt. Sie schaute auf ihre Uhr. Es würde mindestens vierzig Minuten dauern, bis die Spurensicherung aus Brig da war. So lange mussten sie hier ausharren. Sie markierte auf der Straße mit Kreidestrichen die Lage des Verunfallten. Dann beugte sie sich über die Scherben und Lacksplitter, die auf dem Asphalt lagen, ohne etwas anzurühren. Mattgrüne Lacksplitter, stellte sie fest. Ein Armeefahrzeug?, fragte sie sich.

      Die Rettungssanitäter hatten die Taschen des Verunfallten durchsucht. Einen Notfallausweis konnten sie nicht finden, aber er trug seine Identitätskarte auf sich: Hubert Trapper war sein Name, achtundvierzig Jahre alt. Ria Ritz schaltete sofort: Das war doch der Gemeindeschreiber von Münster! Der Verletzte wurde auf die Bahre gehoben und ins Ambulanzfahrzeug geladen. Wenig später fuhren die Rettungssanitäter mit dem Bewusstlosen auf das Flugfeld am Rotten hinunter, wo der Rettungshelikopter landen würde.

      Nun ging Korporal Ritz zu Doktor Kalbermatten. Er war ein Hüne mit weißem Vollbart und dicker Hornbrille, eine Figur wie aus einem alten Heimatfilm. Neben seinem Auto kniend packte er die Notfalltasche zusammen.

      »Überlebt er?«, fragte sie.

      Kalbermatten hob die Schultern. »Ich weiß nicht, Meggä«, sagte er. »Schädelbruch. Wahrscheinlich mehrfache innere Verletzungen. Vielleicht auch die Wirbelsäule. Ganz nüchtern ist er übrigens nicht.« Doktor Kalbermatten tippte mit dem Zeigefinger an seinen Nasenflügel, zum Zeichen, wie er den Befund erhoben hatte.

      »Wer informiert die Angehörigen?«, fragte Ria.

      »Das mache ich. Ich kenne die Familie«, sagte der alte Doktor.

      Ria war heilfroh, dass er selbst anbot, die Familie Trapper über das Unglück zu informieren. Erleichtert drückte sie dem Arzt die Hand.

      Nach weniger als vierzig Minuten waren die Leute von der Spurensicherung da. Die Unfallstelle wurde aus allen Richtungen fotografiert, die Lage des Verletzten, die Korporal Ritz markiert hatte, die Reifen- und alle übrigen Spuren, auch die an der Hausmauer, gegen die der Bedauernswerte geschmettert worden war, wurden dokumentiert. Was im Labor chemisch oder unter dem Mikroskop untersucht werden musste, wurde mit Wattestäbchen aufgetupft, mit Pinzetten gefasst oder mit Gummihandschuhen eingesammelt, in Reagenzgläser, Plastiktüten oder kleine Container gesteckt und in einem Koffer versorgt. Die Kleidung des Unfallopfers würden sie im Spital untersuchen, sagten die Kriminalisten. Die Rechtsmedizin werde natürlich auch eingeschaltet.

      Als die Kriminaltechniker fertig waren, packten auch die zwei Uniformierten ihre Ausrüstung ein und schlugen die Heckklappe zu. Dann setzten sie sich in den Streifenwagen.

      »Mach das Blaulicht aus, Beni«, sagte Ria, als Carlen losfahren wollte. »Und keine Sirene, klar?«, sie kannte die Vorlieben ihres Praktikanten.

      »Setzt es dir zu?«, fragte sie ihn, als sie unterwegs waren, und sah ihn von der Seite an.

      »Geht so«, gab der zu. »Hab nicht so genau hingeschaut.« Tatsächlich hatte er sich ziemlich auf Distanz gehalten und es seiner Chefin überlassen, sich in die Nähe des Verletzten zu begeben. »Was glaubst du«, fragte er. »Wer hat den auf dem Gewissen?«

      »Ein Blaufahrer«, meinte Ria knapp.

      »So früh am Morgen?«

      »Für manche ist früh am Morgen spät am Abend.«

      »Blau war wohl auch der Verletzte. Wenn das wirklich der Trapper Hubert war. Der hat alle paar Wochen einen gewaltigen Rausch.« Ä moorts Chischtä, nannte er den Zustand. Benjamin Carlen, gelernter Landwirtschaftsmaschinenmechaniker, war im Obergoms aufgewachsen und kannte hier jeden und jede. Für die Polizeiausbildung hatte er ins Waadtland ziehen müssen, aber während des Praktikums auf dem Posten Fiesch hatte er bei einer Tante im Ort ein Zimmer bezogen.

      Für den Rest der Rückfahrt schwiegen beide.

