Mein Herz ist wie das Meer. Daniela Schenk

Mein Herz ist wie das Meer - Daniela Schenk


Скачать книгу
die Brücke, die Häuser waren hier so nah an die Gleise gebaut (oder wohl eher hatte man die Zugbrücke direkt daneben errichtet), dass man in die Wohnungen hätte sehen können, wenn die Fenster nicht die Umgebung gespiegelt hätten. Es gab einen Boxclub, ein Fitnessstudio, einen Lokalradiosender und Wohnungen, in denen mehrheitlich ausländische Familien lebten. Amelie verstaute ihr Handy in einem Außenfach der Tasche und zog Reißverschlüsse zu. Dann schaute sie hinaus und klagte darüber, dass man wieder mal nichts vom Oberland sah. Sie stand auf und zog die Jacke über. Ich wollte sie fragen, warum sie sich immer so früh bereitmachte, aber die Frage blieb mir im Hals stecken – keine Ahnung warum. Ich hob die Hand zum Gruß. Amelie lächelte.

      Amelie besaß einiges an Kleidung, und das ist die Untertreibung des Jahres: Sie war Königin über Berge von Klamotten, vermutlich Herrscherin einer Heerschar von Kleiderschränken. Ich hatte sie nie zwei Mal in der gleichen Hose, Bluse oder demselben Pullover gesehen, einzig bei den Jacken gab es Wiederholungen. Ihre Farb- und Musterkombinationen waren oft waghalsig. An diesem Tag trug sie ein schachbrettgemustertes Jackett und darunter eine blau-weiß-lila geblümte Bluse. Und das Verrückteste war: Die unmöglichen Muster- und Farbkombinationen sahen gut aus!

      »Was schaust du?«, fragte Amelie.

      Errötend beugte ich mich vor und deutete auf den unteren Rand des Jacketts. »Da hängt ein Zettel.«

      Amelie schaute an sich hinunter und begann zu lachen. »Schau an, der Preis.« Sie riss am Etikettenfaden, und als der nicht reißen wollte, holte sie eine Streichholzschachtel aus der Tasche. Zuerst verstand ich nicht, was sie damit wollte, aber als sie dann ein Streichholz entzündete und unter den Faden hielt, begriff ich. Der Faden fing Feuer und riss, Amelie reichte mir das Preisetikett. »Wirfst du es bitte in den Abfall? Du sitzt näher dran.«

      Ich warf einen Blick auf das Etikett, gespannt, wie viel das Schachbrett gekostet hatte, und staunte nicht schlecht, als da von Hand Fr. 15.- geschrieben stand und über dem Preis in Druckbuchstaben 2ND-BOUTIQUE MARA.

      Amelie: »Toller Secondhand-Schuppen – mein Lieblingsladen überhaupt.«

      »Ich hasse es, Klamotten zu kaufen. Wenn ich etwas gefunden habe, das mir gefällt, nehme ich es oft in zwei- oder dreifacher Ausführung. Ich verstehe Steve Jobs, der fast nur Blue Jeans und schwarze Pullover trug.«

      »Besitzt du auch was anderes als Blue Jeans?«, fragte Amelie lächelnd.

      »Ja, schwarze.«

      »Wenn du mal keine Jeans trägst, werde ich ein Kreuz an die Decke des Wagens malen.«

      »Und ich mache ein Kreuz, wenn du tatsächlich ein Kreuz an die Decke malst«, entgegnete ich augenzwinkernd.

      »Wir werden sehen«, sagte Amelie. Dann folgte ein für sie typischer Themenwechsel. »Hast du dir schon mal überlegt, wie viele Stunden, Tage und Wochen du mit Pendeln zugebracht hast und wie viele noch folgen werden?«

      »Bewahre nein, das wäre zu deprimierend! Noch schlimmer wäre es zu wissen, wie viele Wochen man auf dem Klo gesessen, Zähne geputzt, gegessen, geschlafen, gewartet, Schuhe gebunden, ferngesehen und gegähnt hat. Bekanntlich macht die Dosis das Gift. Ein paar Minuten pro Tag Zähne putzen ist okay, aber alles Zähneputzen auf einmal – eine Horrorvorstellung.«

      »Monatelang Sex wäre aber nicht zu verachten.« Amelie bekam einen genießerisch-verzückten Gesichtsausdruck, und einen Moment lang konnte ich mir nur zu genau vorstellen, wie sie während dieser Monate aussehen würde. »Das würde aber heißen, dass man nach dieser Zeit nie mehr Sex haben könnte, weil man alles auf einmal genossen hätte.«

      Amelie nickte ernsthaft, als würden wir über ein reales Problem diskutieren, und fügte hinzu: »Sex ist zwar nicht alles – aber ohne Nichts ist alles sexy. Oder so.«

