Mission: Weisse Weihnachten. Andreas Benz
Lieblingssessel gewesen und eines der wenigen Möbelstücke, die sie ins Altersheim mitgenommen hatte. Zu gross und umständlich war die Wohnung geworden, in der sie fast fünfundvierzig Jahre mit ihrem Mann gelebt hatte. Und jetzt war sie auch schon fast zehn Jahre hier im »Abendrot«.
Sie blätterte die zwölf Landschaftsbilder des Kalenders durch, und plötzlich kam ihr ein Satz in den Sinn, den sie als Kind häufig von ihrer Grossmutter gehört hatte: »Je älter man wird, desto schneller vergeht die Zeit.« Ihre Grossmutter hatte das immer genau dann zu ihr gesagt, wenn sie entweder die Zeit vertrödelte oder wenn es ihr langweilig war und sie nicht wusste, wie sie die Zeit herumkriegen sollte. Sonntags, wenn sie lange ausschlief, fügte die Grossmutter noch den Zusatz an: »Das ist dem Herrgott den Tag gestohlen«, erinnerte sich Maria weiter und zupfte, versunken in vergangenen Zeiten, ein paar welke Blätter aus dem Blumenstrauss, der auf dem kleinen Tisch stand. Sie war sehr froh, dass sie immer noch so klar im Kopf war und sich noch an fast alles erinnern konnte. »Das Einzige, was einem im Alter bleibt, sind doch die Erinnerungen«, dachte sie etwas melancholisch.
Neben der Blumenvase lag eine Glückwunschkarte mit einer goldenen, in geschwungener Schrift geschriebenen Neunzig. Obwohl ihr der Krieg einen Teil ihrer Jugend geraubt hatte und sie ihren Traum, Architektur zu studieren, zum Wohl der Familie begraben musste, hatte sie doch ein schönes Leben gehabt. Jahrelang machte sie das Büro einer kleinen Baufirma, wo sie auch ihren Mann kennen lernte. Ein gelernter Maurer, der dort als Polier arbeitete. Es folgte die Heirat, und schon bald war sie schwanger. Leider war es eine sehr schwierige Schwangerschaft, und auch die Geburt verlief nicht ohne Komplikationen, was zur Folge hatte, dass das Neugeborene ihr einziges Kind blieb.
»Ja, ich kann, nein, muss doch zufrieden sein«, dachte sie. »Es war lange Zeit ein ganz normales Leben, bis an dem Tag, als …«
Ein Klopfen an der Zimmertür riss sie aus ihren Gedanken. Maria schaute kurz auf die alte Kuckucksuhr an der Wand, eine Erinnerung an ihre Hochzeitsreise in den Schwarzwald.
»Pünktlich wie immer«, dachte sie, zupfte ihre Strickjacke zurecht und rief: »Herein!«
Doktor Steiner betrat das Zimmer, und sofort fielen ihm die Blumen auf.
»Oh, da gratuliere ich aber herzlich«, sagte er und setzte sich auf einen Stuhl zu Maria an den Tisch.
»Haben Sie schön gefeiert?«
»Ja, danke, es war ganz nett.«
Es entstand eine unangenehme Pause.
Ohne Maria in die Augen zu schauen, zog der Arzt einen Umschlag aus seiner Tasche und sagte mit ernster Stimme: »Die Testresultate und der Laborbericht sind gekommen.«
Maria fiel der sachliche Ton des Mediziners auf, was sie als ungutes Zeichen deutete.
»Und?«, fragte sie.
Doktor Steiner presste seine Lippen zusammen und schüttelte nur den Kopf.
3
Die Eingangstür des Altersheims öffnete sich langsam. Hans Bolliger kam nicht zum ersten Mal zu spät ins Altersheim zurück. Er wusste genau, dass er die Tür ganz vorsichtig öffnen musste, wollte er das verräterische Knarren vermeiden. Trotz seiner vollen Konzentration konnte er sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. Genau so mussten sich damals seine Schüler gefühlt haben, wenn sie sich verspätet hatten und versuchten, unbemerkt ins Klassenzimmer zu schleichen. Nur war auch er längst kein Schüler mehr, sondern ein achtzigjähriger Mann. Sich wie ein Schuljunge mit schlechtem Gewissen zu fühlen, belustigte Hans zwar, doch ganz tief in ihm machte es ihn auch wütend und traurig. Wie konnte er sich wegen einer Hausordnung und eines Hausdrachens wie der Kunz so kleinmachen? Das konnte doch nicht wahr sein. Erniedrigend. Er, Hans Bolliger, der …
»Es ist Viertel nach vier, und wann sollten wir zurück sein? Herr Bolliger, Sie wissen, dass das Konsequenzen hat!«
Daniela Kunz stand vor Hans wie ein Offizier. Sie überragte den nicht sehr grossen Mann um fast einen Kopf und schien das zu geniessen.
