Mein Herz ist wie das Meer. Daniela Schenk

Mein Herz ist wie das Meer - Daniela Schenk


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weggewesen.«

      Am Horizont zeigten sich graue Wolken, die Berge waren nicht auszumachen, ein typischer Januarmorgen.

      Als wir im Bahnhof einfuhren, stand Amelie auf, die Tasche schon geschultert. »Dir einen schönen Tag, du Pralinenverächterin.« Lächelnd hob sie die Hand zum Gruß und strebte dem Ausgang entgegen, obschon der Zug noch gar nicht hielt. Sie hatte es wohl eilig. Und sie hatte mich geduzt.

      Es macht mir nichts aus, nach der Arbeit den Zug zu nehmen, aber es macht mir etwas aus, dass andere das ebenfalls tun. Ich frage mich, warum Menschen nicht harmonisch im Gleichschritt gehen können – vor allem im Gleichschritt mit mir. Warum stoppen sie abrupt vor mir oder trampeln beim Vorbeihasten meine Füße platt? Zombies mit Handy vor der Nase rammen mich oder täten es, wenn ich nicht zur Seite springen würde. Reisende mit Rollkoffern begreifen nicht, dass ihr Wirkungskreis sich durch das Gepäck fast verdoppelt, und schauen mich entrüstet an, wenn sie mir ein Bein stellen. Und warum stehen gesunde Menschen auf Rolltreppen, anstatt zügig voranzugehen? Manchmal höre ich, wie jemand zu seiner Begleitung stöhnt: Ach, die vielen Leute, wie nervig! Offensichtlich zählen sie sich nicht zu den Leuten. Wie schön mussten es unsere Vorfahren gehabt haben, als sie höchstens mit Mammuts oder Bäumen kollidierten – keine Probleme mit Bahnhöfen samt Rollkoffern und -treppen.

      An diesem Abend stand ich unruhig auf dem Bahnsteig, weil ich befürchtete, Amelie zu begegnen. Gerade abends bin ich froh um Ruhe. Ich äugte um mich, bereit, mich hinter Säulen, Werbetafeln oder dicken Menschen zu verstecken. Zu meiner Erleichterung tauchte sie nicht auf.

      Raffiniert wie ich bin, stieg ich am folgenden Morgen in einen mittleren Wagen ein – Amelie würde mich nicht finden. Amelies Station kam. Ich atmete gerade schon auf, als eine strahlende Amelie vor mir stand. Verflixt! Sie warf die Tasche auf den Boden und nahm mir gegenüber Platz. Keine höfliche Frage, ob der Platz noch frei sei. Durchsuchte Amelie etwa den Zug nach mir? Eine äußerst unangenehme Vorstellung!

      Amelie grüßte mich mit einem kleinen Lächeln in den Mundwinkeln. Das schwarze Haar trug sie offen – ein Großteil davon steckte unter einer dunkelblauen Wollmütze mit weißen Tupfen. Sie blickte mich prüfend an. »Was magst du so?«

      »Ich verstehe nicht.«

      »Was magst du auf die gleiche Weise wie ich Brändli Bomben?«

      »Da müsste ich erst wissen, auf welche Weise du sie magst.«

      »Wenn sich jemand frühmorgens einen Schokoladenball in den Mund stopft, dann wohl auf gierige Weise. Mein Geschenk war wieder einmal der Beweis: Man schenkt oft das, was einem selber gefällt, nicht unbedingt der anderen. Das ist der Grund, warum viele Geschenke in einer Ecke verstauben, im Küchenschrank vergammeln oder weiterverschenkt werden.«

      »Ich schenke nie Dinge, die nicht gefallen.«

      »Wie kannst du dir da so sicher sein?«

      »Weil die Beschenkten sich freuen.«

      »Vielleicht spielen sie dir etwas vor.«

      »Niemals.« Ich ließ vor meinem inneren Auge ein paar meiner Geschenke Revue passieren, und auf einmal war ich mir nicht mehr sicher, ob der Roman, den ich so spannend fand, meiner Mutter auch gefiel (sie hatte ihn jedenfalls nie mehr erwähnt) – und was war mit den weißen Orchideen für meine Freundin Annika – hatte sie nicht mal gesagt, dass weiße Blumen sie an Begräbnisse erinnerten?

      Ich räusperte mich. »Also, ein Chai wäre nicht schlecht.«

      »Keinen Jang Wong Hu Tee?«

      »Was soll das sein?«

      »Ein chinesischer Schwarztee – würde doch passen.« Amelie lächelte leicht. Ich wusste, worauf sie anspielte, aber ich ging nicht darauf ein. »Einen Chai also, das lässt sich bewerkstelligen.« Sie zog ihren E-Reader aus der Tasche und begann zu lesen. Sie tat das, ohne sich zu erklären – das gefiel mir, es vermittelte mir das Gefühl, dass ich auch tun konnte, wozu immer ich Lust hatte. Ich setzte meine Kopfhörer auf.