      Wir lachten, dann schwiegen wir einträchtig, bis ich mich überwand und Amelie das fragte, was ich schon lange hatte wissen wollen: »Sag mal, warum brichst du immer so früh auf, ohne auf mich zu warten?«

      Verdutzter Blick, leichte Anspannung auf Amelies Gesicht, eine Andeutung nur. Sie sagte gereizt: »Das tut nichts zur Sache.«

      »Zu welcher Sache?«

      »Dieser hier. Ich habe dir gesagt, dass ich nicht über Persönliches reden will.«

      »Über Kleidung zu reden ist nicht persönlich, über das Verlassen des Zuges schon?«

      »Ja.« Demonstrativ schaute sie hinaus. Ebenso demonstrativ zog sie später ihre Jacke über, nahm ihre Tasche und sagte: »Ich frage dich ja auch nicht wegen deiner Augen.« Sie verabschiedete sich und schon war sie verschwunden.

      Perplex überlegte ich mir, was an meiner Frage so fürchterlich persönlich gewesen war. Um dann in mich hineinzulächeln: Es gab also Dinge an mir, die sie interessieren würden. Vermutlich aber würde sie sich eher die Zunge abbeißen, als ihr Gesetz zu brechen und mich zu fragen. Beim Aufstehen fiel mein Blick auf die Streichholzschachtel, die Amelie auf dem Tischchen liegengelassen hatte. Ich steckte sie in die Tasche und musste an unsere Ur-Ur-Urahnen denken, für die ein Streichholz nichts weniger als göttlicher Zauber gewesen wäre.

      Eines Morgens setzte sich Amelie mir gegenüber und sagte finster: »Fürchte dich nicht

      »Wie bitte?!«

      »Hast du es nicht gesehen? Das blaue Plakat. Auf dem steht: Fürchte dich nicht. Die Bibel

      »Ach das.« Eine christliche Gemeinde verschwendete seit Jahren Geld für große Plakate mit biblischen Sprüchen.

      »Je nachdem, wie ein Lastwagen vor dem Plakat parkt, wäre nur zu lesen: Fürchte dich. Nicht gerade tröstlich. Wenn ich das Wort fürchten lese, erinnere ich mich daran, wie dieses Gefühl sich anfühlt, nämlich Scheiße. Aber vielleicht beabsichtigen sie genau das – wenn ich mich schlecht fühle, brauche ich etwas, das mich davon erlöst, und wer würde sich da besser eignen als der liebe Gott? Warum reicht es den Gläubigen nicht, ihren Glauben zu glauben?«

      »Vielleicht wollen sie andere an ihrem Glück teilhaben lassen.«

      »Ach was, so selbstlos sind die nicht. Sagen wir mal, ich will mich aus gesundheitlichen Gründen mehr bewegen. Dann habe ich zwei Möglichkeiten: Entweder bewege ich mich mehr oder ich versuche meine Umgebung davon zu überzeugen, dass sie sich mehr bewegt – vielleicht würde mich das motivieren. Anders gesagt: Je weniger ich etwas auf der Reihe habe, desto mehr will ich, dass die anderen es auf der Reihe haben, in der Hoffnung, dass ich es dann auch auf die Reihe kriege.«

      »Man will andere bekehren, weil man sich selbst bekehren möchte?«

      »Genau.« Amelie rückte näher zu mir und flüsterte: »Siehst du da vorn die junge Frau, die strickt?«

      Ich atmete Amelies Körperduft ein. Sie war nicht parfümiert – es war ihr Körper, den ich roch, und ich geriet durcheinander. Ich konnte nicht sagen, ob sie herb roch oder süßlich, sauer, irdisch, bitter. Aber ich konnte die Bilder beschreiben, die Amelies Geruch in mir entstehen ließ: der Hauch von Ferne; das Glitzern der Sonne auf einem See, wenn der Wind mit ihm spielt; der sommerliche Schatten in Griechenland; eine Allee mit blühenden Magnolienbäumen.

      »Siehst du, wie sie ins Stricken vertieft ist? Steht sie etwa auf, um andere Leute zum Stricken zu bekehren? Nein, sie hat keine Zeit dafür, sie ist ganz bei der Sache, die ihr sicher viel Spaß bereitet. Sie will niemanden bekehren – sie will den Pulli fertigstellen.«

      »Das wird eine Socke.«

      »Nein, der Ärmel eines Pullovers.«

      »Sie kommt gleich zur Ferse. Ich habe nie kapiert, wie man die macht.«

      Amelie machte ihr überhebliches Du-hast-zwar-recht-aber-das-gebe-ich-nicht-zu-Gesicht und fuhr mit ihren Ausführungen fort. »Wenn die Gläubigen und Missionare von ihrer Religion wirklich überzeugt und erfüllt wären, hätten sie keine Zeit für Bekehrungsversuche. Es könnte höchstens sein, dass manche zu ihnen gehen, um von ihnen zu lernen. Das ist dann


Скачать книгу