Mission: Weisse Weihnachten. Andreas Benz
die genau richtige Position und begann zu tippen.
Lesen und Schreiben waren schon immer seine grossen Leidenschaften. Ein bekannter Schriftsteller zu sein – das wäre sein Wunsch gewesen. Natürlich verehrte er die grossen Schweizer Schriftsteller, hatte alles von Dürrenmatt und Frisch mehrmals gelesen und piesackte als Lehrer auch seine Schüler immer wieder mit den kleinen gelben Reclam-Büchlein. Aber am liebsten mochte er doch die alten Krimis von Agatha Christie. Genau solche Romane wollte er schreiben. Einen eigenen Hercule Poirot erschaffen, das war sein Traum.
Jetzt aber wurde sein konzentriertes Tippen schon nach wenigen Zeilen jäh von lauter Musik aus dem Nachbarzimmer unterbrochen. Wütend schob er die Lesebrille auf den schon fast kahlen Kopf.
»Nicht schon wieder dieser Julio Iglesias, den halte ich nicht aus!«, rief er und schlug mit der Faust gegen die Wand. »Frida! Mach leiser!«
Doch Julio trällerte unverändert laut seine spanische Schnulze. Irgendetwas über »amor, amor, amor«. Grauenhaft. Hans stand langsam auf und ging zum Zimmer seiner Nachbarin Frida Pizetta. Energisch klopfte er an die alte Holztür. Nichts. Er klopfte nochmals, lauter, und schlug dazu den goldenen Siegelring, der an seinem kleinen Finger steckte, gegen die Tür. Der Ring mit eingraviertem Familienwappen der Bolligers war ein Erbstück seines Vaters. Jetzt war ein fürchterlicher Hustenanfall aus dem Zimmer zu hören, gefolgt vom Geräusch schlurfender Schritte. Endlich öffnete Frida.
»Was?!«, wollte sie wissen und fuhr sich mit der Hand durch das struppige graue Haar. Sie sah aus, als komme sie eben aus dem Bett, was durchaus zutreffen konnte. Neben ihr stand auf einem kleinen Wagen eine Sauerstoffflasche, von der ein durchsichtiger Schlauch zu ihrer Nase führte. Das gab ihr zwar einen gewissen Anschein von Gebrechlichkeit, doch im Gegensatz zu Hans’ drahtiger Figur wirkte Frida geradezu burschikos. Man sah ihr an, dass sie ihr ganzes Leben lang körperlich gearbeitet hatte. Auch im Winter trug sie meistens kurzärmlige Pullover, weil ihr immer zu warm war.
»Musst nicht so nervös klopfen, bin kein Rennpferd«, schnaubte Frida nun.
Hans zeigte mit dem Kopf in die Richtung, aus der die schreckliche Musik kam.
»Die Musik, ich bin am Schreiben.«
»Ja und? Dein Zeugs liest ja eh kein Schwein.«
»Kann der Gigolo nicht auch ein bisschen leiser singen?«, fragte Hans, ohne auf die Anspielung auf seine ziemlich erfolglose zweite Karriere als Schriftsteller einzugehen.
Frida drehte sich wortlos um und stellte die Musik ein ganz kleines bisschen leiser.
»Eifersüchtig?«, fragte sie zurück.
Hans brauchte einen Moment, bis er die Frage richtig begriffen hatte.
»Du meinst auf Julio Iglesias?«
Frida nickte, und ihr Blick wanderte über Hans’ Schulter irgendwohin in die unendliche Ferne.
Es hatte eine Zeit gegeben, in der Frida wirklich attraktiv war. Das war, bevor sie über fünfzig Jahre lang als Putzfrau den Dreck anderer Leute wegmachen musste. Sich ihre Lunge mit ätzenden Säuredämpfen ruinierte und die Bandscheiben kaputt schuftete. Eine Zeit, in der sie glaubte, mit ihrem Reinigungsinstitut so viel Geld zu verdienen, dass sie im Alter auf Capri auf der Veranda ihres kleinen Häuschens würde sitzen können und der Sonne zuschauen, wie sie langsam im Meer versank.
Doch das Einzige, was unterging, war ihre Firma. Natürlich war sie weder einer Pensionskasse angeschlossen noch hatte sie sonstige Ersparnisse. Sie musste ihr ganzes Leben weiterschuften und immer für das Nötigste kämpfen – da blieb keine Zeit für Männer oder »amor«. Nur das Träumen hatte Frida nie verlernt. Warum es unbedingt Capri sein musste, wo sie ihr Alter verbringen wollte, wusste sie nicht – oder nicht mehr. Sie war nie dort gewesen, eigentlich noch überhaupt nirgendwo. Wusste nicht einmal mehr, wann sie das letzte Mal richtig Ferien gemacht hatte. Als junges Mädchen hatte sie eine Zeit lang im Welschland gelebt, später war sie ein paarmal in Italien, wo die Familie ihres Vaters herkam.
