Mission: Weisse Weihnachten. Andreas Benz

Mission: Weisse Weihnachten - Andreas Benz


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ich gehe, das macht es mir etwas leichter … hoffe ich.«

      Frida zeigte auf das Fotoalbum, das auf dem kleinen Tisch lag.

      »Und was ist mit Steffi?«

      Maria schnäuzte sich die Nase.

      »Für Steffi bin ich doch schon lange gestorben.«

      10VW-Bus

      Das ehemalige Waschhaus stand ein paar Meter hinter dem alten Herrenhaus und war noch verlotterter als das Altersheim. Früher, zu den guten, alten Zeiten, besorgten hier die Hausangestellten die Wäsche für die Herrschaften, doch seit Jahren diente das Häuschen nur noch als Rumpelkammer. Für die kleine Gruppe von Tisch elf war es jedoch der perfekte Zufluchtsort. Hier konnten sie sich absolut ungestört treffen, was sie auch mindestens einmal pro Woche taten.

      Kurz vor zehn schlichen in kurzen Abständen vier Gestalten hinters Altersheim und verschwanden im Waschhäuschen. Hans, Luky, Frida und Inge setzten sich um den alten Waschtrog, auf den sie ein grosses Brett als Tischplatte gelegt hatten. Inge und Luky hoben es an, Hans griff in den Zuber und zog eine Flasche billigen Rotwein und ineinandergestapelte Plastikbecher aus dem Versteck hervor.

      »Wir haben nur noch zwei Flaschen. Wenn im Dorfladen mal wieder Aktion ist, müssen wir das Lager füllen«, meinte Hans, während er den Drehverschluss öffnete und die Becher füllte. Den ersten stellte er vor Frida hin und fragte: »Und, wie geht es Maria?«

      »Wie solls ihr gehen …? Sie hat wenigstens meistens keine Schmerzen – aber das Sterben wird im Alter nicht einfacher, nur wahrscheinlicher.«

      Nickend hoben die vier Alten ihre Becher und tranken einen grossen Schluck auf Maria. Das erbärmliche Ausbleiben eines Geräuschs beim Anstossen mit Plastikbechern störte sie längst nicht mehr.

      »Aber …«, fuhr Frida fort, zog den Sauerstoffschlauch aus ihrer Nase und nahm sich, ohne zu fragen, eine Zigarette aus Lukys Schachtel, zündete sie an, zog den Rauch tief in ihre angeschlagenen Lungen, blies den Rauch trotz einem Hustenanfall genüsslich zu den alten Wäscheleinen hoch und begann von neuem: »Aber … wir können es Maria wenigstens etwas einfacher machen und mindestens versuchen, ihr den letzten Wunsch zu erfüllen.« Auffordernd schaute sie in die Runde. »Und wo stehen wir?«

      Niemand sagte etwas. Jeder nahm verlegen einen weiteren Schluck aus seinem Becher und schaute auf die improvisierte Tischplatte hinunter.

      Als Erste fand Inge den Mut zum Reden: »In aller Freundschaft, aber …«

      Doch Frida fiel ihr ins Wort: »Hast nicht du gesagt, dass letzte Wünsche heilig seien?« Dann schaute sie zu Luky, der einen imaginären Fleck auf seiner Jacke wegzuwischen versuchte. »Und du, Luky«, redete sich Frida in Rage, »du jammerst doch, dass deine Narkolepsie immer schlimmer werde, weil es sich hier anfühle, wie lebendig begraben zu sein.« Fridas Blick erreichte Hans.

      Doch bevor sie über ihn herziehen konnte, schaute Hans sie wütend an und rief: »Frida, hör auf! Das Ganze ist doch definitiv eine Nummer zu gross für uns. Wir können nicht einfach …«

      »… und warum nicht?«, wollte Frida wissen, stand wütend auf, leerte ihren Becher in einem Zug, zerdrückte ihn und warf ihn in eine staubige Ecke hinter ein rostiges Fahrrad. An der Wand dahinter stand auf halber Höhe in schon etwas verblichener Farbe: »Sonnenuntergäng«. Frida zeigte auf den Schriftzug.

      »Wisst ihr noch, als wir das hingemalt haben? Vergesst es, wir sind keine Bande, keine Gang mehr! Ich lasse meine beste Freundin nicht im Stich! Und jetzt macht, was ihr wollt! Miese, alte Feiglinge!«

      Den Sauerstoffwagen hinter sich herzerrend, die Kippe im Mundwinkel, ging sie hinaus und knallte die Tür hinter sich zu.