      »So«, meinte Korporal Ritz zum Aspiranten Carlen, als sie an ihren Schreibtischen ihr verspätetes Frühstück einnahmen, »für heute haben wir unsere action gehabt. Von mir aus darf der Rest des Tages etwas ruhiger verlaufen.«

      *

      Kauz fühlte sich wie ein geprügelter Hund. Er saß an seinem Küchentisch, die Ellbogen aufgestützt, das Kinn auf den geballten Fäusten. Dann rappelte er sich auf und tigerte durch die Wohnung, abwechselnd empört, gekränkt und gedemütigt. Genau wie damals, als Chantal ihn verlassen hatte. Sie hatte ihm ja auch ganz ähnliche Dinge gesagt wie heute die Kommandantin: Es fehle die gemeinsame Basis. Er sei ein schwieriger Mensch. Das Zusammenleben mit ihm sei eine Zumutung.

      Muss wohl was dran sein, dachte er resigniert und legte sich im Schlafzimmer auf das frühere Ehebett. Chantal hatte das Möbelstück im dänischen Stil nicht haben wollen. Fast das ganze übrige Mobiliar aus der gemeinsamen Wohnung, lauter Schischi, hatte sie dagegen behalten, aber ihm war es nur recht gewesen.

      Die Wohnung war nun eher karg eingerichtet. Er hatte ein paar schlichte skandinavische Möbel hineingestellt und moderne Fotokunst aufgehängt. Eine Sitzgruppe gab es in seinem Wohnzimmer nicht. Wozu auch?, er hatte kaum je Gäste. Dafür besaß er einen zweiteiligen Lounge Chair, auf dem er sich, die Beine auf dem Fußteil hochgelagert, am Feierabend ausstreckte. Dazu Musik aus der neuen, exquisiten Stereoanlage, am liebsten Blues und Jazz.

      Sein Handy summte. Kauz ging ins Wohnzimmer, setzte sich an den Esstisch und schaute auf das Display. Es waren mittlerweile haufenweise Anrufe und SMS eingegangen: Das darf doch nicht wahr sein! – Was fällt der da oben bloß ein?! – Wir stehen zu dir, Kauz. Das lassen wir uns nicht gefallen. – Kopf hoch, Kauz, wir kämpfen für dich.

      Anders als bei seiner obersten Chefin war Kauz bei seinem Team beliebt, trotz oder vielleicht gerade wegen seiner kauzigen Art. Seine Polizistinnen und Polizisten wären für ihn durchs Feuer gegangen. Die Nachrichten taten ihm gut. Aber sie änderten nichts an der Tatsache, dass er entlassen war.

      Vielleicht bin ich der Feigling, dachte er, nicht Senn. Ich hätte mich selbst wehren, nicht auf seine Rückendeckung warten müssen. Für die eigenen Interessen zu kämpfen war noch nie seine Stärke gewesen.

      Eine Stunde lang haderte er mit sich und schwankte, ob er seine Ferienpläne fahren lassen, sich ins Bett legen und die Decke über den Kopf ziehen oder sich betrinken solle. Auf die Einladungen seiner Mitarbeiter zu einem Treffen in der Mittagspause oder einem Feierabendbier ging er nicht ein. Er hatte keine Lust, sich bemitleiden zu lassen oder einen Aufstand zu provozieren. Er würde sich mit ihnen treffen, wenn sich die Gemüter beruhigt hatten. Aber er hatte trotzdem das Bedürfnis, mit jemandem zu reden. Chantal wollte er auf keinen Fall anrufen. Und Xaver? Nein, der hatte seine eigenen Sorgen. Mit wem also reden?

      Wendel! Ihm würde er sein Herz ausschütten. Heute Abend, bei einem Bier. Im Gommereggä.

      Jetzt stand sein Entschluss fest: Er würde trotz allem in die Ferien fahren. Wie geplant, nur eben ein paar Stunden früher. Wieso auch nicht? Gewiss, er musste sein berufliches, nein, sein ganzes Leben überdenken. Aber das konnte er auch im Goms. Sogar besser als hier im Zürcher Regen.

      Der Speicher stand für ihn bereit, darauf war Verlass. Den Mietvertrag hatte er vor einem Jahr per Handschlag abgeschlossen. So lief das mit Wendel. Wendelin Imfang war ein Mann etwa in seinem Alter, mit dem er sich bestens verstand. Ein alleinstehender, etwas schrulliger Landwirt mit ein paar Kühen, zwei Dutzend Ziegen, etwas Weideland und einigen gepachteten Wiesen. Er besserte sein Einkommen auf, indem er den alten Speicher, der als solcher längst nicht mehr in Gebrauch war, an Feriengäste vermietete, die keine hohen Ansprüche stellten. Vor Jahren hatte der Dorfschreiner das Dach isoliert, die Innenwände getäfert, Fenster eingebaut und zwei Betten, zwei Nachttische, ein Regal und einen Schrank in den Oberbau gestellt. Die Rosshaarmatratzen waren mit groben Leintüchern bezogen, darauf lagen hohe, karierte Federbetten. Für Kauz war es das höchste der Gefühle, in dieser altväterischen Kammer zu schlafen.


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