Mission: Weisse Weihnachten. Andreas Benz

Mission: Weisse Weihnachten - Andreas Benz


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schaute vom Album hoch und aus dem kleinen Fenster ihres Zimmers. Es war dunkel, und es hatte wieder zu regnen begonnen. In ihren Gedanken war sie dreissig Jahre zurück, in einer Zeit, in der noch alles in Ordnung war.

      »Ja, da waren wir immer am glücklichsten … an Weihnachten, in den Bergen. Mit viel Schnee und Schweinebraten mit Kruste … ja, das wäre jetzt schön«, sagte sie geistesabwesend, während ihr die Tränen über die gefurchten Wangen rannen.

      6VW-Bus

      Luky sass in seinem Zimmer rittlings auf der Fensterbank des einzigen Fensters und lehnte sich gefährlich weit hinaus. Zufrieden paffte er seine wohlverdiente Siegerzigarre zu Ende, als es an die Tür klopfte.

      Noch bevor er etwas sagen oder die Zigarre verschwinden lassen konnte, stand Daniela Kunz in seinem Zimmer und stürmte wie eine Furie auf ihn los, riss ihm die Zigarre aus der Hand und warf sie aus dem Fenster in den darunter liegenden Garten.

      »Wie oft muss ich es Ihnen noch sagen: Im ganzen Haus ist das Rauchen verboten! Und mit Ihrer Narkolepsie schlafen Sie eines Tages mit dem Stinkteil im Mund ein und fackeln hier alles ab!«

      Luky lehnte sich demonstrativ noch weiter aus dem Fenster, bis ihm der Regen ins Gesicht prasselte.

      »Aber ich war ja praktisch draussen«, gab er zu bedenken.

      Daniela Kunz musterte ihn abschätzig.

      »Treiben Sie es nicht zu weit, Herr Landolt. Es haben schon ganz andere gemeint, sie müssten sich nicht an die Hausordnung halten – und wissen Sie was?«

      Luky tat, als würde er angestrengt nachdenken, und sagte dann: »Sie möchten jetzt die entspannende Massage haben, stimmts?«

      »Ich habe sie alle so klein gekriegt«, fuhr Kunz weiter und zeigte zwischen Zeigfinger und Daumen einen Abstand von etwa fünf Zentimetern.

      Luky wiegte seinen Kopf hin und her.

      »Also, ein bisschen grösser ist er schon …«, lächelte er sie an.

      Kunz drehte auf dem Absatz um, ging hinaus und knallte die Tür hinter sich zu.

      7VW-Bus

      Der Speisesaal des Altersheims füllte sich langsam mit mehr oder weniger hungrigen Seniorinnen und Senioren. Der grosse Saal war in zwei ganz unterschiedliche Bereiche unterteilt. In dem einen Teil waren die Wände mit dunklem Holz getäfert, und die rund vier Meter hohe Decke wurde von Balken aus demselben Holz getragen. Auch die Leuchter, an denen aus Spargründen nur die Hälfte der Glühbirnen brannten, waren aus dunklem Holz mit Verzierungen aus Schmiedeeisen. Die andere Hälfte des Saals hatte weisse Wände und an der Decke aufwendige Stuckaturen. Hier gab es grosse Fenster, die bis auf den Boden reichten und früher wohl in einen gepflegten Park führten. Ohne Frage, dieser Raum hatte vor einigen Dekaden sicher tolle Feste und Empfänge gesehen, doch heute wirkte alles etwas schmuddelig. Wollte man nett sein, konnte es auch als starke Patina bezeichnet werden.

      Der hölzerne Teil diente zu Fabrikantenzeiten wohl als Herrenzimmer oder vielleicht auch als Bibliothek. Wahrscheinlich gab es eine Verbindungstür zum grossen und hellen Wohnraum. Doch als die Villa zum Altersheim umfunktioniert wurde, hatte man die Zwischenwand kurzerhand herausgebrochen, um einen grossen Speisesaal zu bekommen. Es war offensichtlich, dass es den am Umbau Beteiligten egal war, wie hässlich nun alles aussah. Wahrscheinlich war man der Meinung, die Alten würden eh nicht mehr gut sehen und könnten sowieso froh sein, an einem solch schönen Ort wohnen zu dürfen. Obwohl der weisse Teil des Raums der edlere war, waren die Plätze dort nicht sehr begehrt. Das lag weniger am Ambiente als vielmehr an der Tatsache, dass die grossen Fenster schon lange nicht mehr dicht waren und es ständig zog. Und Durchzug, das wusste jeder, der im »Abendrot« wohnte, war pures Gift.