      Wie letztes Mal schulterte Amelie ihre Tasche, noch während wir in den Bahnhof einfuhren, und winkte mir zum Abschied.

      Am nächsten Morgen nahm ich wieder meinen geliebten hintersten Wagen. Falls Amelie zustieg, würde sie mich sowieso finden, und eigentlich war das nicht schlimm. Ich schloss die Augen und merkte erst auf, als jemand sich an meiner Seite des Tischchens zu schaffen machte. Ich öffnete die Augen einen Hauch weit: Ein Becher landete vor mir, eine Hand schwebte auf mein rechtes Auge zu und öffnete es sachte. Wie frech!

      »Hier also ein Chai aus der hauseigenen Brauerei«, grinste Amelie, wobei um ihre Augen Lachfältchen entstanden. Der Anzahl und Tiefe nach zu urteilen befand sie sich in meinem Alter, irgendwo in den Dreißigern. Kommentarlos beugte ich mich vor und schnupperte an dem Getränk. Es roch – wie soll ich sagen? – wild. Als wäre Amelie über einen indischen Markt gestreift und hätte von jedem Gewürzhügel eine großzügige Prise genommen. Vorsichtig kostete ich. Der Tee kratzte im Hals – er war staubiger als der Dachboden meiner Oma. Ich schmeckte Safran und Kreuzkümmel, Gewürze, die in eine Paella oder in ein Dhal gepasst hätten, aber nicht in einen Chai. Ich zwang mich zu einem zweiten Schluck – hustete und hechelte (hatte sie Chili reingetan?!).

      Amelie schaute besorgt zu. »Nicht gut? Ist zu wenig Zucker drin oder die falsche Teesorte? Ich habe Liptons genommen, etwas anderes hatte ich nicht im Haus. Gell, du erstickst nicht? Wie heißt du eigentlich? Es wäre doch unschön, wenn du sterben würdest und ich wüsste deinen Namen nicht.«

      Ein paar Huster später sagte ich mit verwirrtem und erhitztem Mund: »Ich glaube, an der Gewürzauswahl musst du noch arbeiten. Und ich heiße Zazou.«

      »Wie das Internet TV?«

      »Nein, nicht Zattoo

      »Jetzt wo du es sagst … Du, es gibt doch eine französische Sängerin, die Zazou heißt.«

      »Die heißt Zaz.«

      »Aber vielleicht ist Zazou ihr richtiger Name und Zaz die Abkürzung.«

      »Möglich, keine Ahnung.«

      »Ist ja auch egal. Zazou … kann man wirklich so heißen?« Während sie das fragte, griff sie nach dem Becher und trank. Erwartungsvoll beobachtete ich sie. Zu meinem Erstaunen verkostete sie das Gebräu wie einen exquisiten Wein: »Nicht schlecht. Es müsste aber mehr Zucker rein«, erklärte sie. Entgeistert sah ich zu, wie sie einen zweiten Schluck nahm. War sie irre oder kann man sich über Geschmack einfach nicht streiten? Ich entschied mich für die zweite Möglichkeit. Ich sitze nicht gerne mit einer Irren im Zug.

      Amelie deutete hinaus. »Wieder keine Berge, nur Grau.«

      »Ich habe keine Ahnung, warum die Sicht manchmal gut ist, dann wieder nicht. Ich weiß nur, dass bei Föhn die Berge gleich hinter dem Münster stehen. Aber warum das so ist? Keinen blassen Dunst.«

      Amelie trank den Becher leer – unglaublich! »Unser Geografielehrer war ein Wetterfanatiker. Am Anfang der Stunde erklärte er uns immer, wie das Wetter an diesem Tag zustande kam. Der Föhn ist ein feuchter Südwind aus Italien. Auf dem Weg in den Norden prallt er an die Alpensüdseite. Um weiterzukommen, muss er aufsteigen, dabei entstehen Wolken, die sich auf der Tessiner Seite der Berge abregnen. Der Regen säubert die Luft von Staub- und Schmutzpartikeln, der Wind gelangt frisch gewaschen, sauber und trocken auf die Alpennordseite und schafft damit die ideale Voraussetzung für eine gute Fernsicht. Und ich muss jetzt …« Sie griff nach ihrer Tasche, zwinkerte mir zu und strebte wie immer zu früh dem Ausgang entgegen.

      Warum nur diese Eile?

      Von meiner Station bis zu Amelies dauert es rund sieben Minuten, neuerdings gefühlt dreißig. Die Zeit hat diese unheimliche Fähigkeit, sich bei der Ewigkeit anzubiedern oder zu Nichts zusammenzufallen und dies gerne im falschen Moment: Die sieben Minuten zu Amelies Station schlugen Wurzeln, dann gesellte sich Amelie zu mir und die restlichen dreiunddreißig Minuten mutierten zu Nanonichts – schon stand Amelie auf, nicht ohne vorher nach den Bergen


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