GUARDIANS - Der Verlust. Caledonia Fan
sich vor. Die Ellenbogen auf den Schreibtisch gestützt, richtete sie die Spitze ihres Stiftes auf ihre Zuhörerin. "Erinnerst du dich, als wir Romaru in Guatemala besuchen wollten?", erkundigte sie sich. "Seine Eltern hatten aus heiterem Himmel ihre Erlaubnis zurückgezogen, den Jungen hierher an unsere Schule zu schicken. Ohne Begründung. Oder Tian-Ti, das Mädchen aus der Mongolei? Mitte Mai teilten uns ihre Eltern mit, sie möchte nun lieber doch nicht nach England kommen. Und es gibt noch zwei weitere von diesen Fällen, bei denen es uns per E-Mail mitgeteilt wurde."
Eine bedeutungsschwangere Pause einlegend lehnte sie sich mit vielsagendem Blick wieder zurück. "Allesamt Jugendliche, die schon zur Aufnahme vorgesehen waren und die dann nicht gekommen sind. Einzeln betrachtet erscheint das alles nicht unbedingt verdächtig. Aber schau dir den Zeitraum an."
Sie winkte die Ältere zu sich herüber und wies mit ihrem angeknabberten Stift auf den breiten, zweidimensionalen Hologramm-Bildschirm, der über dem Schreibtisch schwebte.
Tamira musterte die Daten sorgfältig. Verwundert hob sie die Augenbrauen.
"Das ist ja alles innerhalb von einem Monat geschehen! Ungewöhnlich, du hast Recht. Was könnte dahinterstecken?"
"Ich habe keine Ahnung, Tammy", gab Tiana unumwunden zu und schüttelte ratlos den Kopf.
"Ob jemand der Schule schaden will?" Die kleine Frau mit den fast schwarzen, kurz geschnittenen Locken richtete sich auf und runzelte besorgt die Stirn. "Lass uns doch mal ein bisschen recherchieren", entschied sie kurzerhand, setzte sich wieder an ihren Schreibtisch und wandte sich ihrem Bildschirm zu. "Wäre doch gelacht, wenn wir da nix rausfinden würden. Fangen wir mit Clarice an."
Sie überlegte kurz.
"Computer, ich brauche alle Einträge über Clarice Bowen", verlangte sie.
Aus dem Lautsprecher erklang eine sanfte Frauenstimme, die ihre Bitte wiederholte. Auf ihrem Holo-Bildschirm, der größer war als Tianas und die gesamte Schreibtischbreite beanspruchte, poppten unzählige Fenster auf, in denen jeweils der angeforderte Name rot markiert war.
"Begrenze auf das laufende Jahr!", wies sie an und drei Viertel von ihnen verschwanden. Zurück blieben immer noch zu viele, um sie einzeln zu lesen.
"Schrift vergrößern!" Mit ihren schlanken Händen wischte Tamira ein Fenster nach dem anderen vom Bildschirm. Es gab offensichtlich nicht nur ein Mädchen mit diesem Namen.
"Beschränke auf Kanada", half Tiana, "sie ist aus Vancouver."
Die Freundin grenzte die Suche erneut ein und Sekunden später fand sie, was sie befürchtet hatte. Das Foto in einem kurzen, rot umrandeten Textabschnitt war ihr sofort ins Auge gesprungen.
Mit der Hand vergrößerte sie das Fenster und las.
"Vermisst wird seit dem Abend des einunddreißigsten Mai 2024 die siebzehnjährige Clarice Bowen. Sie kehrte nach der Arbeit nicht nach Hause zurück. Ihr Wagen, ein hellblauer Ford Pick-up, wurde an einem Rastplatz des nördlichen Trans-Canada-Highways gefunden, unverschlossen und unbeschädigt. Ein cremefarbener Nylon-Rucksack mit Geld und den Papieren der jungen Frau lag auf dem Beifahrersitz. Es gibt keine Anzeichen von Fremdeinwirkung oder Gewalt."
Es folgten eine genaue Personenbeschreibung, der exakte Fundort des Wagens und eine Aufzählung der Kleidungsstücke, die Clarice getragen hatte. Alles, was im Auto entdeckt wurde, ließ sich mit dem Finger antippen, worauf sich ein dreidimensionales Hologramm des Gegenstandes vom Bildschirm löste und davor langsam um seine eigene Achse rotierte. Dass die Jugendliche an einer ausgeprägten Seheinschränkung litt und starke Kontaktlinsen trug, war auch erwähnt. Ein Foto zeigte den hellblauen Pick-up, ein zweites ein pummeliges Mädchen mit mürrischem Gesicht, kinnlangen roten Haaren und einer Unmenge Sommersprossen. Beide Bilder verwandelten sich ebenfalls in ein dreidimensionales Hologramm und rotierten langsam vor dem Bildschirm.