      Das Personal war fast fertig mit dem Eindecken der grossen Tische. Natürlich hatten jede Seniorin und jeder Senior ihren Stammplatz – da gab es nichts zu rütteln. Und wie in fast allen Einrichtungen dieser Art wurde auch im »Abendrot« schon um halb sechs das Abendessen serviert. Das wäre besser für die Verdauung, hiess es, doch der wahre Grund war wohl eher, dass das Personal möglichst früh nach Hause wollte. Einige Bewohnerinnen und Bewohner wurden nun in Rollstühlen an ihre Tische geschoben, andere benutzten Gehhilfen. Dazwischen einige noch rüstige Alte, die sich schon mal setzten und sich die Serviette umbanden.

      Hans, der selbstverständlich auch grössten Wert auf Pünktlichkeit legte, gehörte meist zu den Ersten, die den Speisesaal betraten. Wie immer setzte er sich auch heute auf seinen Platz an den Tisch mit der Nummer elf, der ebenfalls wie immer für fünf Personen gedeckt war. Und wie immer griff sich Hans den Wasserkrug, in dem die verdauungsfreundlichen Feigenschnitze schwammen, und goss alle fünf Gläser voll. Jetzt kam Luky herein, der Paul in seinem Rollstuhl an dessen Tisch schob, ihm einen guten Appetit wünschte und sich dann zu Hans auf seinen Platz setzte.

      »Mitten am Nachmittag Abendessen. Ich halte das nicht aus«, sagte Luky, der sich noch immer nicht an die vorgeschriebenen Essenszeiten gewöhnt hatte. Um diese Zeit hatte er normalerweise noch gearbeitet oder höchstens sein erstes Feierabendbier getrunken.

      »Alles in Ordnung?«, wollte Hans wissen.

      Luky nickte nur, nahm ein Stück Brot und tröpfelte Maggi-Würze darauf. Hans schaute, wie die braunen Tropfen im trockenen Brot versickerten.

      »Zu viel Salz ist schlecht für deinen Blutdruck«, meinte er.

      Luky biss ins Brot, kaute und sagte mit vollem Mund: »Der Blutdruck ist gerade mein kleinstes Problem, lieber Hans.«

      Hinter ihnen hörten sie jemanden laut fluchen und dann ein gekrächztes »Jetzt geh mal aus dem Weg, du alte Krähe!«. Zweifellos: Frida war im Anmarsch. Schwer atmend und hustend bahnte sie sich ihren Weg und liess sich dann auf ihren Stuhl fallen. Sie hatte gerötete Augen und schniefte laut. Hans schaute sie besorgt an.

      »Frida, was ist denn los?«

      Eine Angestellte kam an ihrem Tisch vorbei.

      Frida stoppte sie mit einem charmanten »Hierher!«, zeigte dann auf eines der fünf Gedecke und meinte: »Räumen Sie das ab, Frau Gerber kommt heute nicht.«

      Hans warf Luky einen beunruhigten Blick zu, und im selben Moment erklang der übliche Gong als offizielles Zeichen für den Beginn des Abendessens. Als wäre der Gong auch ihr Zeichen, erschien Inge von Hellbach oben auf der Treppe, die von der noblen, weissen Seite des Hauses in den Speisesaal hinunterführte. Niemand wusste, wie alt Inge war, geschweige denn, woher sie kam und warum sie hier im Altersheim lebte. In einem viel zu eleganten Kleid schwebte die grosse, schlanke Frau die Stufen hinunter, als ginge sie über eine Broadway-Showtreppe. Doch auf den zweiten Blick wurde klar: Das Kleid stammte aus einer lange vergangenen, erfolgreicheren Epoche ihres Lebens. Ihr Auftritt wirkte absolut grotesk in dem schäbigen Ambiente des Altersheims. Doch wie jeden Abend drehten die meisten Heimbewohner ihre Köpfe in Inges Richtung und schauten gebannt ihrem Auftritt zu. Die Seniorin hatte ihr Publikum und schien jede Sekunde zu geniessen.

      Wie aus dem Nichts erschien dann unten an der Treppe die Kunz und wedelte etwas Luft von Inge her in ihre Richtung.

      »Rieche ich da etwa Alkohol!?«, fragte sie eine Spur zu laut.

      »Auf keinen Fall«, erwiderte Inge in perfektem Bühnendeutsch und wischte sich eine Strähne ihrer langen, blonden Haare aus dem Gesicht. Ob es ihre echten Haare oder eine Perücke war, wusste niemand. »Das ist mein Parfüm – auf dem Flakon steht fünfundachtzig Prozent Alkohol, wenn Sie das meinen.«

      Ohne eine Antwort abzuwarten, schwebte sie in Richtung Tisch Nummer elf davon. Luky sprang auf und stellte galant den alten Holzstuhl für sie bereit. Inge setzte sich und liess ihren Blick durch den Speisesaal schweifen, als suchte sie den Sommelier. Mit einem Seitenblick versicherte sie sich, dass die Kunz verschwunden war, zog einen Flachmann aus ihrem üppigen Dekolleté, schraubte den silbernen Deckel ab und gönnte sich einen grossen Schluck. Auch


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