Mein Herz ist wie das Meer. Daniela Schenk
die Eckdaten ihres Lebens erfahren, wollte Schubladen öffnen, wollte einordnen und zuordnen können.
Und es irritierte mich, dass sie sich nicht für mein Leben und für mich als Person interessierte – auch wenn ich es genoss, dass Amelie und ich uns in einem leeren Raum begegneten, unbeschwert von den Geschichten, die wir mit uns herumtrugen und die vielleicht schon lange fertigerzählt waren und jegliche Pointe verloren hatten.
So gesehen waren Amelie und ich auf einem interessanten Weg. Trotzdem hätte ich gern gewusst, ob sie Single war, einen Freund oder Ehemann hatte oder Frauen zugeneigt war. Gefiel ich ihr? Als Mensch, als Frau? Dass ich mich das fragte, sprach Bände – von denen ich aber keinen einzigen aufschlagen wollte, denn sonst hätte ich mir ernsthafte Fragen stellen müssen.
Was ich an Amelie besonders schätzte: Sie war immer für eine Überraschung gut. Einmal saßen wir zu zweit in einem Viererabteil. Amelie holte eine bunte Schachtel hervor. »Spielst du mit?«, fragte sie und hatte die Schachtel schon geöffnet.
»Ich bin keine Spielernatur«, brummte ich. »Was ist das?«
»Memory.«
»Wir sind keine Kinder mehr.«
»Hast du es nicht gern gespielt?«
»Doch, sicher.«
»Eben – deshalb spielen wir Memory.«
Seufzend schaute ich zu, wie Amelie die Kärtchen auf dem freien Sitz neben ihr verteilte. Die Frau und der Mann nebenan sahen uns belustigt zu. Wie war es mir peinlich!
Amelie stieß mich an. »Du darfst anfangen.«
Es blieb mir wohl nichts anderes übrig, als mich in mein Schicksal zu fügen. Von drei Augenpaaren beobachtet, deckte ich zwei Kärtchen auf, darauf Fische, jedoch nicht identische. Bald zeigte sich, dass sich auf allen Karten Fische befanden, mit Ausnahme eines Seepferdchens und eines Seeigels. Für mich sahen die Fische alle gleich aus: mit schillernden Farben, Flossen und Schuppen. Wie sollte ich die auseinanderhalten und mir merken können?
Ich konnte nicht – Amelie jedoch schon: Während ich drei Pärchen rein zufällig fand, graste sie mit schlafwandlerischer Sicherheit ab. Zu allem Übel fühlten der Herr und die Dame sich bemüßigt, mich zu unterstützen. Kaum hatte ich eine Karte umgedreht, bedeuteten sie mir, wo sich die zweite befand, wobei sie nicht auf dieselbe zeigten. Amelie amüsierte sich prächtig. Am Schluss stapelte sie ihre Pärchen und legte meinen Stapel neben ihren. »Dir fehlt die Übung«, erklärte sie gönnerhaft. »Das kommt noch.«
»Das kommt nicht, denn ich habe keine Lust auf eine weitere Geisterfahrt durch diese Meeresunterwelt mit tausend Fischklonen.«
»Aha, eine schlechte Verliererin.«
»Nein, eine, die sich nichts aus Fischen macht.«
Schweigend begann Amelie die Karten einzupacken, schon hing die Tasche über ihrer Schulter, schon sagte sie tschüss und eilte davon.
Ich rief: »Kannst du nicht auf mich warten?« Aber sie hörte mich nicht oder wollte mich nicht hören. Kopfschüttelnd griff ich zu meiner Jacke.
Auf dem Weg zur Bahnstation ging ich einen Block entlang, dessen Treppenhaus nach Weichspüler roch. Manchmal schrubbte eine ältere Dame frühmorgens die Steinplatten vor dem Eingang, sie nahm auch den Schuhrost heraus und putzte die Vertiefung. Eines Morgens im März, ich kannte Amelie schon über zwei Monate, trat ein alter Mann aus diesem Häuserblock und ging vor mir Richtung Bahnstation. Nach ein paar Schritten drehte er sich um, schaute nach oben und lächelte. Er ging weiter, drehte sich wieder um, winkte lächelnd. Bestimmt seine Frau, mit der er schon ein halbes Jahrhundert zusammen war.