Tamira beugte sich vor und las den Text ein zweites Mal. Auf der Unterlippe kauend lehnte sie sich wieder zurück. Es gab etwas, das nicht in der Anzeige stand. Clarice besaß die Fähigkeit, im Dunkeln zu sehen, und diese bemerkenswerte Gabe würde ihre Eintrittskarte für die Schule für Jugendliche mit besonderen Begabungen hier in England sein. Sie sah in finsterster Nacht besser als am hellen Tag, denn da bereitete ihr ihre hochgradige Lichtsensibilität erhebliche Probleme. Zum Schutz der empfindlichen Netzhaut trug sie tagsüber die Linsen.
Tiana war durch einen Zufall im Netz auf das Mädchen aufmerksam geworden. Clarices Eltern hatten sich geweigert, die Sehschwäche ihrer Tochter operativ beheben zu lassen. Sie befürchteten, dass diese ihre Fähigkeit dabei verlieren würde. Der Augenarzt zog daraufhin das kanadische Jugendamt hinzu und das sah ein solches Verhalten als Vernachlässigung an. Es verklagte die Erziehungsberechtigten wegen Verletzung der Fürsorgepflicht. Wie zu erwarten schlug die Angelegenheit Wellen und war so ins Internet geraten.
Tamira legte den Kopf zurück an die hohe Lehne ihres Schreibtischstuhles und kniff ein wenig die Augen zusammen, eine Angewohnheit von ihr, wenn sie nachdachte.
Im Netz gab es unzählige skurrile Dinge. Und Menschen, die über besondere Fähigkeiten verfügten, waren längst keine Seltenheit mehr. Vor dreißig, ja vor zwanzig Jahren sah das noch ganz anders aus.
In ihrer Kinderzeit war das tunlichst verschwiegen worden, denn es galt als Makel, derartige Sprösslinge zu haben. Obwohl sie inzwischen dreiundvierzig war, konnte sie sich gut daran erinnern. Ihre Eltern hatten gleich zwei davon gehabt: Nicht nur sie selbst, sondern auch ihre ältere Schwester war mit einer solchen besonderen Begabung geboren worden.
Diese Kinder, die damals als Außenseiter gemieden oder gar gemobbt wurden, bildeten heute einen essentiellen Teil der Gesellschaft. Sie arbeiteten in Bereichen, in denen sie ihre Gaben anwenden und bestmöglich nutzen konnten. In speziellen Schulen wurden sie darauf vorbereitet und in der Nutzung und Beherrschung ihrer besonderen Fähigkeit unterwiesen. Eine dieser Institutionen, sogar eine der besten, war hier auf Darach Manor.
"Was wissen wir sonst über das Mädchen?", fragte Tamira und schob sich zum wiederholten Male eine widerspenstige Strähne ihres kurzen dunkelbraunen Haares aus der Stirn.
Tiana, die vorhin aufgestanden war und ihr die ganze Zeit über die Schulter geschaut hatte, richtete sich auf.
"Clarice Bowen. Einzelkind, mäßiger Schulabschluss, Lehre zur Industriekauffrau im zweiten Ausbildungsjahr. Aufnahme an unserer Schule vorgesehen im September 2024, Fortsetzung der Ausbildung bei Genera Medical Developments", rasselte sie herunter und ließ sich wieder in ihren Schreibtischstuhl fallen, dessen Rückenlehne mit leisem Ächzen gegen diese Behandlung protestierte. Erneut begann sie mit dem Stift zu spielen. Sie kannte die Aufnahmekandidaten für das kommende Schuljahr alle im Vorfeld. "Clarice freute sich darauf, hier zu lernen, Tammy. Sie hat uns sogar in einem Brief geschrieben, dass sie es kaum erwarten kann, endlich von zu Hause wegzukommen."
"Warum haben dann die Eltern am Telefon gesagt, dass sie krank sei, wenn sie in Wirklichkeit seit vorgestern vermisst wird?", grübelte Tamira. "Normalerweise nimmt man doch in so einem Fall so viel Hilfe in Anspruch, wie man bekommen kann."
Tiana zuckte mit den Schultern. "Vielleicht wollen sie es nicht an die große Glocke hängen? Oder dürfen nicht drüber sprechen? Kann auch sein, sie schämen sich."
Es gab zwei logische Erklärungen für das Verschwinden des siebzehnjährigen Mädchens. Entweder war Clarice entführt worden oder sie hatten es mit einer Aussteigerin zu tun, die das kühle Kanada gegen die warmen Strände von Hawaii eintauschen wollte.
"Heute Abend werde ich noch einmal intensiv im Netz suchen." Tamira stand auf und reckte sich ausgiebig. Sie war ebenso klein und zierlich wie ihre Freundin und Kollegin, doch in ihr steckte eine unbändige Kraft, die aus ihrer traumatischen Kindheit erwachsen war. "Jetzt habe ich erstmal Training, es ist gleich zwei. Kommst du mit?"
Tiana lachte und winkte ab.
"Du gibst wohl nie auf", antwortete sie. "Nein, nein, geh du mal allein zu deinen Schützlingen. Ich mach hier noch ein bisschen weiter." Lächelnd schüttelte sie den Kopf und wedelte mit der Hand in Richtung der Tür. "Geh nur, Tammy. Ich bin sicher, du wirst schon sehnlichst erwartet."