Hans suchte verzweifelt nach einem Ausweg, und dann fiel sein Blick auf die Tür zur Gästetoilette, die direkt neben dem Eingang lag. Ohne ein Wort zu sagen, schob er die Kunz zur Seite, rannte zur Toilette und verschwand in dem kleinen Raum, der eigentlich für Gäste reserviert war.
»Um vier … aber ich musste unterwegs dreimal einen Toilettenhalt einschieben – die verdammte Prostata, Sie wissen ja«, rief er durch die geschlossene Tür.
Kunz machte sich eine Notiz auf ihrem Klemmbrett und ging in ihr Büro zurück. Nach einer Weile öffnete Hans die Toilettentür einen Spaltbreit und spähte hinaus, um zu sehen, ob die Luft rein war. Daniela Kunz war verschwunden. Schnellen Schrittes ging er durch die Eingangshalle und die Treppe hoch zu seinem Zimmer. Auf dem Flur kam ihm Doktor Steiner entgegen. Steiner nickte Hans zu und fragte ihn, wie es ihm gehe.
Hans zog die Schultern hoch.
»Einigermassen«, antwortete er, »aber ich kenne mittlerweile jede Toilette im Umkreis von zehn Kilometern.«
»Das Bier nicht zu kalt trinken«, schlug der Arzt lächelnd vor.
Hans tippte sich bedankend an die Stirn und ging weiter.
Doktor Steiner ging zum Ausgang, wo er von Daniela Kunz abgefangen wurde.
»Wie geht es Maria Gerber?«, fragte sie.
Der Arzt schüttelte nur leicht den Kopf und ging an ihr vorbei zur Tür hinaus und zum Parkplatz.
Kunz drehte sich zu ihrer Assistentin um, die ihr gefolgt war, und sagte: »Claudia, ruf bei der Gemeinde an, hier wird bald ein Zimmer frei.«
4
Hans schloss die Zimmertür hinter sich und hängte den nassen Wintermantel zum Trocknen über den Heizkörper. Die Schuhe, in die er altes Zeitungspapier gestopft hatte, stellte er darunter und prüfte mit der Hand, ob die Heizung auch wirklich warm genug eingestellt war. Sein Zimmer war akribisch aufgeräumt. Alles hatte genau seinen Platz. Auffallend war ein grosses Bücherregal, in dem Hunderte Bücher perfekt einsortiert waren. Ja, es musste alles seine Ordnung haben in Hans’ Leben. Er wusste, dass er mit seinem Ordnungssinn fast alle beinahe in den Wahnsinn trieb. Die Einzige, die immer gemocht hatte, dass sie nie hinter ihm herräumen musste, war seine Frau. Auch wusste er, dass er damals von seinen Sekundarschülern den Spitznamen »Meister Proper« bekommen hatte, aber das kümmerte ihn nicht. Die klare Ordnung und die Tatsache, dass er immer und für alles einen Plan brauchte, gaben ihm Sicherheit.
Auf einem kleinen Tisch stand seine alte mechanische Schreibmaschine, eine Hermes Baby, die er vor vielen Jahren auf einem Flohmarkt in Zürich für ein paar Franken erstanden und natürlich vor dem ersten Gebrauch bis in die letzte Ritze perfekt gereinigt hatte. Daneben, ebenfalls fein säuberlich geordnet, eine ganze Sammlung verschiedener Medikamente. Hans massierte seine schmerzende Hüfte. Er wollte eine längst fällige Hüftgelenkoperation hinausschieben, solange es ging. Idealerweise bis zum Frühling. Krücken im Winter waren in seinem Alter keine gute Idee. Zudem hasste er Krankenhäuser und war überzeugt, dass die Menschen meist kränker entlassen wurden, als sie eingetreten waren – wenn sie überhaupt zurückkehrten.
Hans nahm aus drei Medikamentenschachteln je zwei Tabletten und schluckte sie trocken hinunter. Langsam und unter grossen Schmerzen setzte er sich an die Schreibmaschine, zog sein kleines, schwarzes Notizbüchlein aus der Hosentasche und schlug es bei der Seite auf, wo ein Buchzeichen drinsteckte. Fein säuberlich – wie konnte es anders sein – hatte er sich mit lehrertypisch gleichmässiger Handschrift Notizen gemacht. Nicht irgendwelche Notizen, sondern neue Ideen für seinen dritten Roman – seine beiden ersten Manuskripte lagen akkurat gebunden und unveröffentlicht in seinem Bücherregal. Hans öffnete die Tischschublade und zog ein weisses Papier heraus, steckte es hinter die Walze der Schreibmaschine und drehte das Walzenrad. Mit klickendem Geräusch wurde der jungfräuliche Papierbogen