Die Szene rührte mich. Ich fragte mich, ob sich in ferner Zukunft jemand auf solch wunderbare Weise auch von mir verabschieden würde. Zweifelhaft.
An diesem Morgen erklärte Amelie, dass sie ein Memory mit einfacheren Bildern für die begriffsstutzige Zsa Zsa auftreiben würde. Ich erwiderte, dass sie aufhören solle, mich Zsa Zsa zu nennen und dass ich nicht auf diesen Namen reagieren würde. Amelie wies darauf hin, dass ich soeben darauf reagiert hätte, deshalb könne sie meine Erklärung nicht ernst nehmen. Bis zur nächsten Station stritten wir darüber; danach erzählte ich ihr von der Abschiedsszene, die ich gesehen und wie sehr sie mich gerührt hatte.
Amelie stützte sich lässig mit dem Ellenbogen auf den schmalen Fenstersims. »Vielleicht war das die Liebhaberin.«
»Aber sicher!«
»Oder der Hund. Oder die Putzfrau, mit der er ein Verhältnis hat.«
»Hör auf, du bist doch nur neidisch.«
»Auf wen genau? Dich, den Hund, den alten Mann oder die Putzfrau?«
»Darauf, dass zwei es auch nach vierzig Ehejahren noch schön miteinander haben.«
»Vielleicht sind sie frisch verheiratet. Oder beide heucheln. Sie denkt beim Winken: Hau bloß ab!, und er: Endlich habe ich ein paar Stunden Ruhe vor der!«
»Ich hätte dir das nicht erzählen sollen – du zerstörst mir das Erlebnis!«
»Das Einzige, was ich in Frage stelle, ist deine Interpretation der Situation, die rein spekulativ war. Fakt ist, dass du nicht weißt, wem er zugewinkt hat, weil du nicht geguckt hast.«
»Es war schön und aufbauend, es so zu sehen.«
»Zum Glück bist du keine Journalistin.«
»Woher willst du das wissen?!«
»Wer so voreilige Schlüsse zieht, eignet sich nicht für den Journalismus.«
»Du weißt aber nicht, ob ich Journalistin bin oder nicht. Du nimmst es bloß an.«
»Ich bin mir sicher.«
»Denk, was du willst – ich werde deine Vermutung weder bestätigen noch berichtigen.«
»Gut.«
Für mich jedoch war nichts gut. Ich hatte Amelies Versteckspiel so satt. »Können wir bitte das Thema wechseln?«
Amelie nickte nur, nahm den E-Reader aus der Tasche und begann zu lesen. So konnte man das Thema auch wechseln.
»Wie billig, zu lesen«, sagte ich.
»Nicht billig, aber billiger als die papierene Version.«
»Sehr lustig!«
»Jetzt sag nicht, dass du sauer bist.«
»Doch.«
»Aber wir haben doch bloß rumgealbert.«
»So nennst du das? Du hast mir ein schönes Erlebnis kaputtgemacht! Unter Herumalbern stelle ich mir was anderes vor.«
»Da gibt jemand einen Kommentar ab und schon ist bei dir alles kaputt? In deinem Universum bist du die Einzige, die etwas kaputtmachen oder kaputtmachen lassen kann. Es steht dir frei.«
»Klar, haut mir einer in die Fresse, entscheide ich, ob mir das wehgetan hat oder nicht. Schießt mir jemand ins Herz, bestimme ich, ob ich sterben will oder nicht.«
Ruhig schaltete Amelie den E-Reader aus. »Warum gleich so krasse Beispiele? Natürlich funktioniert es da etwas anders. Aber es ist trotzdem so: Du hast es in der Hand, ob jemand dir eine Geschichte verderben kann oder nicht. Und du hättest nicht sauer werden müssen, nur weil ich Schrott erzählt habe.«
»Du gibst also zu, dass du Unsinn erzählt hast?«
»Jein.«
»Argh!!« Ich raufte mir die Haare, was Amelie offenbar lustig fand.
»Könnte es sein, dass du mir demnächst den Kopf abreißt?«
»Ja, aber zuerst steche ich dir die Augen aus, schneide dir die Ohren ab und die Zunge in Scheiben.«
»Das hört sich gründlich an – saubere