»Iglesias wäre der einzige Mann gewesen, den ich geheiratet hätte«, sagte sie endlich und seufzte laut. »Gegen den sind doch alle anderen nur Schlappschwänze.«
Sie klopfte Hans auf die Schulter, um sicherzugehen, dass er begriff, dass auch er zu dieser Kategorie Männer gehörte.
»Hörst du mir überhaupt zu?«, fragte Hans leicht gereizt. »Kümmere du dich doch lieber um deine Freundin, der Arzt war gerade bei ihr.«
Frida wurde von einem weiteren Hustenanfall geschüttelt und schloss keuchend und kommentarlos ihre Zimmertür.
5
Maria und Frida sassen nebeneinander auf Marias Bett. Sie waren ein sehr ungleiches Paar. Die noch immer kräftige Frida mit den kurzen Haaren und daneben die kleine zierliche Maria. Zusammen blätterten sie in einem alten Fotoalbum, das auf Marias Knien lag. Die Fotos waren schon leicht vergilbt, wurden aber einst liebevoll eingeklebt. Maria fuhr mit ihrem leicht zitternden Zeigfinger über eines der Bilder, auf dem eine Frau Mitte fünfzig zu sehen war, die ein Baby auf dem Arm trug.
»Das war Steffis erster Geburtstag«, sagte Maria und wischte sich mit einem Papiertaschentuch, das sie aus dem Ärmel ihrer Strickjacke gezogen hatte, eine Träne aus dem Gesicht.
Frida schaute sich das Foto genauer an.
»Und die Frau …?«
»Ja, das bin ich«, nickte Maria.
Frida nahm Marias Hand in ihre und drückte sie leicht. Erst jetzt fiel ihr auf, wie klein und zerbrechlich Marias Hände waren. Die Adern schimmerten bläulich durch die dünne Haut, die von Altersflecken übersät war. Dagegen wirkten Fridas Arbeiterhände wie Pranken.
Vorsichtig blätterte Maria eine weitere Seite des Albums um und strich die Falten aus dem dünnen transparenten Mittelblatt, das die Fotos schützte.
»Da ist Steffi wohl schon etwas älter«, sagte Frida, und Maria nickte.
Das Foto zeigte ein kleines Mädchen, das in tiefem Schnee kniete und dabei war, einen Schneemann zu bauen. Neben ihm lagen eine Möhre und zwei Baumnüsse bereit, um dem weissen Mann später ein Gesicht zu geben. Unter dem Foto klebte ein weiteres, das schon fast verblichen und etwas dicker war als die anderen. Aufgenommen mit einer der ersten Polaroid-Sofortbildkameras – damals die absolute Sensation.
Maria erinnerte sich, wie Steffi die Fotos, sobald sie vorne an der Kamera aus dem Schlitz geschoben wurden, freudig packte und wie empfohlen damit in der Luft umherwedelte. Staunend sah sie zu, wie aus den als Erstes erkennbaren Umrissen wie von Geisterhand ein Bild entstand, das immer schärfer und konkreter wurde, bis es perfekt entwickelt war. Auch Maria empfand diesen Vorgang als absolutes Wunderwerk der Technik. Kein wochenlanges Warten mehr, bis man das Resultat sehen konnte, nachdem man die Filmrolle in einem Fotogeschäft in eine Papiertasche geschoben und zum Entwickeln in Auftrag gegeben hatte. Steffi liebte die Kamera, und obwohl die dafür nötigen Spezialfilme sehr teuer waren, knipste sie alles, was sie festhalten wollte. Auf dem Polaroid-Foto im Album war Steffi schön angezogen; die blonden Haare zu zwei Zöpfen geflochten, stand sie neben einem Christbaum, an dem die Kerzen brannten, und spielte auf der Blockflöte, wohl ein Weihnachtslied.
»Ich kann nicht glauben, dass das schon fast dreissig Jahre her ist. Dreissig Jahre, mein Gott«, sagte Maria. »Warte, das muss Weihnachten … ich glaube, einundneunzig gewesen sein«, ergänzte sie.
»Wo wart ihr da?«, wollte Frida wissen.
»Im Wallis, in Verbier, mein Mann kam von dort, und immer an Weihnachten konnten wir ein kleines Haus von seinem Bruder mieten.«
Maria blätterte erneut um. Auf der nächsten Seite war kein Foto, sondern eine Kinderzeichnung eingeklebt. In die Mitte war ein grosses rotes Herz gemalt, und darüber stand in wackliger Kinderschrift, jeder Buchstabe in einer anderen Farbe: »Für Omi – von Steffi«. Maria strich über die Zeichnung, als wollte sie Steffi streicheln, die sie jetzt so gern bei sich gehabt