      11VW-Bus

      Im Speisesaal roch es, wie es jeden Morgen roch. Der Duft von abgestandenem Filterkaffee, der schon seit Stunden in Glaskrügen auf Heizplatten vor sich hin köchelte, hing in der Luft. An allen Tischen wurde Butter und Marmelade auf labbriges Brot gestrichen, und einige der Alten tunkten das so bestrichene Brot sodann in den Milchkaffee. Wahrscheinlich ein Ritual aus einer Zeit, als das Brot noch härter war und sich die zweiten Zähne zu verabschieden begannen.

      Am Tisch mit der Nummer elf wurde an diesem Morgen nichts geredet. Oder noch präziser, es herrschte eine sehr angespannte Stimmung. Frida hatte den Hahn ihrer Sauerstoffflasche voll aufgedreht und war kampfbereit, doch alle anderen bevorzugten es, ihren Blicken auszuweichen. Maria war sich sicher, dass die gedrückte Stimmung mit ihrer Diagnose zu tun hatte, und war froh, als Herr Huber – Hauswart, Fahrer und Mädchen für alles im »Abendrot« – an ihren Tisch trat.

      »Frau Gerber, wir müssen«, meinte er und nickte den anderen zur Begrüssung zu.

      Maria wischte sich den Mund mit der Papierserviette ab und stand auf.

      »Wohin gehst du?«, wollte Frida wissen, ein wenig beleidigt, dass ihre Freundin sie nicht informiert hatte.

      »Herr Huber fährt mich zum Arzt. Irgendwelche Spritzen.«

      »Soll ich mitkommen?«, fragte Frida, aber Maria winkte ab.

      »Bin ja bald zurück.«

      Sie hängte sich bei Huber ein, und das ungleiche Paar ging zum Ausgang des Speisesaals.

      Frida schaute zu Hans hinüber, der sein Brot pedantisch genau bestrich, als sei es ein Gemälde. Als Maria ausser Hörweite war, brach sie das Schweigen.

      »Und, wollen wir ihr jetzt helfen oder nicht?«

      Hans, der immer noch stocksauer auf Frida war, sagte, ohne von seinem kleinen Kunstwerk aufzuschauen: »Warum sollten wir, wir sind ja miese, alte Feiglinge.«

      Dann biss er langsam und übertrieben genüsslich in sein Brot.

      Frida merkte, dass sie etwas zurückrudern musste, und wählte einen beschwichtigenden Ton: »Ach, kommt schon. Ich bin eine senile alte Kratzbürste und …«

      Inge unterbrach Fridas Selbstkasteiung: »Es ist ja nicht, dass wir nicht wollten …«

      »… aber schau uns doch an«, ergänzte Luky, »wir gehören zwar zu den Rüstigsten hier, aber auch nur an einem guten Tag.«

      Frida nickte und war froh, dass ihre Freunde so nachsichtig mit ihr waren. Sie schaute Hans an, und ein kleines Lächeln huschte über ihr Gesicht, was ihm nicht verborgen blieb, ihn aber eher an die biblische Schlange denken liess als an ein Friedensangebot.

      »Schon, aber jetzt mal rein theoretisch«, begann Frida wieder, immer noch mit einem Lächeln, »Hans, du mit deiner Fantasie, was denkst du denn?«

      Hans wischte mit dem kleinen Finger, an dem er den goldenen Siegelring trug, sorgsam die Brotkrumen vom Tisch.

      »Gebt mir noch bis heute Abend Zeit. Wir treffen uns um acht im ›Rössli‹ in der Kegelbahn. Luky, könntest du im Büro Bescheid sagen?«

      »Klar, ich lasse meinen Charme spielen.«

      Luky, der als Einziger nichts gegessen hatte, stand auf, zog eine Schachtel Zigaretten aus seiner Jacke und meinte, dass es jetzt Zeit für sein richtiges Frühstück sei. Er füllte seine Tasse nochmals mit schwarzem Kaffee und ging zum Ausgang.

      Der Nebel schien sich in den Bäumen festgekrallt zu haben und tauchte das ganze Zürcher Oberland in ein graues, fahles Licht. Das lag wohl daran, dass der Zürichsee so nahe war, dachte Luky, als er die Nebelschwaden beobachtete. Es machte ihm zu schaffen, dass der graue Deckel oft tagelang nicht verschwand. Er zündete sich eine Zigarette an und nahm einen Schluck des heiss dampfenden, aber scheusslichen Kaffees. Er machte ein paar Schritte ums Haus herum und sah dort Paul, der in seinem Rollstuhl sass und in Richtung Bachtel schaute, der nur undeutlich im Nebel zu erkennen war. An klaren Tagen mit etwas Föhn konnte man von hier aus sogar den Bachtelturm sehen, Ziel vieler Schulreisen


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